Unsere Betrachtung zum Sonntag von P Hermamm Schalück
Schrifttext Lk 4,14-21
Es war vermutlich ein ganz normaler Gottesdienst, in
den Jesus gegangen war. So wie zahllose Christen es heute am Sonntag tun. Es war auch
ganz normal, dass jemand gebeten wurde, aus den Heiligen Schriften vorzulesen. Niemand
fand es wohl auch sonderlich bemerkenswert, dass diesmal ausgerechnet er das Buch
in die Hand nahm. Und auch der Text, den er gelesen hatte, man kannte ihn, man hatte
ihn so oft schon gehört: Nichts Unbekanntes war daran: Es war doch die uralte Verheißung,
dass jemand kommen werde, von Gott gesandt und gesalbt, einer, der eine gute Botschaft
und „Gnade“ bringen würde in Zeiten, in denen es auch schon recht „gnadenlos“ zuging,
gute Worte in einer Zeit, in der gute Worte Mangelware waren. Hoffnung, wenn es wenig
zu hoffen gibt. Für manchen aber, damals wie auch heute, Worte, die - wie vieles aus
Heiligen Schrift - zwar gehört, doch dann auch gleich wieder vergessen werden. Also
nichts Neues in und aus Nazaret? Wohl doch: Im Mund Jesu müssen die Worte der Lesung
schon einen besonderen Klang gehabt haben, als er Bekanntes vortrug, dass nämlich
eine Zeitenwende eintreten würde, dass, wie man glaubte, irgendwann, in einer noch
unbekannten Zukunft, alle Armen und Gefangenen befreit sein sollten, dass die Blinden
sehend gemacht, die Zerschlagenen aufgerichtet würden, und in allem ein Gnadenjahr
des Herrn ausgerufen werde. Vielleicht trug Jesus bereits mit einer Frische und mit
einem Nachdruck vor, der aufhorchen ließ. Die Routine des Gottesdienstes war jedoch
vollends durchbrochen, als Jesus das Buch weglegt und sagt: Das Wort der Schrift ist
fortan kein Zukunftsprogramm mehr. Es hat sich heute erfüllt. Und es erfüllt sich
in dem, der hier und jetzt vor euch steht. Ich stehe vor Euch als derjenige, der das
Programm in Gottes Namen erfüllt. Ein kurzer Satz, 10 Worte Predigt, und doch ein
Aussage, die alles verändert. Heute ist das Wort der Schrift erfüllt - diese Worte
stoßen sofort auf Bewunderung und Ablehnung, auf Glauben und Unglauben zugleich. Am
Ende der Predigt des Gottesdienstes werden die einen sagen, den kenne man doch, dass
sei doch der Sohn des Joseph, der in ihrer Mitte auf gewachsen ist. Was maßt der
sich solche Reden an? Bei anderen herrschte Zorn und pures Entsetzen ob solcher vermeintlichen
Anmaßung, die der Gotteslästerung gleichkommt. Man will ihn einen Abhang hinunter
stürzen. "Aber“ - so wird es am Ende des ganzen Vorgangs heißen- „er ging mitten
durch sie hindurch." Jesus hat, so berichten es alle Evangelien, das Programm,
das er an jenem Tag in Nazaret vortrug, in der Folgezeit mit Leben gefüllt. Er hat
in Wort und Tat gezeigt, welchen Klang und welche heilende Kraft das Wort „Gnade“
hat, ein Wort, das vielen heute so unverständlich klingt. So frage ich also mit Ihnen
heute: Was kann es also bedeuten, dass er eine Zeit der Gnade und der Befreiung ausgerufen
hat. Und – ist das Wort Gnade heute überhaupt noch eine gültige Währung des Glaubens?
Ich meine ja, wenn wir an Jesus ablesen, welche Haltungen er gelebt hat, und wenn
wir Männern und Frauen trauen, die durch die Geschichte bis heute seinen Geist und
ein Programm weiter getragen haben. Jesus wendet sich den Menschen immer mit den
Augen des Herzens zu. Er verurteilt die Sünder nicht, weder diejenigen, die in der
Tat gefehlt haben, noch solche, die durch moralische oder gar religiöse Vorurteile
an den Rand gedrängt wurden. Jesus ist für alle, die ihm mit offenem Herzen begegnen
und ihn suchen, an erster Stelle gar keine moralisch-religiöse Instanz, die eingrenzt
und verurteilt. Er ist vielmehr für alle ein „Segen“, nicht nur für die Frommen. Er
will keine Lasten auferlegen, die man nicht tragen kann. Er schafft um sich einen
Raum, in dem man von Lasten und Sorgen befreit aufatmen kann. Er gibt denen, die entmutigt
und am Leben müde geworden sind, Perspektiven zurück, vor allem den Glauben an sich
selbst, an die eigene innere Freiheit und Würde. In der Begegnung mit Jesus erfuhren
die Menschen. Ich bin gar nicht allein. Ich bin wichtig. Vor allem: Ich bin geliebt. Es
ist eine Gnade, wenn man Menschen mit den Augen des Herzens ansehen kann, so wie Jesus
das getan und es uns als Vorbild hingestellt hat. Wenn Jesus Kranke heilt, dann sagt
er ihnen und uns heute: Kreist nicht immer um euch selber. Lasst euch nicht erdrücken
vom Pessimismus und von schlechten Erfahrungen. Bringt das Leben in euch und anderen
zum Blühen. Viele Kräfte in dir liegen noch brach. Achtsame und verantwortungsbewusste
Menschen sind füreinander die beste Prävention und Medizin. Wenn Jesus „Aussätzige
heilt“, dann bedeutet das vielleicht heute: Helft mit, dass alle Mauern, Vorurteile
und Machtkartelle fallen, welche Menschen heute trennen, erniedrigen und arm machen.
Und wendet euch den Aussätzigen der heutigen Zeit zu, zum Beispiel den AIDS-Kranken.
Wenn
Jesus „Dämonen austreibt“, dann sagt er uns heute: Widersteht den Dämonen der Gewalt
im eigenen Herzen, der Fremdenfeindlichkeit, den Dämonen, die in der Beziehung der
Geschlechter und Generationen lauern können, auch in den Beziehung unter den Religionen
und Kulturen.
Nicht nur die Predigt in Nazaret – das ganze Lebensbeispiel
Jesu zeigt einen neuen Weg, einen Weg der Begegnung, der respektvollen Wahrnehmung
der Lebens- und Glaubensgeschichte derer, die anders sind als wir. Wer in der weltweiten
Gemeinde der Gläubigen heute auf den Prediger in der Synagoge hört und das beachten
will, was er vorgegeben hat, der muss auch heute mit Unruhe und lautstarkem Protest
der „Frommen“, der Nostalgiker und der angeblich Gesetzestreuen und dem eher lautlosen
Auszug der Enttäuschten aus der Kirche rechnen.
Auch eine missionarische Kirche,
für die wir heute einstehen möchten, kann nicht rückwärtsgerichtet sein. Sie muss
vielmehr mutig und prophetisch sein. Sie muss sogar Brüche mit der Tradition zulassen,
Entwicklungen zulassen und begrüßen, die heute dem Geist Raum geben, der damals Jesus
erfüllt hat. Eine solche Kirche wird verwandelnd wirken, Menschen, statt sie zu belasten,
von Lasten lösen. Sie wird befreien, Appetit auf menschenwürdiges Leben machen und
den Hunger nach dem Gott des Lebens wach halten. Ihre Bestimmung ist es, der Welt
den Geschmack des Lebens zu geben und Lichtblick für die zu sein, die im Dunkeln sind,
Heimat für die Ausgegrenzten, Trost für die Betrübten, Kraft für die Schwachen.