2010-01-21 10:38:15

Nag Hammadi: Evangelien aus dem Wüstensand


RealAudioMP3 Vor kurzem hat das ägyptische Städtchen Nag Hammadi auf traurige Weise für Schlagzeilen gesorgt: Unbekannte erschossen dort fast ein Dutzend koptische Christen, die gerade aus der Christmette kamen. Was im Nachrichtenwirbel dieser Tage nicht viele wissen, ist, dass dieser oberägyptische Ort mit Bahnstation eine wichtige Rolle in der Geschichte des Christentums spielt: Nag Hammadi ist, sozusagen, unser christliches Qumran. Hier entdeckten Bauern im 20. Jahrhundert eine Bibliothek, die uns in die Frühzeit des Christentums zurückkatapultiert. Von diesem anderen, dem antiken Nag Hammadi ist in dieser Sendung nun die Rede. Wir erzählen, wie im Wüstensand von Oberägypten Texte auftauchten, in denen vielleicht einige der ältesten Überlieferungen über Jesus festgehalten sind.

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Es ist der Dezember 1945 – weit von hier ist vor kurzem der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Einige Landarbeiter aus Nag Hammadi graben 10 km außerhalb des Ortes, auf dem rechten Nilufer, nach fruchtbarer Humuserde. Auf einmal stoßen sie auf einen langen Tonkrug, legen ihn frei. Öffnen ihn. Der Inhalt: Dreizehn alte Bücher, „Kodizes“, in Leder gebunden. Texte in koptischer Sprache auf Papyrus.

„Dies sind die Worte Jesu, des Lebendigen. Sie waren bis jetzt verborgen. Didymos Judas Thomas hat sie aufgeschrieben. / Jesus sagt: „Wer die Bedeutung dieser Worte findet, wird nicht sterben. / Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet. Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein…“

Auch wenn es den ägyptischen Bauern nicht auf Anhieb klar ist: Das ist ein Jahrhundertfund, nur vergleichbar mit dem zufälligen Aufspüren der Tonkrüge im palästinensischen Qumran, einige hundert Kilometer entfernt von hier. Und wie bei den jüdischen Schriften von Qumran dauert es auch mit den Texten von Nag Hammadi Jahrzehnte, bis sie entschlüsselt, übersetzt, herausgegeben sind. Kriege; Händlerintrigen, eine Blutfehde kommen dazwischen; die Mutter eines der Bauern verheizt auch noch einen Teil des Fundes. Es sind etwa fünfzig verschiedene Schriften, geschrieben um 350 nach Christus. Übersetzungen aus dem Griechischen – von Texten aus der Frühzeit der Christenheit, einige davon vielleicht sogar noch aus dem ersten Jahrhundert. Sie sind, bis auf einige kleine Fragmente, bisher völlig unbekannt – denn aus dem offiziellen Kanon des Neuen Testaments hat man sie ausgeschlossen.

Das liegt daran, dass die meisten von ihnen eine gewisse Nähe zur christlichen Gnosis zeigen – zu einer Bewegung also, die der neuen Christusbotschaft Züge einer Geheimlehre gab, die nur einigen Eingeweihten offenstünde. Die Kirchenväter haben die Gnosis von Anfang an bekämpft und ihre Schriften vernichtet. Allerdings: Mit dem Johannes-Evangelium schaffte es ein Text, der der Gnosis gar nicht in allem fern steht, sogar in den Kanon der Heiligen Schrift. Und oft tragen auch diese gnostisch angehauchten Texte wertvolle, alte Jesus-Überlieferung mit sich. Wer nach ihr sucht, der kommt um apokryphe Texte nicht herum. Auch wenn diese, anders als die vier kanonischen Evangelien, kein in sich geschlossenes Jesusbild aufweisen.

Wer hat diese kleine Bibliothek – ein Theologie wird sie einmal die „Bibel der Häretiker“ nennen – hier versteckt? Wir wissen es nicht genau. Immerhin: Hier war einmal das alte Chenoboskion, wo der Wüstenvater Pachomios im vierten Jahrhundert die ersten christlichen Klöster gründete. Die Papyri werden wohl einmal zur Klosterbibliothek gehört haben. Bis dann im vierten Jahrhundert Entscheidendes geschieht: Im Jahr 325 formuliert das Konzil von Nizäa das Glaubensbekenntnis; abweichende Lehren gelten nun als häretisch. 367, also vierzig Jahre später, wird ein Hirtenbrief des Patriarchen von Alexandria ins Koptische übersetzt, der gegen häretische Schriften kämpft. Mutmaßliche Reaktion der Mönche: Sie vergraben die zweifelhafteren unter ihren Schriften...

Manche Textstellen könnten auf eine Nähe zum Mönchtum hindeuten:

„Selig sind die Einzelnen, die Erwählten. Denn ihr werdet das Königreich finden... / Viele stehen vor der Tür, aber die Einzelnen sind es, die in den Hochzeitssaal hineingehen werden... Werdet Vorübergehende...“

Der Einzelne – das ist griechisch „Monachos“, der Mönch.

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Fünf Dutzend Schriften aus dem Nilsand: Apokalypsen. Briefe. Eine Apostelgeschichte. Gebete, Hymnen, Spruchsammlungen, Predigten, sogar eine Platon-Übersetzung. Und: Evangelien. Die allerdings, anders als die kanonischen, so gut wie keine Erzähl-Überlieferung aufweisen, keine Kindheitsgeschichte, keine Passion Jesu.

„Ich will zu denen sprechen, die hören können – nicht mit den Ohren des Leibes, sondern mit den Ohren des Verstandes. / Denn viele haben nach der Wahrheit gesucht und konnten sie nicht finden. / … Denn keiner, der unter dem Gesetz ist, kann zur Wahrheit aufblicken. / … Die Offenbarung des Menschensohnes für uns lautet: / Ihr solltet das Wort der Wahrheit annehmen, / und zwar ganz und gar… Sammelt keine Schätze an dem Ort, den die Räuber durchwühlen…“

Endlich, nach mehr als anderthalb Jahrtausenden, halten Christen wieder ein Exemplar des Thomas-Evangeliums in Händen, aus dem einst Origenes oder Clemens von Alexandrien zitierten. Es besteht nur aus Worten Jesu, so genannten Logien, scheinbar ohne roten Faden hintereinander aufgereiht – und es ähnelt verblüffend der verlorenen Quelle Q, auf die sich, wie Theologen glauben, Lukas und Matthäus gestützt haben. Verfasst wurde dieses Evangelium ursprünglich auf Griechisch, wahrscheinlich in Syrien – und sicher vor dem Jahr 200. Vielleicht sogar lange vorher – die Forscher streiten noch. Der Theologe Klaus Berger datiert es in die Jahre 70 bis 80 nach Christus.

„Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe, und wer mir fern ist, ist dem Königreich fern.“

Von den über hundert Jesus-Worten, die das Thomas-Evangelium aufführt, haben ungefähr die Hälfte direkte Parallelen im Neuen Testament. Und oft scheinen sie, verglichen mit den vertrauten Evangelien, eine ursprünglichere, ältere Textvariante zu bieten. An mindestens einer Stelle überliefert das Thomasevangelium sogar Jesus-Material aus dem Kreis seiner allerersten Anhänger: aus dem judenchristlichen Milieu nämlich, das sich nach Jesu Auferstehung in Jerusalem um den so genannten Herrenbruder Jakobus scharte.

„Die Jünger sprachen zu Jesus: „Wir wissen, daß du uns verlassen wirst.
Wer ist es, der groß über uns werden soll?“ / Jesus sprach zu ihnen: „Wo auch immer ihr herkommt, geht zu Jakobus, dem Gerechten. Seinetwegen sind Himmel und Erde entstanden.“

Das sind Worte aus einer Zeit, bevor sich der Schwerpunkt der christlichen Gemeinden von Jerusalem nach Rom, von den Judenchristen zu den Heidenchristen verschob.

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In seinem ersten Korintherbrief schreibt Paulus, er verkünde, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat“. Und er fährt fort: „wie es in der Schrift heißt“. Allerdings: Dieses Zitat findet sich nirgendwo in unserer Heiligen Schrift. Erst jetzt, nach dem Fund von Nag Hammadi, wissen wir, woher Paulus es hat: Es ist das 17. Jesus-Wort im Thomas-Evangelium.

„Ich werde euch das geben, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was keine Hand berührt hat und was nicht in den menschlichen Sinn gekommen ist.“

Besonders interessant an diesem Evangeliumsfund von Nag Hammadi sind Berührungspunkte zum kanonischen Johannes-Evangelium. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt Jesus im vierten Evangelium, und dessen berühmter Prolog bekräftigt: „Alles ist durch ihn geworden.“ Im Thomas-Evangelium hört sich das so an:

„Jesus spricht: Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen... / Spaltet ein Stück Holz - ich bin da. / Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.“

Mehrmals bietet das Thomas-Evangelium Gleichnisse, die wir auch von Markus, Lukas oder Matthäus kennen – aber ohne Auflösung am Schluß, ohne Erklärung. Und es finden sich hier auch bislang unbekannte Gleichnisse, die ein traditionsgeschichtlich hohes Alter haben, ja bis zu Jesus zurückreichen könnten.

„Jesus sprach: Das Königreich des [Vaters] gleicht einer Frau, die einen [Krug] voller Mehl trug. Während sie auf einem weiten Weg ging, brach der Henkel des Kruges, das Mehl rann hinter ihr auf den Weg. Sie bemerkte es nicht, sie hatte kein Unheil wahrgenommen. Als sie in ihr Haus kam, stellte sie den Krug nieder - und fand ihn leer.“

Geübte Bibelausleger finden im Thomas-Evangelium Jesus-Überlieferung von sehr unterschiedlicher Qualität: Neben offenbar sehr altem Material stehen dunkle, schwer deutbare Äußerungen; manches wirkt gnostisch, manches greift auf frühe jüdische Weisheitsschriften, etwa Jesus Sirach, zurück. Es ist kein Evangelium, das man unseren vier kanonischen an die Seite stellen könnte – aber es ist ein aufregender Blick in die Frühzeit des Christentums.

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Unter den weiteren Texten aus dem Wüstensand sticht ein so genanntes „Philippus-Evangelium“ hervor; es folgt im zweiten Kodex von Nag Hammadi direkt auf das Thomas-Evangelium. Hier finden wir nur noch wenige direkte Jesus-Zitate – manches deutet darauf hin, dass das hier eigentlich mal ein Zettelkasten mit Material für Predigten war, entstanden nicht vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts. Aber auch hier gibt es Hinweise, dass die Gemeinschaft, die diesen Text weitergab, ursprünglich aus Judenchristen bestand. Und auch hier entdecken wir Worte mit typisch neutestamentlichem Zungenschlag.

„Wenn eine Perle in den Schmutz geworfen wird, verliert sie dadurch nicht ihren Wert. Auch wird sie nicht erst wertvoll, wenn sie mit Balsamöl gesalbt wird. Sondern sie hat immer denselben Wert in den Augen ihres Besitzers. Ebenso verhält es sich auch mit den Kindern Gottes, wo sie auch sein mögen. Sie haben immer denselben Wert in den Augen ihres Vaters.“

Die Gedankenwelt des Philippus-Evangeliums wirkt auf den heutigen Leser sehr fremd und archaisch. Kennt der Autor – die folgende Textstelle scheint darauf hinzudeuten – fünf Sakramente?

„Der Herr hat alles in einem Mysterium gemacht: Taufe, Salbung, Eucharistie, Erlösung und Brautgemach.“

Anrühren kann uns aber bis heute der Bekenner-Eifer, der aus den koptisch beschriebenen Papyrus-Blättern spricht:

„Wenn du sagst: „Ich bin ein Jude“, wird niemand wanken... Wenn du sagst: „Ich bin ein Christ“, wird die Welt erzittern. Oh, dass ich den als Herrn hätte, dessen Namen zu hören die Welt nicht ertragen kann!“

Zur eindringlichsten, poetischsten Sprache von den Funden aus Nag Hammadi findet ein so genanntes „Evangelium der Wahrheit“, entstanden wohl in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Zu ihm gehört etwa, von jüdischen Traditionen inspiriert, eine tiefe Meditation über den Namen Gottes:

„Der Name des Vaters aber ist der Sohn.“

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Die Kodices von Nag Hammadi lagern heute im Ägyptischen Museum von Kairo und – teilweise – in einem Züricher Banksafe. Unser Bild vom frühen Christentum ist seit diesem Fund ein anderes, komplexeres. Manche Forscher sagen seitdem, die Ketzerei sei der Rechtgläubigkeit zeitlich vorausgegangen. Klar wird, wie sehr gnostische Ideen von Anfang an mit der Jesus-Überlieferung verwoben wurden. Die Funde von Nag Hammadi lassen uns auch noch schmerzhafter spüren, dass wir keine judenchristlichen Evangelien mehr besitzen – hier klafft weiter eine große Lücke in der Überlieferung. Und – ja doch – man darf angesichts dieser ungewohnten Texte von Nag Hammadi doch auch neu wertschätzen, welch ein geschlossenes, facettenreiches Jesusbild uns die klassischen vier Evangelien übermittelt haben.

Fast zehn Menschen sind zu Beginn dieses Monats nach der koptischen Christmette in Nag Hammadi getötet worden. Doch nicht dafür wird der Ort seinen festen Platz in der Geschichte des Christentums behalten – sondern dafür, dass sein Wüstensand nach 1600 Jahren wichtige Texte aus der Frühzeit des Christentums wieder freigegeben hat.

(Stefan Kempis, Radio Vatikan)







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