Vor kurzem hat das
ägyptische Städtchen Nag Hammadi auf traurige Weise für Schlagzeilen gesorgt: Unbekannte
erschossen dort fast ein Dutzend koptische Christen, die gerade aus der Christmette
kamen. Was im Nachrichtenwirbel dieser Tage nicht viele wissen, ist, dass dieser oberägyptische
Ort mit Bahnstation eine wichtige Rolle in der Geschichte des Christentums spielt:
Nag Hammadi ist, sozusagen, unser christliches Qumran. Hier entdeckten Bauern im 20.
Jahrhundert eine Bibliothek, die uns in die Frühzeit des Christentums zurückkatapultiert.
Von diesem anderen, dem antiken Nag Hammadi ist in dieser Sendung nun die Rede. Wir
erzählen, wie im Wüstensand von Oberägypten Texte auftauchten, in denen vielleicht
einige der ältesten Überlieferungen über Jesus festgehalten sind.
* Es
ist der Dezember 1945 – weit von hier ist vor kurzem der Zweite Weltkrieg zu Ende
gegangen. Einige Landarbeiter aus Nag Hammadi graben 10 km außerhalb des Ortes, auf
dem rechten Nilufer, nach fruchtbarer Humuserde. Auf einmal stoßen sie auf einen langen
Tonkrug, legen ihn frei. Öffnen ihn. Der Inhalt: Dreizehn alte Bücher, „Kodizes“,
in Leder gebunden. Texte in koptischer Sprache auf Papyrus.
„Dies sind die
Worte Jesu, des Lebendigen. Sie waren bis jetzt verborgen. Didymos Judas Thomas hat
sie aufgeschrieben. / Jesus sagt: „Wer die Bedeutung dieser Worte findet, wird nicht
sterben. / Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet. Wenn er aber findet,
wird er erschrocken sein…“
Auch wenn es den ägyptischen Bauern nicht auf Anhieb
klar ist: Das ist ein Jahrhundertfund, nur vergleichbar mit dem zufälligen Aufspüren
der Tonkrüge im palästinensischen Qumran, einige hundert Kilometer entfernt von hier.
Und wie bei den jüdischen Schriften von Qumran dauert es auch mit den Texten von Nag
Hammadi Jahrzehnte, bis sie entschlüsselt, übersetzt, herausgegeben sind. Kriege;
Händlerintrigen, eine Blutfehde kommen dazwischen; die Mutter eines der Bauern verheizt
auch noch einen Teil des Fundes. Es sind etwa fünfzig verschiedene Schriften, geschrieben
um 350 nach Christus. Übersetzungen aus dem Griechischen – von Texten aus der Frühzeit
der Christenheit, einige davon vielleicht sogar noch aus dem ersten Jahrhundert. Sie
sind, bis auf einige kleine Fragmente, bisher völlig unbekannt – denn aus dem offiziellen
Kanon des Neuen Testaments hat man sie ausgeschlossen.
Das liegt daran, dass
die meisten von ihnen eine gewisse Nähe zur christlichen Gnosis zeigen – zu einer
Bewegung also, die der neuen Christusbotschaft Züge einer Geheimlehre gab, die nur
einigen Eingeweihten offenstünde. Die Kirchenväter haben die Gnosis von Anfang an
bekämpft und ihre Schriften vernichtet. Allerdings: Mit dem Johannes-Evangelium schaffte
es ein Text, der der Gnosis gar nicht in allem fern steht, sogar in den Kanon der
Heiligen Schrift. Und oft tragen auch diese gnostisch angehauchten Texte wertvolle,
alte Jesus-Überlieferung mit sich. Wer nach ihr sucht, der kommt um apokryphe Texte
nicht herum. Auch wenn diese, anders als die vier kanonischen Evangelien, kein in
sich geschlossenes Jesusbild aufweisen.
Wer hat diese kleine Bibliothek –
ein Theologie wird sie einmal die „Bibel der Häretiker“ nennen – hier versteckt? Wir
wissen es nicht genau. Immerhin: Hier war einmal das alte Chenoboskion, wo der Wüstenvater
Pachomios im vierten Jahrhundert die ersten christlichen Klöster gründete. Die Papyri
werden wohl einmal zur Klosterbibliothek gehört haben. Bis dann im vierten Jahrhundert
Entscheidendes geschieht: Im Jahr 325 formuliert das Konzil von Nizäa das Glaubensbekenntnis;
abweichende Lehren gelten nun als häretisch. 367, also vierzig Jahre später, wird
ein Hirtenbrief des Patriarchen von Alexandria ins Koptische übersetzt, der gegen
häretische Schriften kämpft. Mutmaßliche Reaktion der Mönche: Sie vergraben die zweifelhafteren
unter ihren Schriften...
Manche Textstellen könnten auf eine Nähe zum Mönchtum
hindeuten:
„Selig sind die Einzelnen, die Erwählten. Denn ihr werdet das Königreich
finden... / Viele stehen vor der Tür, aber die Einzelnen sind es, die in den Hochzeitssaal
hineingehen werden... Werdet Vorübergehende...“
Der Einzelne – das ist griechisch
„Monachos“, der Mönch.
*
Fünf Dutzend Schriften aus dem Nilsand: Apokalypsen.
Briefe. Eine Apostelgeschichte. Gebete, Hymnen, Spruchsammlungen, Predigten, sogar
eine Platon-Übersetzung. Und: Evangelien. Die allerdings, anders als die kanonischen,
so gut wie keine Erzähl-Überlieferung aufweisen, keine Kindheitsgeschichte, keine
Passion Jesu.
„Ich will zu denen sprechen, die hören können – nicht mit den
Ohren des Leibes, sondern mit den Ohren des Verstandes. / Denn viele haben nach der
Wahrheit gesucht und konnten sie nicht finden. / … Denn keiner, der unter dem Gesetz
ist, kann zur Wahrheit aufblicken. / … Die Offenbarung des Menschensohnes für uns
lautet: / Ihr solltet das Wort der Wahrheit annehmen, / und zwar ganz und gar… Sammelt
keine Schätze an dem Ort, den die Räuber durchwühlen…“
Endlich, nach mehr als
anderthalb Jahrtausenden, halten Christen wieder ein Exemplar des Thomas-Evangeliums
in Händen, aus dem einst Origenes oder Clemens von Alexandrien zitierten. Es besteht
nur aus Worten Jesu, so genannten Logien, scheinbar ohne roten Faden hintereinander
aufgereiht – und es ähnelt verblüffend der verlorenen Quelle Q, auf die sich, wie
Theologen glauben, Lukas und Matthäus gestützt haben. Verfasst wurde dieses Evangelium
ursprünglich auf Griechisch, wahrscheinlich in Syrien – und sicher vor dem Jahr 200.
Vielleicht sogar lange vorher – die Forscher streiten noch. Der Theologe Klaus Berger
datiert es in die Jahre 70 bis 80 nach Christus.
„Wer mir nahe ist, ist dem
Feuer nahe, und wer mir fern ist, ist dem Königreich fern.“
Von den über hundert
Jesus-Worten, die das Thomas-Evangelium aufführt, haben ungefähr die Hälfte direkte
Parallelen im Neuen Testament. Und oft scheinen sie, verglichen mit den vertrauten
Evangelien, eine ursprünglichere, ältere Textvariante zu bieten. An mindestens einer
Stelle überliefert das Thomasevangelium sogar Jesus-Material aus dem Kreis seiner
allerersten Anhänger: aus dem judenchristlichen Milieu nämlich, das sich nach Jesu
Auferstehung in Jerusalem um den so genannten Herrenbruder Jakobus scharte.
„Die
Jünger sprachen zu Jesus: „Wir wissen, daß du uns verlassen wirst. Wer ist es,
der groß über uns werden soll?“ / Jesus sprach zu ihnen: „Wo auch immer ihr herkommt,
geht zu Jakobus, dem Gerechten. Seinetwegen sind Himmel und Erde entstanden.“
Das
sind Worte aus einer Zeit, bevor sich der Schwerpunkt der christlichen Gemeinden von
Jerusalem nach Rom, von den Judenchristen zu den Heidenchristen verschob.
*
In
seinem ersten Korintherbrief schreibt Paulus, er verkünde, „was kein Auge gesehen
und kein Ohr gehört hat“. Und er fährt fort: „wie es in der Schrift heißt“. Allerdings:
Dieses Zitat findet sich nirgendwo in unserer Heiligen Schrift. Erst jetzt, nach dem
Fund von Nag Hammadi, wissen wir, woher Paulus es hat: Es ist das 17. Jesus-Wort im
Thomas-Evangelium.
„Ich werde euch das geben, was kein Auge gesehen und kein
Ohr gehört hat und was keine Hand berührt hat und was nicht in den menschlichen Sinn
gekommen ist.“
Besonders interessant an diesem Evangeliumsfund von Nag Hammadi
sind Berührungspunkte zum kanonischen Johannes-Evangelium. „Ich bin das Licht der
Welt“, sagt Jesus im vierten Evangelium, und dessen berühmter Prolog bekräftigt: „Alles
ist durch ihn geworden.“ Im Thomas-Evangelium hört sich das so an:
„Jesus spricht:
Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen...
/ Spaltet ein Stück Holz - ich bin da. / Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort
finden.“
Mehrmals bietet das Thomas-Evangelium Gleichnisse, die wir auch von
Markus, Lukas oder Matthäus kennen – aber ohne Auflösung am Schluß, ohne Erklärung.
Und es finden sich hier auch bislang unbekannte Gleichnisse, die ein traditionsgeschichtlich
hohes Alter haben, ja bis zu Jesus zurückreichen könnten.
„Jesus sprach: Das
Königreich des [Vaters] gleicht einer Frau, die einen [Krug] voller Mehl trug. Während
sie auf einem weiten Weg ging, brach der Henkel des Kruges, das Mehl rann hinter ihr
auf den Weg. Sie bemerkte es nicht, sie hatte kein Unheil wahrgenommen. Als sie in
ihr Haus kam, stellte sie den Krug nieder - und fand ihn leer.“
Geübte Bibelausleger
finden im Thomas-Evangelium Jesus-Überlieferung von sehr unterschiedlicher Qualität:
Neben offenbar sehr altem Material stehen dunkle, schwer deutbare Äußerungen; manches
wirkt gnostisch, manches greift auf frühe jüdische Weisheitsschriften, etwa Jesus
Sirach, zurück. Es ist kein Evangelium, das man unseren vier kanonischen an die Seite
stellen könnte – aber es ist ein aufregender Blick in die Frühzeit des Christentums.
*
Unter
den weiteren Texten aus dem Wüstensand sticht ein so genanntes „Philippus-Evangelium“
hervor; es folgt im zweiten Kodex von Nag Hammadi direkt auf das Thomas-Evangelium.
Hier finden wir nur noch wenige direkte Jesus-Zitate – manches deutet darauf hin,
dass das hier eigentlich mal ein Zettelkasten mit Material für Predigten war, entstanden
nicht vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts. Aber auch hier gibt es Hinweise, dass
die Gemeinschaft, die diesen Text weitergab, ursprünglich aus Judenchristen bestand.
Und auch hier entdecken wir Worte mit typisch neutestamentlichem Zungenschlag.
„Wenn
eine Perle in den Schmutz geworfen wird, verliert sie dadurch nicht ihren Wert. Auch
wird sie nicht erst wertvoll, wenn sie mit Balsamöl gesalbt wird. Sondern sie hat
immer denselben Wert in den Augen ihres Besitzers. Ebenso verhält es sich auch mit
den Kindern Gottes, wo sie auch sein mögen. Sie haben immer denselben Wert in den
Augen ihres Vaters.“
Die Gedankenwelt des Philippus-Evangeliums wirkt auf den
heutigen Leser sehr fremd und archaisch. Kennt der Autor – die folgende Textstelle
scheint darauf hinzudeuten – fünf Sakramente?
„Der Herr hat alles in einem
Mysterium gemacht: Taufe, Salbung, Eucharistie, Erlösung und Brautgemach.“
Anrühren
kann uns aber bis heute der Bekenner-Eifer, der aus den koptisch beschriebenen Papyrus-Blättern
spricht:
„Wenn du sagst: „Ich bin ein Jude“, wird niemand wanken... Wenn du
sagst: „Ich bin ein Christ“, wird die Welt erzittern. Oh, dass ich den als Herrn hätte,
dessen Namen zu hören die Welt nicht ertragen kann!“
Zur eindringlichsten,
poetischsten Sprache von den Funden aus Nag Hammadi findet ein so genanntes „Evangelium
der Wahrheit“, entstanden wohl in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Zu
ihm gehört etwa, von jüdischen Traditionen inspiriert, eine tiefe Meditation über
den Namen Gottes:
„Der Name des Vaters aber ist der Sohn.“
*
Die
Kodices von Nag Hammadi lagern heute im Ägyptischen Museum von Kairo und – teilweise
– in einem Züricher Banksafe. Unser Bild vom frühen Christentum ist seit diesem Fund
ein anderes, komplexeres. Manche Forscher sagen seitdem, die Ketzerei sei der Rechtgläubigkeit
zeitlich vorausgegangen. Klar wird, wie sehr gnostische Ideen von Anfang an mit der
Jesus-Überlieferung verwoben wurden. Die Funde von Nag Hammadi lassen uns auch noch
schmerzhafter spüren, dass wir keine judenchristlichen Evangelien mehr besitzen –
hier klafft weiter eine große Lücke in der Überlieferung. Und – ja doch – man darf
angesichts dieser ungewohnten Texte von Nag Hammadi doch auch neu wertschätzen, welch
ein geschlossenes, facettenreiches Jesusbild uns die klassischen vier Evangelien übermittelt
haben.
Fast zehn Menschen sind zu Beginn dieses Monats nach der koptischen
Christmette in Nag Hammadi getötet worden. Doch nicht dafür wird der Ort seinen festen
Platz in der Geschichte des Christentums behalten – sondern dafür, dass sein Wüstensand
nach 1600 Jahren wichtige Texte aus der Frühzeit des Christentums wieder freigegeben
hat.