Süditalien: „Nero precario - Man kann Tiere erschießen, aber doch keine Menschen!"
In Italien hatten
sich in der Debatte um illegale Einwanderer die Wogen gerade erst geglättet. Nun kochen
sie wieder hoch. Anlass ist eine Revolte von Erntearbeitern in Kalabrien im Süden
des Landes. Nach Schüssen auf zwei ihrer Leute am letzten Donnerstag gingen die afrikanischen
Migranten in der Stadt Rosarno auf die Barrikaden.
Wie Freiwild Gewalttätige
Auseinandersetzungen folgten. Über 50 Verletzte, darunter Afrikaner, Sicherheitskräfte
und italienische Bürger – so die traurige Bilanz. In den Folgetagen kam es in der
Gegend zu weiteren Attacken auf Afrikaner – die Migranten fühlten sich wie Freiwild.
Im Interview mit „Repubblica TV“ ließen die Erntehelfer ihrer Wut und Verunsicherung
freien Lauf.
„Man kann Tiere erschießen, aber doch keine Menschen! Die Hautfarbe
sollte doch keine Rolle spielen. Geht nur mal nach Afrika. In Marokko rührt niemand
Italiener an. Wir respektieren nämlich andere Menschen.“ – (Beifall der anderen) ...sagt
der 34-jährige Ahmed aus Marokko. Er und seine Kollegen sehen sich als Opfer eines
rassistischen Übergriffes. „In der Bibel und im Koran steht: Wir sind gleich! Wir
sind nicht zum Unruhestiften in Italien (zustimmende Rufe der anderen), sondern zum
Arbeiten, wir wollen Geld verdienen, das wir nach Hause schicken können. Ich will
hier nicht die Caritas um Brot und Milch anbetteln – das interessiert mich nicht,
ich will nur arbeiten und Respekt!“
Falsche Toleranz? Gefallene
Obstpreise und Arbeitslosigkeit dürften die Aggressionsbereitschaft der Erntehelfer
verschärft haben. Für den italienischen Innenminister Roberto Maroni ist die Eskalation
Folge von „falscher Toleranz“. Der Verfechter des so genannten „Sicherheitspaketes“
kündigte in einem Interview (Sky Tg24) direkt die Abschiebung der illegalen Migranten
an. Kirche und Caritas nahmen die Afrikaner in Schutz. Benedikt XVI. erinnerte im
Sonntagsgebet erneut an die Menschenwürde, wenn auch Gewalt, so der Papst, „nie und
für niemanden“ ein Weg sein dürfe, Schwierigkeiten zu lösen. Die Situation der Erntehelfer
in Kalabrien sei vor allem „wegen ihrer schweren Arbeitsbedingungen belastend“, so
der vatikanische Staatssekretär Tarcisio Bertone. Pino Demasi, Generalvikar der Diözese
Oppido-Palmi (bei Rosarno), findet noch klarere Worte. Fakt sei doch, dass sich die
Einwanderer in der Mangel der Mafia befänden.
„Auf der einen Seite gibt
es da die lokale Mafia, die so genannte ’Ndrangheta, die diese Bürger unterbuttert
und sie bis aufs Letzte ausnutzt. Sie zwingt sie, an diesem schrecklichen Orten zu
leben und bezahlt sie kaum. Und auf der anderen Seite gibt es da die Menschen guten
Willens aus der Region, die ein Netzwerk der Solidarität aufbauen und die Migranten
schützen wollen.“
In Baracken ohne Strom und fließendes Wasser, zusammengepfercht
wie die Tiere - so lebten die Arbeiter in einer verlassenen Fabrik bei Rosarno. Der
Lohn von circa 25, - Euro pro Tag reichte grade fürs Überleben, ein Teil davon, so
die Einwanderer, ginge an Familien und Angehörige in den afrikanischen Heimatländern.
„Falsche Toleranz“ gegenüber wem, muss man fragen, gegenüber afrikanischen Illegalen
oder italienischen Heckenschützen, wütenden Arbeitern oder ausbeuterischen Plantagenbesitzern?
Wo Rechtspopulisten rassistische Schlagworte bemühen, bemühen sich Kirche und Menschenrechtsorganisationen
um eine breitere Debatte. Siziliens Caritas rief zuletzt mit einer provokanten Weihnachtsaktion
zu mehr Solidarität gegenüber Einwanderern auf. So fehlten In der Weihnachtskrippe
im Dom von Agrigent die drei Könige. Kaspar, Melchior und Balthasar – war dort zu
lesen – seien „zusammen mit anderen Einwanderern an der Grenze abgewiesen“ worden.
„Ich kann mich doch nicht von einem Gipskind in der Krippe rühren lassen,
das mich an die Ereignisse von vor 2000 Jahren erinnert und andererseits vor echten
Kindern, die im Mittelmeer umkommen, gleichgültig bleiben – von solchen armen Kleinen
sind ja so viele gestorben! Ich kriege diese beiden Dinge jedenfalls nicht zusammen…“
…so
der Erzbischof von Agrigent, Francesco Montenegro, aufgebracht. Auch ohne politische
Lösungen ist Italiens Kirche in Punkto Einwanderung keineswegs weltfremd. Schließlich
sind es gerade kirchliche oder kirchennahe Einrichtungen, die konkrete Hilfe leisten
und nicht zuletzt auch die Bewusstseinbildung der Bevölkerung vorantreiben. Mailands
Erzbischof, Kardinal Dionigi Tettamanzi, appellierte in der Messe zum Dreikönigsfest
an die Bevölkerung:
„Wir brauchen mehr Einheit unter uns. Und wir brauchen
Entschiedenheit und den energischen Willen, in dieser selbst gewählten Gesellschaft
neue Erziehungsprojekte voranzutreiben. In Italiens Gesellschaft, die sich auch aus
immer mehr Bürgern anderer Nationalitäten zusammensetzt – und das mit gutem Recht
– , müssen wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Wir brauchen ein tiefes
und gemeinsames Nachdenken über die Werte der Person, jeder Person, über Staatsangehörigkeit,
die Staatsbürgerschaft aller und religiöse Zugehörigkeit.“
Schwarz und
rechtslos Die Solidarität der Bewohner von Rosarno war offenbar nicht groß
genug, als dass sie die Migranten hätte schützen können. Nach den ersten Schüssen
am letzten Donnerstag kam es in der Gegend zu weiteren Übergriffen auf Afrikaner.
Und wenn dann ausgerechnet die „Gejagten“ um Schutz und Hilfe bitten müssen, wirft
das auch kein gutes Licht auf die lokale Polizei.
„Wir haben nichts gegen
die Leute hier. Das sind gute Leute. Wir wollen nur, dass die Wahrheit zu dieser Geschichte
erzählt wird und dass Polizei und Sicherheitskräfte ihre Pflicht erfüllen. Wir arbeiten
hier wie die Hunde. Und Italien ohne Einwanderer zählt doch gar nichts!“
Ganz
unrecht hat Ahmet damit nicht. Nach einer Statistik der Caritas tragen die italienischen
Einwanderer mit 9 Prozent nicht unerheblich zu Italiens Bruttoinlandsprodukt bei.
Damit sind wohl weniger illegale Einwanderer gemeint. Wenn man aber, wie gern Vertreter
der populistischen Rechtspartei „Lega Nord“, steigende Kriminalität nur auf illegale
Einwanderer zurückführen will, muss man auch über ausbeuterische Schwarzarbeit reden.
Denn sie ist es, die den Zustrom illegaler Einwanderer am Laufen halten. (Musik: „Nero
precario…“) Und die sind meistens schwarz und rechtlos, wie eine bekannte italienische
Fernsehsatire kürzlich polemisch titelte. (Musik: „Italien ist eine demokratische
Republik, die auf Arbeit basiert…“) Das Recht auf menschenwürdige Arbeit, in den ersten
Artikeln der italienischen Verfassung festgeschrieben, für sie gilt es ganz offenbar
nicht.
Versagen des Rechtsstaates? Hat im Fall Rosarno der Rechtsstaat
versagt? Viele Bewohner der Region fühlen sich durch die Ausschreitungen verunsichert.
Auf den Demonstrationen der Rosarnesi sieht man zurzeit viele Plakate mit Slogans
wie „Solidarität“ und „keine Gewalt“. Die Bewohner der Kleinstadt, die von der Landwirtschaft
lebt, wollen ihre Ruhe. Wenige von ihnen sind so mutig wie der Hörer einer italienischen
Radiosendung (Prima Pagina, Rai Tre), der sich ein Paar Tage nach den Vorfällen Luft
macht. Er komme aus Rosarno, so der Mann, der angibt, die „Verhältnisse hier gut zu
kennen“.
„Die `Ndrangheta vergisst nicht. Sie reagiert, auch ein oder
viele Jahre später. Schon letztes Jahr haben die Migranten hier friedlich protestiert.
Sie haben ausbeuterische Kriminelle angezeigt, einer von ihnen sitzt heute im Gefängnis.
Der Staat - das ist ja keine generelle Größe, der Staat besteht aus lokalen Stellen
und Behörden, aus Verantwortlichen, die – in diesem Fall - ihre Aufgaben nicht wahrgenommen
haben.“
Ab den 60er Jahren hätte die lokale Mafia begonnen, ihre Macht
über die gesamte Region auszubreiten. 15 Familien seien heute darin verwickelt, so
der Hörer, der anonym bleiben will. Anschließend nennt er zwei Namen und legt auf.
Auch der Generalvikar Damasi von der Diözese Oppido-Palmi glaubt an einen Racheakt
der ‘Ndrangheta.
„Das war nicht nur ein schlechter Jungenstreich, sondern
sicher in eine Logik der Rache eingebettet. Die `Ndrangheta wollte demonstrieren:
Uns gibt es, wir machen, was wir wollen und ihr seid uns Untertan.“
Er
wirft der Region Kalabrien Versäumnisse vor:
„Schon seit dem letzten Jahr
gibt es dieses Problem. Die Region hätte sicher ein Gesetz machen müssen, dass Arbeit
und Aufenthalt der Saisonarbeiter regelt. Ich denke, dass das Problem nur rechtsstaatlich
und vor allem durch den Einsatz der lokalen Behörden gelöst werden kann. Sie können
bewirken, dass diese Migranten nicht unter den ausbeuterischen Bedingungen organisierter
Verbrecher leben müssen.“
Migrantenjagd als Machtdemonstration – auch gegenüber
dem italienischen Staat? Diese Möglichkeit schlossen zuletzt auch der Präfekt der
Region Reggio Calabria, Luigi Varratta, und das italienische Innenministerium nicht
aus (Alfredo Montavano, Untersekretär). Schließlich hatten Politiker dem organisierten
Verbrechen vor kurzem erneut den Kampf angesagt.
Ein Großteil der Einwanderer
von Rosarno, darunter auch Migranten mit Aufenthaltsgenehmigung, wurden nach den Unruhen
in Auffanglager umgesiedelt. In den meisten dieser Lager herrschen, das fand eine
Untersuchung von Ärzte ohne Grenzen Italien jetzt heraus, menschenunwürdige Bedingungen,
die denen der Arbeiterbaracken in nichts nachstehen. Mit der Abschiebung in die Lager
ist in Kalabrien die öffentliche Ordnung wieder hergestellt - Fragen des organisierten
Verbrechens und der Rechte der afrikanischen Arbeiter bleiben aber weiter ungelöst.