2009 – das war in
gewisser Weise das „annus horribilis“ für den Vatikan – das Jahr einer Entzauberung.
In der deutschen Heimat von Papst Benedikt schlug das Grundgefühl um: von „Wir sind
Papst“ zu „Wir waren Papst“. Eine Geste des Heiligen Vaters in die Richtung katholischer
Fundamentalisten führte zu einer schrillen Debatte vielerorts, sogar zu einer Papst-Schelte
aus dem Mund der deutschen Bundeskanzlerin: So etwas hat es seit Bismarck nicht mehr
gegeben. Die „Williamson-Affäre“ hat in diesem Jahr viele Scherben hinterlassen, auch
viele gute Katholiken verwirrt – und die eigentlichen Anliegen des Papstes überdeckt.
Aber 2009 war noch mehr: Benedikt XVI. kam als Pilger ins Heilige Land, betete
an der Klagemauer von Jerusalem und auf Golgotha, tröstete Flüchtlinge hinter der
Gefängnismauer, die die palästinensischen Gebiete umgibt, knüpfte in einer Moschee
in Amman an seine „Regensburger Rede“ an. Und er versuchte, mit einer Sonder-Bischofssynode
und einer Reise nach Afrika der Kirche dort neuen Mut und neuen Schwung zu geben:
„Afrika, steh wieder auf!“ 2009, das war nicht zuletzt auch das Jahr der dritten großen
Enzyklika von Papst Benedikt: „Caritas in veritate“, sein Durchbuchstabieren der katholischen
Soziallehre in Zeiten von Globalisierung und Finanzkrise.
Blicken wir gemeinsam
zurück auf dieses Jahr, das jetzt zu Ende geht.
*
24. Januar 2009:
Nur drei Tage vor dem UNO-Gedenktag an die Opfer des Holocaust hebt Papst Benedikt
die Exkommunikation gegen vier Bischöfe der Piusbruderschaft auf. Er will die Traditionalisten,
die das Zweite Vatikanische Konzil nicht anerkennen und in Riten und Vorstellungen
des 19. Jahrhunderts und vorher verhaftet sind, in ein theologisches Gespräch ziehen,
um ihren endgültigen Bruch mit Mutter Kirche zu vermeiden. Was er in diesem Moment
nicht weiß: Einer der vier Bischöfe, denen er da entgegenkommt, hat Dreck am Stecken.
Der Brite Richard Williamson ist ein Leugner des Holocaust. Die Medien stellen einen
(falschen, aber suggestiven) Zusammenhang her: Papst rehabilitiert Holocaust-Leugner.
Die Verkürzung führt zu einer heftigen Debatte, und im Vatikan igelt man sich zunächst
ein, um den Sturm über die Köpfe hinwegziehen zu lassen. „Der „Spiegel“ ist an allem
schuld“, sagt ein hochrangiger Kurienkardinal einem deutschen Gesprächspartner unter
vier Augen. „Kommunikationspannen“ werden auch der Sprecher von Papst Benedikt und
schließlich – in einem Brief an alle Bischöfe – der Papst selbst einräumen. Das Kommunikations-
und Abstimmungs-Wirrwarr, das angesichts der „Williamson-Affäre“ im Vatikan sichtbar
wird, ist schon für sich genommen schlimm genug.
Doch in den folgenden Wochen
und Monaten müssen sich der Papst, der Vatikan und Kirchenleute weltweit gegen den
Verdacht wehren, sie relativierten Auschwitz oder wollten – wie die Piusbrüder – in
die Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil zurück. Auf einmal scheint, wenn man
den Medien glaubt, alles, was die Kirche in den letzten Jahrzehnten erreicht hat,
wieder zur Disposition zu stehen: der Dialog mit anderen Religionen vor allem. Dass
auch Bundeskanzlerin Angela Merkel – Wahljahr ist Wahljahr – glaubt, sich in die Reihe
der Papst-Kritiker einreihen zu müssen, sorgt am Tiber für anhaltende Verstimmung.
Was bleibt von der Affäre Williamson? Benedikt XVI. geht geschwächt aus ihr
hervor; sein zentrales Anliegen, Brüche zu vermeiden und Dissidenten so weit wie möglich
entgegenzukommen, geht unter oder wirkt desavouiert. Schnell bricht nun immer, wenn
der Papst etwas tut, großes Mediengeschrei aus, wie auch der Zwist um die Ernennung
eines Weihbischofs in Linz zeigt. Immerhin: Das theologische Gespräch mit den Piusbrüdern
beginnt tatsächlich im Vatikan, es ist jetzt bei der Glaubenskongregation angesiedelt.
Aber der Preis für diesen neuen Dialog war hoch: Benedikt hat sich von den Traditionalisten
vorführen lassen, so sehen es viele. Dem Papst liegt nicht an seinem Image, sondern
daran, seine Hirtenaufgabe ernst zu nehmen – und doch: Wenn es ihm nicht gelingt,
zu vermitteln, was er eigentlich will, droht letztlich auch seine Mission Schaden
zu nehmen. Dieser Papst war immer schon ein Mann der Zwischentöne und der leisen Gesten:
Man muß genau hinsehen bei ihm und sich auf seine Argumentation einlassen, nicht nur
auf den Augenschein vertrauen - das lehrt einmal mehr die Williamson-Affäre.
*
Mai
2009: Der Papst im Heiligen Land. Benedikt folgt den Spuren von Johannes Paul; manchmal,
auf dem Mosesberg Nebo oder an der Klagemauer, wirkt es fast, als wollte er die eindringlichen
Bilder von der Reise des Vorgängers aus dem Heiligen Jahr 2000 nachstellen. In Amman
hält er in der neuen König-Hussein-Moschee eine Rede zum Gespräch mit dem Islam; jetzt
erst kann die letzte Irritation nach der kontroversen Regensburger Rede von 2005 wirklich
für überwunden gelten. In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in den Bergen bei
Jerusalem sagt Benedikt nachdenkliche Worte, die sich den üblichen Selbstanklage-
und Entschuldigungs-Ritualen entziehen. Teile der israelischen Presse schießen sich
gleich auf diese Rede ein, zeigen dadurch auch ein gerüttelt Maß Unsicherheit, wie
mit diesem Papst aus dem Land der Täter im Staat der Opfer denn umzugehen sei.
Doch
während der Visite wird immer klarer, dass Benedikt XVI. sich guten Ratschlägen von
allen Seiten verweigert und seinen eigenen Zugang zum Nahost-Komplex, zur Lage der
Christen und zu den Religionen dort findet: Gerade weil er nicht nur diplomatisch
Ausgewogenes verliest, sondern seine eigenen Gedanken äußert, wirkt er auf viele glaubwürdig.
Den gebeutelten Christen des Heiligen Landes tut es gut, in der Region überhaupt mal
als Gruppe wahrgenommen zu werden; doch bleibt der Besuch ihres Oberhaupts aus Rom
nach erstem Augenschein ohne konkrete, gleich greifbare Wirkung. Der Exodus von Christen
aus dem Nahen Osten geht weiter, die Verhandlungen zwischen Vatikan und Israel über
den Status der Kirche im Heiligen Land schleppen sich weiter hin, und es bleibt schwierig
für Priester, für Israel ein Visum zu bekommen. Nach Gaza, das im Frühjahr einer israelischen
Offensive ausgesetzt war, reist Benedikt nicht. Für Herbst 2010 hat der Papst eine
Nahost-Sondersynode in den Vatikan einberufen – dann wird man auch Bilanz ziehen,
was seine Pilgerreise ins Heilige Land „gebracht“ hat.
*
„Afrika, steh
auf!“ Fast den ganzen Oktober über beraten im Vatikan rund 400 Bischöfe, Ordensleute
und Laien über die Kirche in Afrika. Der Papst hat diese Bischofs-Sondersynode im
Frühjahr durch eine Reise nach Kamerun und Angola vorbereitet. Die Synodenväter finden
im Vatikan zu einer deutlichen Sprache: Nein zur Todesstrafe, Nein zum Waffenhandel,
weg mit den drückenden Auslandsschulden vieler Länder, Ja zu einem flächendeckenden
Kirchen-Engagement für Menschenrechte, und christliche Politiker, die durch Korruption
oder Nepotismus auffallen, sollen doch bitte zurücktreten. Doch was die Bischöfe von
all dem dann nach ihrer Rückkehr umsetzen werden, bleibt abzuwarten. Geradezu hymnisch
klingen die Oberhirten aus allen Teilen des Schwarzen Kontinents, wenn sie vom neuen
US-Präsidenten Barack Obama sprechen. Im Vatikan selbst scheint man diese Begeisterung
nicht ganz zu teilen; zu groß ist die Sorge, dass Obamas Partei den Schutz des ungeborenen
Lebens in den USA aufweicht, und einzelne Stimmen im Vatikan warnen gar vor einem
falschen Messianismus, der zu einer Art Einheitsreligion des politisch Korrekten führen
könnte. Mit dem Chef der UNO-Organisation für Landwirtschaft, Jaques Diouf aus dem
Senegal, spricht erstmals ein Moslem vor einer Bischofssynode im Vatikan; zu früheren
Synoden hatte Papst Benedikt schon einen Rabbiner und den orthodoxen Ökumenischen
Patriarchen eingeladen.
*
Auffallend häufig und pointiert äußert sich
der Heilige Vater im Lauf des Jahres 2009 zum Einsatz für die Umwelt und das Weltklima
sowie zum Kampf gegen Hunger: Er ist sich auch nicht zu schade, auf einem UNO-Gipfel
gegen Hunger in Rom aufzutreten, obwohl sich ein Scheitern dieser Konferenz da schon
abzeichnet. In seiner dritten großen Enzyklika „Caritas in veritate“ legt Benedikt
sein Denken zur sozialen Frage von heute vor: Er zieht – so formuliert es Kardinal
Cordes – die katholische Soziallehre, die bisher oft naturrechtlich argumentiert hat,
ins Innere des Glaubens hinein und setzt sie in Zusammenhang mit dem Wort Gottes.
Der Text ist allerdings, im Vergleich zu den zwei früheren Enzykliken Benedikts, spürbar
nicht aus einem Guß: Viele Federn haben daran mitgeschrieben, darunter leidet etwas
die Lesbarkeit. Jetzt erst wird deutlich, welche geniale Würfe die Enzykliken über
Liebe und Hoffnung waren. Die Rezeption der Sozialenzyklika kommt nur etwas schleppend
in Gang; auch wenn in der großen Finanz- und Wirtschaftskrise dieser Monate immer
wieder nach einer ethischen Neubegründung von Markt und Handel gerufen worden ist,
darf man schon fragen, wie groß die Bereitschaft ist, einen solchen Entwurf, wenn
ihn der Papst dann vorlegt, auch tatsächlich aufzugreifen.
Was vielen entgeht,
weil es dem eiligen Leser nicht auffällt: „Caritas in veritate“ ist auch in ökumenischer
Hinsicht ein wichtiger Text. Er greift das sozialethische Denken der Protestanten
auf – wie ja auch durch das Paulusjahr, das Benedikt im Juni 2009 zu Ende führt, eine
fruchtbare Debatte mit den Protestanten einsetzt und der Völkerapostel, der dem Protestantismus
so am Herzen liegt, gewissermaßen in die katholische Kirche „heimgeholt“ wird. Eine
nicht unumstrittene ökumenische Entscheidung Benedikts ist im Herbst 2009 die Einrichtung
eigener Strukturen für Anglikaner, die katholisch werden, aber einen Teil ihrer Traditionen
behalten wollen. Wieder nur ein Signal an traditionellere Christen, monieren manche
Beobachter; doch wieder ist es Hirtensorge, die den Papst treibt. Benedikt will vor
allem ein Diener der christlichen Einheit sein, wie er auch in einer Botschaft an
den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel bekräftigt. Allerdings zeigt der theologische
Dialog mit den Orthodoxen in diesem Jahr schmerzhaft, dass der Primat des römischen
Bischofs weiterhin Stein des Anstoßes bleibt und ein Hindernis für die Ökumene.
*
Der
dialogbereite Benedikt – er würdigt in diesem Jahr 2009, das auch das Jahr der Astronomie
ist, immer wieder Galileo Galilei. Und er sucht, in einer aufsehenerregenden Audienz
in der Sixtinischen Kapelle, das Gespräch mit der Welt der Kunst und Kultur. Nach
innen, in die Kirche hinein hingegen gibt er Signale, die die katholische Identität
stärken sollen: Priester sollen den Wert ihres Dienstes neu entdecken, dem dient das
Priesterjahr, und Skandale sollen nicht länger das prophetische Zeugnis der Kirche
verdunkeln, dem dienen neue Regeln zur leichteren Rückversetzung von Priestern in
den Laienstand.
Die Bereitschaft zum Dialog gehört für diesen Papst zu seinem
Gottesbild. Dreifaltigkeit – das übersetzt er mit: Gott ist Gespräch. Und dem entspricht
auch das Bild vom Menschen, das er hat. Er sieht sich nicht als Einzelkämpfer, sondern
verläßt sich – manche sagen „zu sehr“ – auf seine Mitarbeiter. Er beruft immer wieder,
sobald es nötig wird, Gesprächsrunden ein, um heikle aktuelle Fragen zu besprechen.
Im Frühjahr sind österreichische Bischöfe bei ihm, um den heftigen Streit zu klären,
der nach der Ernennung des Pfarrers Gerhard Maria Wagner zum Weihbischof von Linz
in Österreichs Gesellschaft ausgebrochen ist. Wagner verzichtet angesichts des Drucks
auf ihn noch vor der Bischofsweihe – ein Vorgang fast ohne Beispiel. In jüngster Zeit
– aus der Amtsperiode Benedikts – mag man höchstens die Wielgus-Affäre um den ernannten
Warschauer Erzbischof heranziehen, der ebenfalls vor Amtsantritt aufgab. Die Schäden,
die die bittere Debatte in Österreichs Kirche angerichtet hat, sind beachtlich; Kardinal
Schönborn von Wien setzt sich für eine schnelle Lösung ein, und der Papst unterstützt
ihn darin. Aber Angriffe auf ihn „mit sprungbereiter Feindseligkeit“ nicht nur aus
Deutschland wegen der Piusbrüder-Krise, sondern jetzt auch aus Österreich wegen des
Falles Wagner – das schmerzt Benedikt. Eine Zeitung behauptet, er habe auch im Sommer
einen vertraulichen Kardinalsgipfel einberufen, diesmal zum Funktionieren der römischen
Kurie; auch diesmal soll Schönborn dabei gewesen sein. Im Dezember sind es irische
Bischöfe, die Benedikt zu einem Mini-Gipfel in den Vatikan bittet: wegen der Mißbrauchsskandale
in Irlands Kirche. Wie schon in Sachen Piusbrüder, will er auch in dieser Angelegenheit
einen Brief an seine Kirche schreiben.
*
Was erwartet uns 2010 aus
dem Vatikan? Anfang Mai betet Benedikt vor dem feierlich ausgestellten „Turiner Grabtuch“
– vielleicht eines der eindringlichsten Bilder des nächsten Jahres. An Auslandsreisen
stehen Malta, Portugal und Zypern, eventuell auch Großbritannien auf dem Programm:
keine Visite in Deutschland, immer noch nicht die große Asienreise. Auch mit dem zweiten
Teil seines Buches über Jesus von Nazareth ist für 2010 zu rechnen – eventuell auch
mit einer Enzyklika über den Glauben. Wichtig sind aber auch die bevorstehenden Wechsel
in der römischen Kurie: Die Kardinäle Kasper, Re und Hummes werden im Lauf des Jahres
wohl in Pension gehen. Mit der Ernennung ihrer Nachfolger wird Benedikt wichtige Weichenstellungen
treffen, was die Ökumene, das Verfahren der Auswahl von Bischöfen und was die Priester
betrifft. Stefan Kempis, Radio Vatikan