Die Ansprache des Papstes zu „urbi et orbi“ im Wortlaut
Liebe Brüder und Schwestern in Rom und auf der ganzen Welt und ihr alle vom Herrn
geliebten Männer und Frauen! „Lux fulgebit hodie super nos, quia
natus est nobis Dominus. – Ein Licht strahlt heute über uns auf, denn
geboren ist uns der Herr.” (Römisches Meßbuch, Weihnachten – Messe am
Morgen, Eröffnungsvers). Die Liturgie der Messe am Morgen hat uns daran
erinnert: Die Nacht ist vorüber, der Tag ist angebrochen; das Licht, das von der Grotte
in Bethlehem ausgeht, strahlt über uns auf.
Die Bibel und die Liturgie erzählen
uns jedoch nicht vom natürlichen Licht, sondern von einem anderen, besonderen Licht,
das in gewisser Weise ein „Wir“ beleuchtet und darauf hinstrahlt, ein „Wir“, für das
das Kind von Bethlehem „geboren ist“. Dieses „Wir“ ist die Kirche, die große weltweite
Familie der an Christus Glaubenden, die voll Hoffnung die neue Geburt des Heilands
erwartet haben und heute im Geheimnis die immerwährende Aktualität dieses Ereignisses
feiern.
Am Anfang, bei der Krippe von Bethlehem, war dieses „Wir“ für die
Augen der Menschen fast unsichtbar. Wie uns das Lukasevangelium berichtet, umfasste
es außer Maria und Josef wenige einfache Hirten, die auf die Nachricht des Engels
hin zur Grotte kamen. Das Licht der ersten Weihnacht war wie ein in der Nacht entfachtes
Feuer. Alles ringsum war dunkel, während in der Grotte das wahre Licht aufstrahlte,
„das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9). Und doch geschieht alles in Schlichtheit
und im Verborgenen, so wie Gott in der gesamten Heilsgeschichte wirkt. Gott entzündet
gern kleine Lichter, um es dann in weitem Umkreis hell werden zu lassen. Wo das Licht
aufgenommen wird, dort werden die Wahrheit sowie die Liebe entfacht, die es in sich
trägt, und es breitet sich dann – gleichsam durch Berührung – in konzentrischen Kreisen
in den Herzen und Gedanken derer aus, die sich frei seinem Glanz öffnen und ihrerseits
zu Quellen des Lichts werden. In der armen Grotte von Bethlehem nimmt der Weg der
Kirche ihren Anfang und durch die Jahrhunderte wird sie zum Volk und zum Licht für
die Menschheit. Auch heute entfacht Gott durch diejenigen, die dem Kind begegnen,
Feuer in der Nacht der Welt, um die Menschen zu rufen, dass sie in Jesus das „Zeichen“
seiner heil- und freimachenden Gegenwart erkennen und das „Wir“ der Gläubigen auf
die ganze Menschheit ausweiten.
Wo immer es ein „Wir“ gibt, das die Liebe Gottes
aufnimmt, dort erstrahlt das Licht Christi auch in noch so schwierigen Situationen.
Wie die Jungfrau Maria gibt die Kirche der Welt Jesus, den Maria selbst als Geschenk
empfangen hat und der gekommen ist, den Menschen von der Knechtschaft der Sünde zu
befreien. Wie Maria hat die Kirche keine Angst, denn dieses Kind ist ihre Stärke.
Aber sie behält es nicht für sich: Sie gibt das Kind allen, die es mit aufrichtigem
Herzen suchen, den einfachen Menschen der Erde und den Notleidenden, den Opfern von
Gewalt und allen, die sich nach dem Gut des Friedens sehnen. Der Menschheitsfamilie,
die tief von einer schweren wirtschaftlichen, aber noch mehr von einer moralischen
Krise und den schmerzlichen Wunden von Kriegen und Konflikten gezeichnet ist, wiederholt
die Kirche in Anteilnahme und Treue zum Menschen auch heute mit den Hirten: „Kommt,
gehen wir nach Bethlehem“ (Lk 2,15), dort werden wir unsere Hoffnung finden. Das
„Wir“ der Kirche lebt da, wo Jesus geboren ist, im Heiligen Land, um seine Bewohner
einzuladen, jegliche Logik der Gewalt und der Rache aufzugeben und sich mit erneuerter
Kraft und mit Großmut für den Weg zu einem friedlichen Zusammenleben einzusetzen.
Das „Wir“ der Kirche ist in den anderen Ländern des Nahen Ostens zugegen. Wie könnte
man die bedrängte Situation im Irak und jener kleinen Herde von Christen in dieser
Region vergessen? Sie ist zuweilen Gewalt und Ungerechtigkeiten ausgesetzt, und doch
strebt sie immer danach, ihren Beitrag zum Aufbau eines zivilisierten Zusammenlebens
gegen die Logik der Konfrontation und der Ablehnung des Nächsten zu leisten. Das „Wir“
der Kirche wirkt in Sri Lanka, auf der koreanischen Halbinsel und auf den Philippinen,
wie auch in anderen asiatischen Ländern als ein Sauerteig der Versöhnung und des Friedens.
Auf dem afrikanischen Kontinent hört die Kirche nicht auf, ihre Stimme zu Gott zu
erheben, um ihn um das Ende aller gewaltsamen Übergriffe in der Demokratischen Republik
Kongo zu bitten. Sie lädt die Bürger Guineas und des Niger zur Achtung der Rechte
jedes Menschen und zum Dialog ein. Die Einwohner Madagaskars ruft sie auf, die inneren
Spaltungen zu überwinden und sich gegenseitig anzunehmen. Sie erinnert alle daran,
dass sie trotz der Tragödien, der Prüfungen und der Schwierigkeiten, die sie weiter
plagen, zur Hoffnung berufen sind. In Europa und in Nordamerika spornt das „Wir“ der
Kirche dazu an, eine egoistische und technokratische Mentalität zu überwinden, das
Gemeinwohl zu fördern und die schwächsten Personen, beginnend mit den noch nicht Geborenen,
zu achten. In Honduras hilft es mit, den Prozess der Demokratisierung wieder aufzunehmen.
In ganz Lateinamerika ist das „Wir“ der Kirche ein Identitätsfaktor, ein Vollmaß an
Wahrheit und Liebe, das durch keine Ideologie ersetzt werden kann, ein Aufruf zur
Achtung der unveräußerlichen Rechte jedes Menschen und zu seiner ganzheitlichen Entwicklung,
eine Botschaft der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, eine Quelle der Einheit. Dem
Auftrag ihres Gründers verpflichtet, ist die Kirche mit denen solidarisch, die von
den Naturkatastrophen und der Armut getroffen sind, auch in den Überflussgesellschaften.
Angesichts des Exodus vieler, die aus ihrem Land wegziehen und durch Hunger, Intoleranz
und Umweltschäden in die Ferne getrieben werden, ist die Kirche eine Gegenwart, die
dazu aufruft, sich dieser Menschen anzunehmen. In einem Wort: Die Kirche verkündet
die Frohbotschaft Christi trotz der Verfolgungen, der Diskriminierungen, der Angriffe
und der zuweilen feindlichen Gleichgültigkeit. Gerade diese erlauben ihr, das Los
ihres Herrn und Meisters zu teilen. Liebe Brüder und Schwestern, was für ein großes
Geschenk ist es, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die für alle da ist!
Es ist die Gemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeit, aus deren Mitte der Emmanuel,
Jesus, der Gott-mit-uns, auf die Erde herabgestiegen ist. Lasst uns wie die Hirten
von Bethlehem voll Erstaunen und Dankbarkeit dieses Geheimnis der Liebe und des Lichtes
betrachten! Frohe Weihnachten euch allen!