„Toleranz ist Grundstein des Dialogs“ – unser Kommentar der Woche
Jede Generation hat
ihre eigenen Herausforderungen. Eine der Herausforderungen unserer Generation ist,
wie die Kulturen und Religionen im 21. Jahrhundert zusammenleben. Ein friedliches
Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Identität
ist notwendig und möglich und von größter Bedeutung für unsere gemeinsame Zukunft.
Ich glaube nicht an den „Clash of Civilizations“, den Zusammenprall der Kulturen.
Notwendig ist das Bauen einer geistigen und kulturellen Brücke, zum Beispiel über
das Mittelmeer zu den islamischen Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens, einer
Brücke, die auf gegenseitigem Verständnis und – so weit möglich – gemeinsamen Werten
beruht. Der Grundstein des interkulturellen Dialogs ist die Toleranz. Toleranz
bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern vielmehr eigene Überzeugungen zu haben und zu
vertreten, und die Überzeugungen des Anderen zu hören und zu respektieren. Dort wo
es nicht möglich ist, den anderen Standpunkt zu akzeptieren ist es gleichwohl notwendig,
den Auffassungen mit Respekt zu begegnen und sich friedlich auszutauschen, um wo immer
es geht, gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Die europäische Union setzt sich mit
Verantwortung für die Verteidigung der fundamentalen Prinzipien der Würde des Menschen
und der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechts der Freiheit und des Friedens
sowie der Solidarität innerhalb und außerhalb der Grenzen der europäischen Wertegemeinschaft
ein. Neben der Politik können und müssen auch die Kirchen eine entscheidende Rolle
in diesem Dialog wahrnehmen und wichtige Zeichen der Verständigung geben. Sie können
deutlich machen, dass die Vorstellung von einer Konfrontation zwischen Christentum
und Islam irreführend ist und dass ein Kampf der Kulturen keinesfalls zwangsläufig
droht. Nicht zwischen den Religionen verläuft die Trennlinie, sondern vielmehr zwischen
denjenigen, die sich der Achtung der Identität und der Personalität des Menschen verpflichtet
fühlen und anderen, die dies nicht tun. Ich möchte daher die Vertreter der Kirchen
ermutigen, sich nachdrücklich im interreligiösen Dialog zu engagieren, der ein wichtiger
Bestandteil des Austausches der Kulturen ist. In Europa sind Muslime zur zweitgrößten
Religionsgemeinschaft geworden. Es ist daher berechtigt zu hinterfragen, ob genug
getan wird, damit sie und Andersgläubige sich in einer mehrheitlich christlich oder
säkular geprägten Umwelt wohl fühlen. Wenn wir Toleranz gegenüber kulturellen und
religiösen Minderheiten in Europa vorleben, dann können wir auch mit Berechtigung
fordern, dass andere Länder uns dies gleichtun und christliche Minderheiten respektieren.
Dies ist bislang nicht in allen Teilen der Welt der Fall. In Saudi-Arabien etwa existiert
bis heute keine christliche Kirche, obwohl dort viele Christen vor allem als Gastarbeiter
leben. In der islamischen Welt muss es ebenso selbstverständlich sein, dass christliche
Minderheiten ihren Glauben leben und bezeugen können, wie es überwiegend für Moslems
in Europa der Fall ist. Das gilt auch in besonderer Weise für die Türkei, dass die
christlichen Minderheiten dort unbeeinträchtigt ihren Glauben leben können. Daher
setzt sich die europäische Union auch für einen interkulturellen Dialog besonders
im Nahen Osten ein. Die Würde eines Palästinensers ist die gleiche wie die eines Israelis
und umgekehrt. Daher setzt sich die Europäische Union für eine Zweistaatenlösung mit
einem sicheren Israel und einem freien und sicheren palästinensischen Staat ein. Weder
durch Gewalt von palästinensischer Seite, noch durch fortgesetzten Siedlungsbau durch
die Israelis in den palästinensischen Gebieten oder in Ostjerusalem darf diese Zweistaatenlösung
unterlaufen und damit verhindert werden. Die europäische Union muss als ehrlicher
Makler hierzu Stellung beziehen und wir sollten die Bemühungen des amerikanischen
Präsidenten, Barack Obama, für eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten nachdrücklich
unterstützen. Der Dialog der Kulturen ist nichts Abstraktes, es geht nicht um schöne
Worte. Der Dialog der Kulturen muss sich in der praktischen, politischen Wirklichkeit
bewähren. Eine dauerhafte Friedenslösung im Nahen Osten ist eine Bedingung, dass der
Dialog der Kulturen gelingt. Er ist die Voraussetzung, um in Frieden und gegenseitigem
Respekt im 21. Jahrhundert zusammenzuleben. Wir alle tragen hierfür gemeinsam Verantwortung.
Dr.
Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemaliger Präsident
des Europäischen Parlaments.