2009-11-27 18:08:09

D: Armut am Beispiel von Haiti


RealAudioMP3 Am Sonntag, dem ersten Adventssonntag, startet das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat in Bamberg seine bundesweite Weihnachtskampagne. Beispielland der „Aktion Adveniat 2009“ ist Haiti. Der kleine Karibikstaat ist das ärmste Land Amerikas. Knapp 80 Prozent der knapp 9 Millionen Einwohner müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Die Lebenserwartung liegt bei nur 53 Jahren, mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann nicht richtig lesen und schreiben. Die Abholzung von Regenwäldern, die Haiti einst bedeckten, hat weite Teile des Landes unfruchtbar gemacht. Dazu kommt die Gewalt: Von der Sklavennation vor der Unabhängigkeit über die Duvalier-Diktatur bis heute scheint ein Menschenleben dort nicht viel Wert zu sein. – Das meint nach ihrem Besuch in Haiti Ina Rottscheid.
 
„Gewissen zum Leben erwecken“
Jeden Nachmittag um 16 Uhr hält Louis Kebreau die Messe. Bis vor die Tür der kleinen Kapelle, direkt neben dem Bischofssitz stehen die Gläubigen um die Predigt zu hören. Der Erzbischof von Cap-Haïtien nimmt in seiner Predigt kein Blatt vor den Mund. Er ist schnell bei den Dingen, die die Menschen in Haiti bewegen: bei Armut, Bildung und der kommenden Hurrikan-Saison.
Kebreau will die Gläubigen aufrütteln, sagt er: „Ich versuche, das Gewissen der Leute zum Leben zu erwecken, damit sie Verantwortung tragen. Wir sind in einem Besetzten Land: Keiner sagt, wo’s langgeht, aber man merkt, dass die Gesellschaftlichen Werte verloren gehen, ohne dass wir dabei an die Zukunft denken. Die Leute müssen anfangen, sich um die Zukunft Gedanken zu machen.“
Mit den Besatzern meint der Erzbischof die internationale Gemeinschaft, allen voran die UNO-Mission MINUSTAH. Ihre Präsenz im Land sieht er kritisch, dennoch setzt er sich mit ihnen an einen Tisch und überlegt, wie man gemeinsam Haiti voranbringen kann.

Der Armuts-Rap
Auf dem Dach einer halbfertigen, nackten Betonhütte zwischen verrosteten Drahtgerippen und Schutthalden stehen die Jungs von Déprez-Pop und machen zusammen Musik. Sie alle leben in Déprez, einem Viertel von Port-au-Prince, nachdem sie sich benannt haben. Sie singen davon, hier raus zu kommen, es gemeinsam zu schaffen.
„Wir wollen irgendwann mal gerne öffentlich auftreten. Wir singen über unser Leben, über unsere Situation, über die Armut hier und das, was wir fühlen. Und das Beste, was dazu passt, ist eben der Rap.“
Für Daniel Clairche und seine Kumpel ist die Musik wie eine Flucht aus dem Alltag. Alltag in einem der zahlreichen Armenviertel, die an den Hügeln der haitianischen Hauptstadt hoch wachsen. Zwischen Dreck, beengenden Hütten, ohne Job und ohne Perspektive. In diesem Viertel lebt auch Pierre Laurent Pierre. Seit drei Jahren ist er der Obere der Montfortaner, ein Männderorden, der hier mit Hilfe von Adveniat eine Kirche und ein Pfarrhaus gebaut hat.
„Wir arbeiten hier für die Armen. Wir sind mit ihnen und helfen ihnen. Wir sind es doch, die Priester, die Kirche, die Gläubigen, die ihnen helfen können aus dieser Armut herauszukommen.“
Laurent Pierre ist der jüngste Sohn einer Familie mit elf Kindern. Er wuchs in Cap-Haïtien, im Norden Haitis, auf und er fand seine Berufung zu Beginn der 80er Jahre, die Zeit der Duvalier-Diktatur, als 10.000 Oppositionelle verfolgt und getötet wurden. Gewalt ist eine der wenigen Konstanten in der haitianischen Geschichte. Bis heute herrschen in dem Land Chaos, Korruption, und die Menschenrechte werden tag täglich mit Füßen getreten.
„Die politischen Verhältnisse bringen dieses Klima der Gewalt hervor. Wenn die Menschen eines aus der Geschichte gelernt haben, dann ist es, dass es nur ums eigene Überleben und das Recht des Stärkeren geht. Das führt zu einer Realität, in der jeder für sich alleine ist.“
Doch mit dieser Realität will sich Laurent Pierre nicht abfinden. Er und sein Orden wollen mit ihrem Leben an der Seite der Armen ein Beispiel geben für die Solidarität, die ihr Land so dringend braucht.
„Das ist doch die gute Nachricht, dass wir diese Trennung überwinden können. Diese Gemeinschaft macht uns alle doch viel Stärker. Jeder einzelne entdeckt plötzlich neue Fähigkeiten an sich. Schritt für Schritt können wir etwas ändern und so Wunder bewirken.“ Die Jugendlichen, die auf den nackten Betondächern Musik machen sind für Laurent Pierre ein Beispiel für eine solche Gemeinschaft. Und sie sind für ihn auch der Beweis, dass Haiti eben nicht nur Gewalt, Perspektivlosigkeit und Armut ist.
„Das ist Reichtum. Ein Gruppe Jugendliche, die gemeinsam über ihre Situation singen. Die fast nichts haben, aber trotzdem etwas machen. Schauen sie sich an, welche Lebensfreude sie ausstrahlen. Das macht den Reichtum unseres Landes aus.“

Menschenrechte als Optional
Zwar werden heute Oppositionelle nicht mehr systematisch verfolgt, doch Menschenrechte werden auch dort mit Füßen getreten, wo acht von zehn Bewohnern nicht wissen, was sie am nächsten Tag essen sollen, sagt Jean-Pierre Hanssens.
„Nehmen wir einmal die sozioökonomischen Rechte. Zum Beispiel das Recht auf Bildung, auf Arbeit, auf menschenwürdiges Wohnen, auf sanitäre Einrichtungen oder Gesundheitsversorgung. Dann sind die Menschenrechtsverletzungen hier schon ziemlich massiv und ziemlich offensichtlich.“
Der belgische Missionar leitet die kirchliche Kommission für Gerechtigkeit und Frieden „Justitia et Pax“, die Menschenrechtsverletzungen in dem Land dokumentiert und öffentlich macht. Seit 1973 lebt Per Hanssens in Haiti und er weiß: Die tägliche Gewalt in seinem Land ist eine Folge der Armut, des unfähigen Staates und der Ansicht vieler Menschen, dass Politik offenbar nur der Selbstbereicherung einer kleinen Elite dient. In dieser Situation will Kirche die verlässliche und glaubwürdige Instanz sein.
„Auf der anderen Seite bewundere ich diese Menschen hier auch, die sich trotz der Armut nicht entmutigen lassen und weitermachen. Ich bin selbst manchmal fassungslos, wie weit sich die politischen Eliten von ihrem Volk entfernt haben. Aber dafür liebe ich dieses Land. Weil diese Menschen weiterkämpfen. Das ist bewundernswert und das ist auch die Geschichte dieses Landes.“

„Wir können das“
Eigentlich sind es nur 140 Kilometer von Port-au-Prince bis in das Bistum Anse-à-Veau et Miragoâne im Südwesten des Landes. Doch manchmal ist der Bischof stundenlang unterwegs. Gerade hat ein Schlagloch das zweite Auto an diesem Tag zur Strecke gebracht. Der Fahrer hängt mit Kopf über in der Motorhaube. Aber Bischof Pierre-André Dumas steht unaufgeregt am Straßenrand und telefoniert die umliegenden Gemeinden nach Hilfe ab. Alltag in einem Land, in dem es nur eine Ampelanlage gibt, das mittlerweile jedes Jahr von Wirbelstürmen heimgesucht wird und wo man offenbar vor den Schäden und der Zerstörungswut der Wassermassen resigniert hat.
Nach zwei Stunden kommt endlich ein befreundeter Priester aus der Nachbargemeinde und bringt den Bischof nach Hause. Auch dieses Auto ist im Belastungstest. Die letzten 20 Kilometer geht es nur noch über Schotterpisten, linige Pfade und durch Flussbette. Die Strecke ist wie ein Sinnbild für den Zustand Haitis.
„Diese Region hier ist ziemlich vernachlässigt. Die Regierung macht hier schon lange nichts mehr. Wir hoffen, dass mit dem neuen Bistum auch neue Vitalität hier einkehrt und dass sich die Regierung endlich an ihre Pflichten erinnert. Darum sind wir doch da.“
Die Diözese Anse-à-Veau et Miragoâne mit ihren 18 Gemeinden wurde erst im Juli 2008 gegründet. Mit Unterstützung von Adveniat wurde der Bischofssitz ausgebaut, die Kathedrale renoviert und Sturmschäden behoben. Und die Errichtung des neuen Bistums hat nicht nur spirituelle Gründe, sie soll Signalwirkung haben, sagt Dumas. „Wir wollen den Menschen hier zeigen, wie sie die Energie, die Gott ihnen gegeben hat, wieder finden. Wir können die Resignation, die Verzweiflung bekämpfen. Sie sollen sehen: Wir sind in der Lage, etwas zu verändern. Wir können das.“

(adveniat 26.11.2009 bp)










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