2009-11-11 10:40:12

Hans Magnus Enzensberger – ein Gespräch


RealAudioMP3 Er ist vielleicht Deutschlands einziges Universalgenie: Der deutsche Schriftsteller und Intellektuelle Hans Magnus Enzensberger wurde an diesem Mittwoch 80 Jahre alt. Aus diesem Anlaß veröffentlichen wir hier ein Gespräch, das unser Mitarbeiter Aldo Parmeggiani vor fünf Jahren, zu Enzensbergers 75. Geburtstag, mit ihm geführt hat.

Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren als Sohn eines Postbeamten geboren und wuchs in Nürnberg auf. 1955 promovierte er 'Über das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk' zum Dr.phil. Enzensberger wurde Mitglied der legendären 'Gruppe 47' und begründete die kritische Zeitschrift 'Kursbuch', die für die sogenannte 'progressive Intelligenz' ab 1968 ein meinungsbildendes Forum darstellte. Lange zeichnete er als dessen Herausgeber verantwortlich. Hans Magnus Enzensberger ist nach Beobachtermeinung seit fünf Jahrzehnten als Lyriker präsent, als Essayist meinungsbildend, als Intellektueller fesselnd, provozierend und zugleich überraschend geblieben. Auch außerhalb Deutschlands stößt der Gelehrte auf bedeutende Resonanz.
Wenige deutsche Schriftsteller haben sich so intensiv mit den Symptomen unserer Zeit befaßt, wie Sie, Herr Enzensberger: Haben Sie als Zeitzeuge eine Definition unserer Zeit?
Es gibt einen großen deutschen Autor namens Walter Benjamin, der gesagt hat: Definitionen sind für mich unfruchtbar. Ich möchte mich also nicht festlegen. Wissen Sie, ich bin eigentlich ein bescheidener Autor, in dem Sinne, dass ich mir allzu große Schuhe nicht gerne anziehe.
Gut, aber Sie sind dennoch so etwas wie ein Botschafter der Weltliteratur: was würden Sie als den roten Faden bezeichnen, der durch den Kanon der modernen Literatur zieht?
Da muss man vielleicht ein bisschen unterscheiden bei dieser Moderne: es gibt eine Moderne, die könnte man datieren auf das Jahr 1910, wo sehr viele große Brüche in der Tradition stattgefunden haben und wo auch viel Neues zum Vorschein gekommen ist. Aber inzwischen ist diese Moderne ja selbst gealtert und zeigt Ermüdungserscheinungen. Ich habe mich nie an die Vorschriften der Avantgarde halten wollen, weil ich sie als beengend empfinde. Ich denke, wir müssen ein neues Verhältnis zur Tradition wieder gewinnen.
Einem deutschen Intellektuellen muss man die Frage stellen: Gibt es eine Kollektivschuld?
Mit diesem Begriff ist, glaube ich, viel Unheil gestiftet worden. Ich würde es so ausdrücken: es gibt so etwas wie eine kollektive Verantwortung. Das heißt, eine Gesellschaft trägt ja viele Erbschaften mit sich. Und unter diesen Erbschaften gibt es viel Gutes und viel Schlimmes. Und man muss beides schultern, möchte ich sagen. Man darf nicht nichts davon einfach versuchen wegzulassen, das geht nicht. Jüngere Leute fragen sich - ja, was habe ich mit dieser ganzen Geschichte zu tun, ich war damals noch nicht einmal geboren? Ich erkläre diesen jungen Menschen, dass sie ja auch Gebrauch machen, sagen wir, von einem Autobahnnetz, das sie geerbt haben. Von Eisenbahnen, von Häusern. Alles, ihre gesamte zivilisatorische Umgebung ist ja etwas, was sie nicht selbst geschaffen, sondern was sie ererbt haben. Und genau so gut, wie sie das Gute übernehmen, müssen sie auch die Lasten der Vergangenheit übernehmen. Das sehen die meisten dieser jungen Menschen auch ein.
Wo liegt der Unterschied zwischen moralischer, politischer und metaphysischer Schuld?
Das ist keine leichte Frage. Am einfachsten ist sie vielleicht doch zu beantworten, was die persönliche Schuld betrifft. Die persönliche, moralische Schuld. Denn ich glaube, da hat unsere Tradition etwas erfunden, kann man vielleicht sagen, das wir das Gewissen nennen. Das gab es ja nicht zu allen Zeiten und auch nicht in allen Gesellschaften. Das ist wahrscheinlich eine Folge des Christentums, will ich vermuten. Dieses Bewußtsein eigener Schuld trägt dann ja jeder mit sich und muss damit umgehen. Vuiel schwieriger wird das, wenn es sich um kollektive Schuld handelt und kollektive Verstöße gegen die Moral. Und am allerschwierigsten wird es dann in der Politik. Denn die Politik ist sicherlich kein moralischer Raum. Das haben ja schon die größten Denker des Abendlandes herausgefunden - von Plato bis Macchiavelli - man kann wahrscheinlich in diesem politischen Sinn nicht ganz schuldlos handeln. Der Politiker ist oft gezwungen zu lügen, er muss Kompromisse eingehen, die nicht immer sauber sind. Die moralischen Pflichten eines Politikers sehen, glaube ich etwas anders aus und ich bin nicht der Mann, der Ihnen eine Rezept mitgeben kann, manchmal bedaure ich diese Leute sogar.
Deutschland ist heute nicht mehr die wirtschaftliche Nr.1 in Europa: Befindet sich das Land auch kulturell in der Abstiegsliga?
Das muss man, glaube ich, gelassener sehen. Denn, erstens gibt es da keine genaue Messlatte. Wissen Sie: ökonomische Zahlen, die können Sie bequem vergleichen. Das ist in der Kultur ganz anders: die Kultur ist schwer messbar, wird auch von den eigenen Zeitgenossen oft gar nicht richtig eingeschätzt. Wir haben viele Beispiele in der Geschichte: erst nach langer Zeit, nach hundert Jahren, nach dem Tod eines Autors kann sich herausstellen, dass er zu den größten gehört. Die Kultur ist eigensinnig und widerspenstig in ihrem Verhalten und deswegen gibt es immer wieder Zeiten der Fruchtbarkeit und Zeiten der Dürre.
In dem legendären Kursbuch Nr.15 aus dem Jahre 1968 ist die Rede vom Tod der Kunst, vom Tod der Literatur. Wie sehen Sie das heute? Läßt sich die Welt überhaupt poetisieren?
Also dazu muss man sagen: diese Rede vom Tod der Literatur ist weiß Gott nicht meine Erfindung. Wenn Sie meinem Beitrag in diesem berühmten Heft lesen, dann werden Sie sehen, dass ich mich da sehr nuanciert darüber geäußert habe. Es ist im übrigen so, dass der Tod der Kunst eine sehr alte Metapher ist. Und man muss sagen, dass die Literatur diese Untergangs-Methapher bisher immer überlebt hat.
In den berühmt-berüchtigeten 70ger Jahren ist das Unbehagen der deutschen 'Intellighentia' auf die Gesellschaft übergegangen. Wäre eine 68er Revolution dieser Art heute denkbar?
Ja, da muss man vielleicht auch ein bisschen einschränken. Ob das eine Revolution war, steht ja noch dahin. Es hatte ja auch sehr viele theatralische Seiten. Es ging ja nicht nur um Machtfragen. Man hat gelegentlich den Ausdruck Kulturrevolution benutzt. Und das kommt der Sache vielleicht schon ein bisschen näher. Denn die Verkehrsformen, die ganzen Denkgewohnheiten, die ganzen Sitten waren in den frühen Jahren der Bundesrepublik ja rückständig. Da schleppte man sehr viele alte Motive mit sich, autoritäre Motive und die des Obrigkeitsstaates bis hinein in alle Institutionen an den Universitäten und in den Schulen. Und diese Verkehrsformen waren einfach nicht haltbar, die waren überständig. Und deswegen bedurfte es eines gewaltigen Schubs, um diese Restbestände loszuwerden. Das ganze kann man wahrscheinlich als Niederlage sehen, ich ziehe es vor, es als eine produktive Zeit zu betrachten. Denn wenn Sie heute sehen, wie - sagen wir - ein Lehrer mit seinen Schülern umgeht, oder ein Arzt mit dem Patienten, ein Chef mit seinen Untergebenen, ein Polizist mit dem Bürger auf der Strasse, dann werden Sie sehen: da hat sich vieles zum Besseren geändert. Und das ist nicht zuletzt ein Verdienst dieser Bewegung, die ja auch gar nicht auf Deutschland beschränkt war.
In Deutschland und in Europa leben heute durch Zuwanderung Kulturen miteinander, in denen nicht immer die gleichen Wertvorstellungen herrschen: Wie geht eine demokratische Gesellschaft mit diesen Differenzen um?
Ja, wissen Sie, diese ganze Wanderbewegung wird ganz sicherlich nicht ganz konfliktfrei ablaufen. Es gibt da ja zwei diametral entgegengesetzte Einstellungen dazu: die eine kann man als Xenophobie betrachten - also am liebsten überhaupt keine Zuwanderung - auf der anderen Seite gibt es eine gewisse Verharmlosungs-Tendenz, ein Schwärmen für die multikulturelle Gesellschaft, als wäre das alles eitel Freude. Ich glaube, diese beiden Haltungen sind beide falsch. Das sind komplizierte Lernsprozesse, die sich da abspielen und die auch gar nicht konfliktfrei ablaufen können. Denn dazu sind die kulturellen Differenzen und auch die moralischen Einstellungen viel zu verschieden. Ich sehe langjährige Auseinandersetzungen bevorstehen und man muss eben versuchen sie - und dazu hat die Demokratie immerhin einige Voraussetzungen - sie durch einen ständigen Austausch der Meinungen, durch eine ständige Reibung auch - ich will das gar nicht verharmlosen - in den Griff zu bekommen.
Kommen wir zu Ihrer Persönlichkeit: Sie haben in lyrischer Form Sozialkritik geübt. Kann man Sie als einen kritischen Dichter oder dichtenden Kritiker bezeichnen?
Der Schwerpunkt meiner literarischen Arbeit ist sicherlich die Poesie. Die Gedichte sind das, was mir am meisten am Herzen liegt. Man könnte das in der Gestalt eines konzentrischen Kreises beschreiben, in dessen Mittelpunkt sich die Lyrik befindet. Und daran schließen sich alle anderen formalen Möglichkeiten der Schriftstellerei an: der Essay, das Theater, ein Opernlibretto, die Übersetzung, die Herausgebertätigkeit, all das schließt sich dann in immer weiteren Ringen um dieses Zentrum an. Ich finde diese Mehrseitigkeit eigentlich sehr angenehm, denn man kann sich ja schwer jemand vorstellen, der tagaus-tagein Gedichte schreibt, der sich um neun Uhr morgens an den Schreibtisch setzt und dann bis fünf Uhr nachmittags dichtet. Das ist ja kaum vorstellbar. Also ich drücke da so aus: wir sind ja beidhändige Wesen, also ich habe eine rechte Hand und dann habe ich aber immer noch eine Hand frei, um andere Dinge zu tun.
Biographen haben Sie als bürgerlichen Anarchisten, als radikalen Liberalen bezeichnet. Wie würden Sie sich selbst bezeichnen?
Wissen Sie, mit diesen Zuschreibungen ist das so eine Sache.....(lacht). Es steht ja jedem frei, einen, der sich durch seine Publikationen öffentlich zeigt, zu beurteilen. Das ist ein Spiel, an dem ich mich aus vielen Gründen am liebsten gar nicht beteilige. Das hat ja auch seinen Grund: wir wissen alle, dass die Aufforderung: 'Erkenne Dich selbst' auch eine Problematk in sich trägt. Ich meine, wer ist denn schon in der Lage, sich selbst vorurteilsfrei, objektiv zu sehen? An diese Möglichkeit glaube ich nicht. Und deshalb überlasse ich es am liebsten anderen zu beurteilen, was sie da sehen.......
Sie haben Ihre Doktorarbeit über Clemens Brentano geschrieben: einem Dichter, der auf der Höhe seines Lebens und Wirkens sich zum katholischen Glauben bekehrt hat. Welchen Stellenwert nimmt die Konversion Brentanos in Ihrer Arbeit ein? Meine Arbeit über Brentano hatte eigentlich mehr mit den technischen und formalen Seiten seiner Poesie zu tun. Ich hatte damals gefunden, dass Brentano Möglichkeiten der Lyrik entdeckt hat, die bisher unzureichend gesehen worden sind und die in mancher Hinsicht in die Moderne vorausweisen. Also Techniken, die für mich selbst von Bedeutung waren. Es war mehr eine Arbeit über die Poetik und nicht über die Weltanschauung von Brentano.
Stichwort Weltanschauung: Sie haben vieles in Frage gestellt - sich selbst eingeschlossen. Einen Dichter darf man wohl die Gretchenfrage stellen: Und wie steht es mit der Religion?
Ich würde mich als einen katholischen Agnostiker bezeichnen. Oder einen agnostischen Katholiken. Wobei der katholische Anteil ja ein Teil meiner Herkunft ist, meiner Überlieferung, das, was ich mitbringe. Man kommt zwar nackt auf die Welt, aber man lebt ja in einem Kontext von Familie, von Geschichte, von Nationalität, von Dialekt, von Herkunft mit einem Wort. Und da ich aus einer katholischen Familie komme, bin ich in einem gewissen Sinne katholisch sozialisiert. Mich hat der Katholizismus auch immer interessiert, ich habe mich eine Zeit lang auch mit theologischen Fragen beschäftigt. Aber zum wahren Christen - um jetzt von der Konfession auf den Grund der Sache zu kommen - fehlt mir wahrscheinlich der Glaube. Der Glaube, im Sinne einer Art der Gewissheit. Denn der wahre Christ ist sich seiner Sache doch ziemlich sicher. Das sollte er jedenfalls sein. Und das ist bei mir nicht der Fall. Das heißt, ich bin der Meinung, dass es Fragen gibt, die wir selbst nicht beantworten können. Darunter all diese Fragen, die die Religion aufwirft und zu beantworten sucht. Zum Beispiel die Frage, was geschieht nach dem Tode? Was muss man unter einer höheren Macht verstehen? Mein Eindruck ist der, dass unsere bescheidenen Fähigkeiten nicht ausreichen, um solche Fragen zu beantworten.
Sie betrachten sich als katholischen Agnostiker: ich meine, das wären doch zwei Gegensätze. Agnostizismus bedeutet doch, dass metaphysische Fragen keine Antwort finden können - während die Religion doch immer wieder auf Fragen eine Antwort sucht?
Ja, ich bin aber in einer Position die zwischen diesen beiden Möglichkeiten liegt. Ich bin ja kein Atheist. Ein Atheist weiß Bescheid: er glaubt zum Beispiel zu wissen, dass es keinen Gott gibt. Das glaubt ein Atheist zu wissen. Aber diese atheistische Gewissheit bringe ich ebenso wenig auf, wie die Gewissheit, die der Katechismus einfordert. Verstehen Sie? Ich halte mich an das Wort von Goethe: Man soll das Unerforschliche ruhig verehren. Jedenfalls die Vorstellung, dass es keine höhere Macht gibt als unsere eigene, scheint mir auch sehr verwegen.
Würden Sie gerne einmal mit Kardinal Ratzinger, dem Hüter und Wächter des katholischen Glaubens, über diese Fragen sprechen? Etwa in einem geistigen Streitgespräch in der Katholischen Akademie in Bayern?
Ja, das weiß ich nicht, ob man das in der Öffentlichlkeit halten soll. Sicherlich hat der Herr Kardinal andere und viel dringendere Aufgaben vor sich. Ich verfolge natürlich das was er sagt. Ich habe einiges von ihm gelesen und ich finde, er ist wirklich eine Leuchte. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass er Zeit findet für solche Unterhaltungen. Wissen Sie, ich bin auch ein bisschen öffentlichkeitsscheu und fühle mich dieser Sache gar nicht gewachsen. Aber jedenfalls würde ich Kardinal Ratzinger mit Freude in irgend einem Zusammenhang begegnen. Nun müßte man sehen, ob er überhaupt ein Interesse an den Meinungen eines Schriftstellers hat.....
Ein solches Gespräch würde weit über eine Unterhaltung hinausgehen und in den Bereich der Belehrung oder wenigstens Bereicherung fallen - und zwar auf beiden Seiten - denke ich.........
Ja, ja ich könnte mir schon vorstellen, dass es sehr interessant wäre, wenn ich auch der Subtilität seines theologischen Denkers nicht gewachsen wäre. Das muss man aber in Kauf nehmen.
Darüber würde das potentielle Streitgespräch selbst, Herr Enzensberger, am besten entscheiden. Ihre geistige Unabhängigkeit wurde vielfach gerühmt: wann, oder ab wann ist man eigentlich unabhängig?
Die Unabhängigkeit, auf die ich angewiesen bin, ist vielleicht eher zunächst eine Unabhängigkeit von sozialen Zwängen. Ich brauche einen gewissen Freiraum, ich kann mich nicht an eine Partei anschließen, ich bin eigentlich ungern Mitgleid von irgendwelchen Vereinigungen. Ich habe das Privileg, dass ich keinen Vorgesetzten habe und keine Untergebenen. Also in der Hinsicht kann man von Unabhängigkeit vielleicht sprechen. Die geistige Unabhängigkeit? Vielleicht ist das sogar ein Widerspruch in sich. Denn man kann doch nicht behaupten, dass man unabhängig von seiner eigenen Kultur ist. Das schiene mir vermessen. Ich komme auch aus einer Tradition, von der ich mich gar nicht verabschieden möchte. Natürlich muss man sich eine Tradition auch selbst wiederum herstellen, sie ist auch nicht etwas, was sich fertig darbietet. Man muss wählen, man muss mit ihr umzugehen wissen, also in diesem Sinne wäre Unabhängigkeit unsinnig, aber als Schriftsteller muss man sich einen gewissen Freiraum schaffen, aber eher in politischer und sozialer Hinsicht.
Es gibt Menschen, denen in Ihrem Werk auch religiöse Züge auffallen, die sie sogar als Mystiker bezeichnen und in ihrer Gesellschaftskritik den uralten Dualismus zwischen Materie und Geist erkennen. Wo würden Sie ihre Dichtung theologisch, wo mystisch bezeichnen?
Ja, wissen Sie, ich denke die Poesie ist in gewisser Hinsicht ein Omnivore - also ein Allesfresser - es gibt ja kein Thema, das in der Poesie keine Rolle spielen könnte oder dürfte. Angefangen von den alltäglichsten Dingen - der Liebe, Natur, Politik. Und genausowenig wie man diese Dinge ausschließen kann, genausowenig kann man das religiöse Bedürfnis des Menschen ausschließen. Das schiene mir ganz abwegig. Ich meine, es gab einmal die europäische Aufklärung: Man hat sich - jedenfalls in ihren schwächeren Geistern - der Illusion hingegeben, als wäre die Religion erledigt, als könne man mit ihr fertigwerden. Man könnte sie sozusagen liquidieren, als Aberglauben aus der Welt verbannen. Es hat sich herausgestellt - und das wissen wir heute alle - dass dem nicht so ist. Die Religion ist nach wie vor eine Sache, die in der Menschheit sehr lebendig ist. Im Guten und im Bösen auch. Wie man an den Fanatikern sieht. Also ist sie etwas, was in unserm Leben vorhanden ist und alles, was in unserem Leben vorhanden ist, muss auch in der Dichtung eine Rolle spielen. Insofern ist es gar kein Wunder, dass solche Motive auftauchen.
Eines haben Sie mit Papst Johannes Paul II. gemeinsam: sowohl das Kirchenoberhaupt als auch Sie haben Kuba besucht und dabei sozialpolitische Ordnung angemahnt. Ihr Theaterstück 'Verhör in Habana' kann auch als Lehrstück aufgefasst werden und könnte auch vom Papst geschrieben sein: hier werden die Oberen erniedrigt und die Unteren erhöht. Die Entrechteten vergeben ihren Schuldigern. Ein zutiefst eschatologisches Werk. Ist es auch religiös?
Es überrascht mich ein wenig, was Sie sagen: Es ging in erster Linie um eine politische Angelegenheit. Damals war in Kuba noch soviel freie Luft, dass der seltene Fall eingeteten ist, dass eine siegreiche Macht den Unterlegenen die Möglichkeit eingeräumt hat, sich öffentlich zu verteidigen. In einer offenen Diskussion. Das fand ich ziemlich eindrucksvoll. Es hat sich bei dieser Gelegenheit herausgestellt, dass diese Invasoren in jeder Hinsicht - nicht nur politisch, sondern auch moralisch - in einer sehr schlechten Position waren. Sie konnten sich zwar verteidigen, aber ihre Ansichten sprachen gegen sie selber. Insofern war es - wie Sie richtig sagen - eine Art Lehrstück. Leider hat sich das kubanische Regime in der Folge immer enger entwickelt und diese Art von offener Auseinandersetzung - wie sie damals stattgefunden hat - das war im Jahre 1962 - wäre heute in Kuba - fürchte ich - nicht mehr denkbar. Ich bin auch weit davon entfernt, das Regime von Fidel Castro in irgend einer Weise zu loben.
In Ihren jüngsten lyrischen Werken kann nicht übersehen werden, dass Hans-Magnus Enzensberger sich zunehmend mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens befasst. Und auch das religiöse Thema ist nicht mehr zu übersehen. Kann Ihr Geöffnetsein für letzte Dinge und letzte Fragen als Weg hin zum Christentum, zum Glauben interpretiert werden?
Jeder, der die Geschichte der Dichtung kennt, der weiß, dass diese Themen immer zum Grundbestand der Dichtung gehört haben. Man braucht dabei gar nicht an christliche Dichter wie Dante zu denken, sondern es taucht auch bei Ungläubigen immer wieder auf. Die Endlichkeit, die Unendlichkezit, die Vanitas-Vorstellungen, das ist etwas, was sicherlich der Mensch in irgendeiner Weise erfährt. Wir sind ja das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird. Es mag ja auch sein, dass dabei die Tatsache eine Rolle spielt, wenn man nicht mehr zwanzig ist....mit 20 scheint es unwahrscheinlich, dass das Leben ein Ende hat. Aber mit zunehmenden Alter rückt diese Einsicht einem ja näher auf den Leib. Insofern ist es eine ganz natürliche Regung, die man mit anderen Menschen teilt. Und der Dichter ist ja auch nicht jemand der im existentiellen Sinn sich von den anderen Menschen unterscheidet. Er hat eben vielleicht nur die Möglichkeit, etwas zu formulieren, was andere in sich verschließen.
Mit 75 Jahren kann man nicht nur besser die Vergangenheit beurteilen, sondern auch den Bogen der Erfahrung, der Weisheit, weiter in die Zukunft ausspannen: Was sehen Sie, wenn Sie in die Zukunft schauen?
Hmm, wieder eine Frage......Sie lieben es, große Fragen zu stellen.....
Weil ich weiß, dass ich von Ihnen große Antworten bekommen kann.
Das weiß ich nicht, ob ich die liefern kann. Auch hier gibt es immer wieder Leute, die Technokraten zum Beispiel, gewisse Wissenschaftler, die glauben ja immer noch an die Utopie auf Erden. Also: es wird alles wunderbar sein, wir werden unendliche Mengen von Energie haben, wir können den Menschen verbessern, auf genetische oder irgend eine andere Weise, unsere Maschinen werden immer besser. Also, die sehen das Paradies auf Erden, in Reichweite. Das ist die eine Seite. Der Dummheit, möchte ich sagen. Die andere Seite ist die der weltlichen Apokalyptiker, ich nenne es mal so, die Leute, die eben nichts als Katastrophen vorhersehen wollen. Das ist eine Kassandra-Rolle, die manchmal auch nützlich sein kann. Aber im Großen und Ganzen ist sie auch sehr einseitig. Da komme ich auf die Begrenztheit unseres Vermögens zurück. Unsere Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen als Spezies, das hat sich als äußerst begrenzt erwiesen. Prognosen, die vor 50 oder 100 Jahren erstellt wurden, haben sich immer wieder als lächerlich erwiesen. Also man muss mit dem Unvorhergesehenen, mit dem Unvorhersehbaren sogar rechnen. Mir scheint eines ganz klar: Dass diese Menschheit sich in einer offenen Partie befindet, deren Ausgang zu wissen uns einfach nicht gegeben ist.
Vielen Dank!

Aldo Parmeggiani, Rom







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