20 Jahre Mauerfall: Verdienste „christlicher Aktivisten“
„Urbi et Gorbi“. So
überschreibt der Journalist Joachim Jauer seinen persönlichen Rückblick auf die umstürzenden
Ereignisse 1989. 20 Jahre nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs
betont der langjährige ZDF-Korrespondent für Ost-Berlin und Osteuropa, sein Nachdenken
sei „keine verklärende Rückschau, sondern noch immer Staunen über diesen einmaligen
Gang der Geschichte“. Christen waren für ihn „Wegbereiter der Wende“, das zeitgleiche
Auftreten von Michail Gorbatschow und Karol Wojtyla auf der Weltbühne mutet für Joachim
Jauer „wie ein Wunder an“. Birgit Pottler hat zum Mauerfall-Jubiläum mit dem Journalist
und Autor gesprochen. Joachim Jauers Büro lag 1989 in Wien. Rechtzeitig
habe er es nach 20 Jahren innerdeutscher Arbeit „für Drüben“ geschafft, als Korrespondent
für ganz Osteuropa die Auswirkungen von Gorbatschows Programm „Glasnost und Perestrojka“
in den Ländern des Warschauer Pakts zu beobachten.
„Das wahrscheinlich wichtigste
Erlebnis war für mich der 2. Mai 1989, als ich vom Außenministerium der Volksrepublik
Ungarn überraschend gebeten wurde, mich morgens um acht an der österreich-ungarischen
Grenze einzufinden. In einer Zwergschule fand eine Pressekonferenz statt, wo Spitzen
des ungarischen Militärs den versammelten Journalisten einfach mitteilten, man hätte
kein Geld, um den verrosteten Eisernen Vorhang zu reparieren. Er werde abgerissen
und die Bevölkerung werde aufgerufen, dabei mitzuhelfen.“ Aufgewachsen ist
Joachim Jauer, geboren 1940, in der Berliner Wollankstraße. Ab 1945 verlief hier die
Zonengrenze, 1961 wurde die Straße zugemauert. Die Monate von Aufbruch und Wende 1989
waren für Jauer also nicht nur Nachrichten-Stoff.
„Nun plötzlich stand
ich zwischen den rostigen Stacheldrahtwänden im Frühjahrsregen und sah wie links und
rechts neben mir Soldaten der ungarischen Armee mit großen Bolzenschneidern den Stacheldraht
entfernten also den Eisernen Vorhang abbauten. Ich habe damals, spontan, weil wir
nur sehr kurze Drehzeit hatten, sehr schnell formuliert, und es war der wohl folgenreichste
Satz meiner journalistischen Laufbahn: Heute endet hier die 40 Jahre alte Teilung
Europas in Ost und West. Und das wird, so sagte ich, unabsehbare Folgen haben für
Europa, für Deutschland und insbesondere für die Deutsche Demokratische Republik.
Kein Wunder: Ein paar Wochen später war Budapest voll von Rucksacktouristen aus der
DDR.“ Ungarn habe als erstes gespürt, „dass die Menschen das alte System satt
haben“. „Hier setzt sich etwas in Bewegung, was nicht mehr aufzuhalten ist“, fasst
Jauer seine Ahnung vom Frühsommer 1989 zusammen. „Dass das später in den Mauerfall
dieser Form am 9. November mündete, habe ich natürlich nicht gewusst.“
Das
Thema Reisefreiheit und Familienzusammenführung war jahrzehntelang einer der zentralen
Konfliktpunkte zwischen Bonn und Berlin, Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen
der Bürger in den Monaten vor dem Mauerfall. In seiner Zeittafel des Aufbruchs Ost
geht Jauer weiter zurück. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa,
die Unterzeichnung der Schlussakte mit Vereinbarungen über die Menschenrechte am 1.
August 1975 nennt Jauer auch in seinem Buch als ersten Punkt. 1973 wurde die DDR in
die UNO aufgenommen. Damit konnten sich auch DDR-Bürger auf die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte berufen, um legal das Land zu verlassen. Die Teilnehmerstaaten
der 1975er KSZE-Konferenz in Helsinki verpflichteten sich, Anträge auf Familienzusammenführung
über die Blockgrenzen hinweg „so zügig wie möglich“ zu behandeln und „schrittweise
die Verfahren für die Aus- und Einreise zu vereinfachen und flexibel zu handhaben“.
Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki machte der Ostblock Zugeständnisse.
„Der
KSZE-Prozess hat für Bürger in diesen Ländern eine wesentliche Möglichkeit eröffnet,
auf ihre Menschenrechte zu pochen. In der DDR war insbesondere für die Menschen spürbar
das Menschenrecht der Reise und der Ausreise verletzt. Das begann langsam. Ich war
damals ja auch Korrespondent in der DDR, und es sind viele Menschen in unser ZDF-Büro
in Ostberlin gekommen und haben nach einer solchen Ausreise gefragt. Es war natürlich
nicht meine Aufgabe, sie zu beraten, aber trotz der Wanzen überall haben wir uns auf
Zetteln darüber verständigt, oder ich habe sie in die Ständige Vertretung der BRD
gebeten. Nach einer gewissen Zeit hörte das auf, da die Ständige Vertretung von Staatssicherheit
belagert war. Aber: Die Leute haben ab 1975 in steigendem Ausmaß auf die Rechte der
KSZE, Korb 3, gepocht.“ Die KSZE-Schlussakte war in drei so genannte Körbe
gegliedert: ein Prinzipienkatalog, Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in Bereichen
wie Wirtschaft, Wissenschaft und Technik und drittens die Zusammenarbeit in humanitären
Fragen. Korb 3 wurde Grundlage für Dissidenten und die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen,
darunter die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, und trug damit zum Zusammenbruch des
Ostblocks bei, war sozusagen ein erster Baustein für das neue Europa.
Öffentlich
bemerkbar machten sich oppositionelle Gruppen erst in der zweiten Hälfte der 80er
Jahre, „fast ausschließlich unter dem Dach der Kirchen“, so Jauer. Kirchen waren offen
für Veranstaltungen, für Auftritte von Schriftstellern und Liedermachern, die im staatlichen
Bereich so nicht möglich waren. Jauer lobt hier vor allem die Verdienste der evangelischen
Kirche.
„Das zweite Verdienst der evangelischen Kirche war, dass sie auf
ihren Synoden die Tabus des DDR-Alltags öffentlich benannt hat: Erziehung zum Hass,
vormilitärische Ausbildung, Ausreise, Flucht usw. Wir haben das als Fernsehkorrespondenten
aufgezeichnet und vom Westen aus zurück in die DDR überallhin verbreitet. Das dritte
Verdienst war: Auf den Synoden wurde demokratisch diskutiert. Es traten Kandidaten
gegeneinander und es wurde geheim gewählt. Das war im Kleinen praktizierte Demokratie
und so ist es zu erklären, dass so viele evangelische Pfarrer im Verlauf der Wende
und nach der Wende an Runden Tischen saßen und später in die Politik gegangen sind.“ Die
Mauer fiel im November 1989, der Vorhang begann einige Monate zuvor zu reißen, doch
der Umsturz begann ein Jahrzehnt zuvor. Journalist Jauer erinnert nicht nur an den
Besuch Johannes Pauls II. in Polen und die Solidarnosc-Bewegung sondern auch an den
– wie er sagt – „prophetischen Appell“ bei der Amtseinführung 1978; einen „bis heute
frappierenden Satz“:
„Habt keine Angst, öffnet die Grenzen der Staaten und
Gesellschaftsordnungen für Christus und seine rettende Macht und damit für die Freiheit.
Dieser Satz, den wir damals möglicherweise zur Kenntnis genommen haben, aber wahrscheinlich
für einen sehr wunderbaren aber illusionären bis utopischen Satz gehalten haben, dieser
Satz hat sich zehn, elf Jahre später verwirklicht.“ Jauer spricht von einem
Wunder: Der polnische Papst habe Menschen zum Abschied vom Kommunismus angestiftet,
der sowjetische Generalsekretär habe das geduldet. Der eine habe die Wende angestoßen,
der andere sie zugelassen. Getroffen haben sich die beiden erstmals am 1. Dezember
1989. Jauer sagt nach vielen Gesprächen mit Experten und Vertrauten:
„Gorbatschow
hatte darauf bestanden, dass dieses Treffen unter vier Augen stattfand. Der Papst
hat dafür eigens als alter Herr seine Russisch-Kenntnisse wieder aufpoliert, damit
er mit ihm wirklich reden konnte. Beide mögen sich getroffen haben in dem Austausch
ihrer Erfahrungen in der Zeit des Kommunismus: Johannes Paul II., der unter den Nazis
als junger Mann hatte Zwangsarbeit leisten müssen und später als Priester und Bischof
von Krakau sich mit den Kommunisten herumschlagen musste, auf der einen Seite und
Gorbatschow auf der anderen Seite, der darauf hinweisen konnte oder es vielleicht
getan hat – wir wissen ja nicht, was sie miteinander gesprochen haben – dass Schwiegervater
und Großvater durchaus die Repressalien des Stalinismus hatten erdulden müssen.“ Auch
inhaltlich unterstreicht Jauer Anknüpfungspunkte:
„Johannes Paul II. war
angetreten, in den Ländern des Kommunismus ,Wandel durch Wahrheit’ zu schaffen. Der
Begriff der Wahrheit war für ihn sehr sehr wichtig; ,Wandel durch Wahrheit’ also.
Gorbatschow hatte vor seinem Besuch bei Johannes Paul auf das Monopol der Wahrheit
durch die Kommunisten öffentlich verzichtet. Gorbatschow hatte zudem die Formel ,Glasnost
und Perestrojka“, was man auch übersetzen kann mit „Wahrheit und Wandel“. Diese Begriffspaare
sind zwar nicht deckungsgleich – ,Wandel durch Wahrheit’ und ,Wahrheit und Wandel’
– , aber es sind offenbar Schnittmengen da, über die sich die beiden Herren sehr einverständig
haben zusammensetzen können.“ Nach der Wende entwickelten Gorbatschow und
Johannes Paul II. ein freundschaftliches Verhältnis. Dass der ehemalige Machthaber
der Sowjetunion 1990 den Friedensnobelpreis erhielt und der polnische Papst nicht,
hält Jauer nicht für öffentliche Zurückhaltung gegenüber dem Kirchenoberhaupt. Vielmehr
sei mit Gorbatschow der Gesamtvorgang ausgezeichnet worden.
Kritik übt Joachim
Jauer am „Erinnerungsmarathon“ der vergangenen Wochen. Nationale Nabelschau sei verfehlt,
auch europaweit müsse der friedlichen Revolution und des Umsturzes in ganz Europa
gedacht werden. Die Verdienste der Nachbarländer Polen und Ungarn, die Verdienste
von Vorkämpfern wie Vaclav Havel in der Tschecheslowakei und die Verdienste „christlicher
Aktivisten“ sieht Jauer in den Festakten „eher unterrepräsentiert“.
„Die
Solidarnosc-Bewegung ist ohne Johannes Paul II. natürlich nicht vorstellbar, also
ohne die Unterstützung der katholischen Kirche, die ja gleichzeitig immer polnische
Identität gestiftet hat. Ohne diesen Geist, der ja christliche Wurzeln hat, ist auch
der Begriff Solidarität, der ja sozusagen die politische Übersetzung von Nächstenliebe
ist, überhaupt nicht zu begreifen. Ich habe gerade erfahren, dass die DDR-Flüchtlinge
– etwa 6.000 die in Polen waren, von denen fast niemand redet – in Ferienheimen der
Solidarnosc untergebracht waren und wie Gäste behandelt wurden. Tadeusz Mazowiecki,
der erste frei gewählte polnische Ministerpräsident 1989, ein katholischer Publizist,
hat gesagt, das sei das Dankeschön der Polen gewesen für die vielen vielen Pakete,
die von deutschen Kirchengemeinden in der Zeit des Kriegsrechts von 1981 bis 1983/84
nach Polen geschickt worden sind. Rechnerisch hat wohl jede polnische Familie von
einer deutschen Familie ein Paket bekommen. Dieser Geist war es, der sozusagen zum
Umbruch geführt hat auf der einen Seite.“ Auf der der anderen Seite berichtet
der langjährige Korrespondent vom Einsatz Einzelner. Aus Ungarn zum Beispiel von der
katholische Malteserfrau Csilla von Boeselager,
„die auf eigenes Risiko
das erste Flüchtlingslager, die erste Aufbewahrungsstätte, den ersten Freiraum für
DDR-Flüchtlinge in Budapest gebaut hat; ringsum die katholische Kirche zur Heiligen
Familie auf dem Kirchengelände dort. Draußen hat sie ein Schild angebracht: Malteser-Caritas-Dienst.
Caritas bedeutet auch wiederum Nächstenliebe. Das sind Handlungsweisen christlicher
Aktivisten, die in dieser Betrachtung, die wir gegenwärtig durchlaufen, häufig unter
den Tisch fallen.“ Jauer lebte jahrelang in Ostberlin. Er selbst sagt rückblickend:
„Ich
habe erlebt, wie die Menschen in der Diktatur sich verbiegen mussten, wie sie zwei
Gesichter entwickeln mussten, einen Januskopf, ein Gesicht für das Private und ein
Gesicht für das Offizielle, wie Kinder von Anfang an zum Lügen erzogen worden sind.
Ich bin tief dankbar dafür, dass das zu Ende ist.“ Die Nacht des Mauerfalls
erlebte Joachim Jauer wie viele Deutsche vor dem Fernseher. Er saß in seinem ZDF-Büro
in Wien und hatte gerade geheim gedrehte Bilder verarbeitet, dass nun die Tschechen
nahezu „entnervt“ auch die Grenze nach Bayern geöffnet hatten.
„Im Prinzip
war damit die Mauer obsolet geworden. Das österreichische Fernsehen hat in der Nacht
die Bilder aus dem deutschen Fernsehen übernommen. Einen persönlichen Eindruck vom
Fall der Mauer habe ich einige Tage später gewonnen, als ich live ebenfalls in Wien
gesehen habe, wie die Straße meiner Kindheit, die zugemauert war, langsam an einem
Morgen geöffnet wurde und sich durch das Loch in der Mauer eine erste Hand streckte.“ (rv
07.11.2009 bp)