2009-10-30 13:55:49

D: Was bedeutet Ökumene? Bischof Feiges Papier im Wortlaut


Wovon reden evangelische und katholische Christen, wenn Sie das Wort „Ökumene" im Mund führen? Warum halten sich hartnäckig überholte Feindbilder? Wie viel Verschiedenheit ist möglich, wie viel Einheit nötig? Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige, Mitglied der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz und Bischof im „Land der Reformation", hat pünktlich zum Reformationstag „Einige neue katholische Thesen zur Ökumene" veröffentlicht. Wir dokumentieren das Dokument im Wortlaut:

Einige neue katholische Thesen zur Ökumene
von Bischof Dr. Gerhard Feige
veröffentlicht zum Reformationstag 2009

1.
Nicht immer wird unter „Ökumene“ dasselbe verstanden. Während katholischerseits sich
damit fast ausschließlich die zwischenkirchlichen Bemühungen um die Einheit der Christen
und die Überwindung der Konfessionsgrenzen verbinden, gebraucht man evangelischerseits
diesen Begriff auch oder sogar mehr für rein innerprotestantische
Partnerschaftsbeziehungen über die Grenzen der eigenen Landeskirche hinaus und im
Hinblick auf das vielfältige Engagement für die „Eine Welt“. Dazu gehören dann solche
Themen wie Migration und interreligiöser Dialog, Entwicklung und Umwelt sowie
Friedensarbeit. So kann z. B. ein Ökumene-Zentrum eröffnet werden, ohne dass das mit
anderen Kirchen irgendetwas zu tun hat. Darum unterhält man in manchen Regionen auch
für die Kontakte zur katholischen Kirche ein eigenes „Catholica“-Referat. Es ist also nicht
ganz unbedeutend zu wissen, was gemeint ist, wenn von „Ökumene“ gesprochen wird, und
welchen Stellenwert man ihr in der jeweiligen Kirche bezüglich des interkonfessionellen
Verhältnisses beimisst.

2.
Meistens pflegen solche Christen ökumenische Kontakte, die schon ein Gespür für die Denkund
Lebensweise der jeweils anderen Kirche haben. Bei theologischen Gesprächen hat das
manchmal zur Folge, dass man schon in relativ kurzer Zeit erfreuliche Übereinstimmungen
erkennt und zu wegweisenden Ergebnissen kommt, diese aber von anderen Vertretern der
beteiligten Kirchen nicht unbedingt akzeptiert werden. Dieses Dilemma divergierender
Richtungen in ein und derselben Kirche verhindert manchen Fortschritt und führt
gelegentlich zu regelrechten Zerreißproben. Zugleich verunsichert es die Dialogpartner und
Entscheidungsträger der anderen Kirche und lässt fragen: Was gilt nun? Wer ist
repräsentativ? Auf wen kann man sich noch verlassen? Andererseits gibt es neuerdings
Gruppierungen aus verschiedenen Kirchen, die bislang durchaus nicht ökumenisch gesinnt
waren, die aber hinsichtlich bestimmter ethischer Anliegen inzwischen über
Konfessionsgrenzen hinaus mit ähnlich denkenden Kreisen Zweckbündnisse eingehen.
Schon seit längerem hingegen sehen sich auch verschiedene geistliche Bewegungen dazu
herausgefordert, auf sehr persönliche Weise die christliche Einheit zum Ausdruck zu bringen
und zu vertiefen. Ökumenisch bedeutsam sind außerdem so viele konfessionsverschiedene
oder -verbindende Ehen und Familien, die unter der Trennung leiden, Aktionsgruppen, die
sich für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, Theologen mit
einem weiten Horizont und einem Gespür für die Zeichen der Zeit, christliche Politiker, die
sich den weltanschaulich veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft zu stellen haben,
soziale Einrichtungen, Schulen, Kindertagesstätten und Verbände in schon lange nicht mehr
konfessionell homogener Zusammensetzung sowie die Kirchenleitungen und die Gemeinden
vor Ort mit ihren unterschiedlichen zwischenmenschlichen und institutionellen Erfahrungen
von Ökumene. Auf allen Ebenen findet man also Christen, die ökumenisch aufgeschlossen
sind, eine größere Einheit herbeisehnen und dafür einiges bewegen. In allen Kirchen sind es
aber immer noch zu wenig.

3.
Neben ökumenischen Sammlungsbewegungen gibt es fast überall auch antiökumenische
Kräfte und auseinanderstrebende Gruppierungen. Für viele ist Ökumene immer noch ein
Fremd-, Reiz-, Phantasie-, Füll- oder sogar Unwort. Mancherorts – wie in Jerusalem – kann
man höchstens von einer „Mietshaus-Ökumene“ sprechen, einem notdürftig pragmatisch
geregeltem, aber oberflächlich bleibendem Nebeneinander. Im Bild gesprochen ist geklärt,
wer zu welcher Zeit den Hausflur reinigt und die Tür abschließt, und es gibt auch kurze
Treppengespräche – aber mehr nicht, keine wirklich gemeinsamen Überzeugungen und
Anliegen oder Gebete und Gottesdienste. Dagegen sollte recht verstandene Ökumene weder
Diplomatie noch Technik sein, sondern vielmehr „die Kunst, Misstrauen zu überwinden,
Vertrauen aufzubauen, Freunde zu gewinnen und Freundschaften zu stiften“ (Walter
Kardinal Kasper). Dies gilt es noch stärker zu beherzigen und bei aller regionalen
Ungleichzeitigkeit ökumenischer Entwicklungen situationsgerecht zu entfalten.

4.
Verschiedene Verwerfungen und Feindbilder der Vergangenheit haben sich als Klischees und
Vorurteile so eingefleischt, dass sie trotz gegenteiliger theologischer Klärungen und
kirchlicher Reformen in den letzten Jahrzehnten aus Unkenntnis oder anderen Motiven
hartnäckig weitertradiert werden (z. B. Katholiken würden nach wie vor Heilige anbeten,
sich von Sünden freikaufen oder nicht den so genannten Laienkelch erhalten). Auch
stimmen die Vorstellungen, die viele sich von außen über die anderen Christen machen,
oftmals nicht mit der innerkirchlichen Wirklichkeit überein. So lesen Protestanten z.B.
römische Papiere manchmal viel schneller und begieriger, weil das ihrem Bild von einer
„zentralistischen Papstkirche“ entspricht, während Katholiken selbst differenzierter und
„familiärer“ damit umgehen können. Um ökumenisch voranzukommen, sollte man keine
Mühe scheuen, sich gegenseitig noch besser auf dem jeweils neuesten Stand von Lehre und
Praxis wahrzunehmen. Das gilt besonders auch im Blick auf die Orthodoxen Kirchen, über
die in unseren Breiten z. T. nur verschwommene Vorstellungen kursieren und gegenüber
denen manche ihre Vorbehalte haben, vor allem, was deren Verhältnis zur Moderne und
Postmoderne betrifft. Eine gute Übung ist es da bei gemeinsamen Gesprächen, wenn jede
Seite erst einmal versucht, die Position der anderen darzustellen.

5.
Von großer ökumenischer Bedeutung ist die Beantwortung der Frage: In welchem Verhältnis
sehen sich die einzelnen Kirchen zur „una sancta catholica et apostolica ecclesia“ des allen
gemeinsamen Glaubensbekenntnisses? Die einen beanspruchen exklusiv, diese eine und
einzige Kirche zu sein; andere meinen inklusiv, diese sei bei ihnen verwirklicht, man
erkenne die anderen aber auch als „Mittel des Heiles“ an und sehe sich mit diesen
verbunden; und dann gibt es noch die pluralistische Sicht, nach der in allen Kirchen die
Kirche Jesu Christi in gleicher Weise in Erscheinung trete. Diese unterschiedlichen Positionen
werden jeweils durchaus selbstbewusst vertreten, ob durch theoretische Erklärungen oder
im praktischen Verhalten. Sich über das eine oder andere ekklesiologische Selbstverständnis
und dessen Auswirkungen z. B. auf das Problem der Eucharistie- oder
Abendmahlsgemeinschaft zu entrüsten, führt nicht weiter. Vielmehr sollte man sich
zunächst erst einmal zugestehen, eigene theologische Überzeugungen auch offen sagen zu
können, ohne sofort, wenn diese als unangenehm erscheinen, moralisch abgewertet und
populistisch in eine antiökumenische Ecke gestellt zu werden. Der Mut zum freien Wort darf
nicht nur ein evangelisches Privileg sein. Daraus könnten dann, ohne sich gegenseitig unter
Druck zu setzen, fruchtbare Gespräche und zukunftsträchtige Lösungsmöglichkeiten
erwachsen.

6.
Momentan haben wir keine gemeinsame Vision einer anzustrebenden Kircheneinheit.
Während die katholische Seite sich schon lange von einer „Rückkehrökumene“
verabschiedet hat, aber eine sichtbare Einheit nach vorheriger Lösung der klassischen
Kontroversthemen (gegenwärtig vor allem des Kirchen- und Amtsverständnisses) anstrebt,
propagiert die evangelische Seite inzwischen immer stärker eine wechselseitige
Anerkennung bei bleibenden Differenzen. Auf einmal scheint Einheit unter dem Verdacht
von Vermassung, Uniformierung, Zentralismus und Entmündigung in Verruf gekommen und
fast zu einem Schreckgespenst geworden zu sein. Stattdessen wird Verschiedenheit
neuerdings als das Ideal gepriesen, werden Sonderwege immer mehr zur Normalität
gerechnet, sieht man in der Entfremdungs- und Spaltungsgeschichte der Christenheit kaum
noch eine Tragik, sondern eher sogar die erfreuliche Entwicklung zu einer größeren
„Buntheit“. Ohne Zweifel ist „Einheit in Vielfalt“ ein zukunftsträchtiges Modell und
erstrebenswert. Es stellt sich aber die Frage: Wie viel Verschiedenheit ist möglich, ohne die
Einheit zu gefährden? Wie viel Einheit ist nötig, damit Vielfalt nicht zur Beliebigkeit
verkommt? Welche Unterschiede sind komplementär und welche trennen? Schon jetzt
verstehen sich manche Kirchen als „Einheit in Vielfalt“ und sehen sich doch nicht in Einheit
mit den anderen.

7.
Immer wieder einmal wird in „Sonntagsreden“ das so genannte Lund-Prinzip (bezieht sich
auf die 3. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1952), wie es auch von der
„Charta oecumenica“ (2001) aufgegriffen wurde, beschworen, wonach die Kirchen möglichst
gemeinsam handeln sollten, und nur darin getrennt, wo tiefe Unterschiede der Überzeugung
sie dazu zwingen. Bedauerlicherweise zeigt sich in der Praxis aber, dass gemeinsames
Handeln vielfach doch noch eher zu den Ausnahmen gehört. Vielleicht verbindet sich damit
auch eine Überforderung. So stellt sich z. B. angesichts gravierender kirchlicher
Umstrukturierungen auf regionaler Ebene und vor Ort die Frage, wie der Kontakt bei
größeren Flächen, weiteren Entfernungen, kleineren Gemeinden und weniger Personal noch
lebendig gehalten oder auf andere Weise überzeugend gestaltet werden kann. Gelegentlich
hat man aber auch den Eindruck, dass manchmal nicht unbedingt ein Interesse an mehr
Gemeinsamkeiten besteht, weil dies eventuell der eigenen Profilierung abträglich sein
könnte. Gerade angesichts solcher Ernüchterungen sollte man sich der Herausforderung,
soviel wie möglich gemeinsam zu tun, aufs Neue kreativ stellen und nach umsetzbaren
Formen Ausschau halten.

8.
Profil zu haben, zeugt von Klarheit und ist angesichts eines zunehmenden Relativismus und
einer manchmal „billigen“ Ökumene durchaus begrüßenswert. Das überdeutlich
hervorzukehren, kann aber auch Abgrenzungen verschärfen und konfessionalistische
Verhaltensweisen wieder aufleben lassen, vor allem, wenn man sehr ausschließlich
argumentiert oder sich durch den Widerspruch zum anderen definiert. Irrig wäre es dabei z.
B. zu meinen, die eine Seite gründe auf dem Evangelium und die andere habe sich ihre
Lehre irgendwie willkürlich ausgedacht. Katholische und orthodoxe wie evangelische
Christen gehen gemeinsam auf die Heilige Schrift zurück, deuten sie aber dann im Licht
ihrer jeweiligen „Gewährsmänner“ (Kirchenväter oder Reformatoren). Besser wäre es darum
vielleicht, von Stärken oder Schätzen zu reden, die bei den einen mehr bewahrt oder
entfaltet worden sind als bei den anderen und heute alle bei der Suche nach einer
wahrhaftigen und versöhnten Einheit anregen könnten.

9.
Angesichts des 2017 anstehenden Gedenkens an die Reformation vor 500 Jahren und der
schon begonnenen „Lutherdekade“ stellt sich erneut die Frage nach der geschichtlichen
Deutung dieses Ereignisses und der Person Martin Luthers. Glorifizierten ihn evangelische
Christen früher häufig als „Glaubenshelden“; „Heiligen der Nation“ oder „neuen
Kirchenstifter“, sahen katholische Christen in ihm den „abgefallenen Mönch“ und
„halsstarrigen Häretiker“. Schon seit längerem sind beide Seiten zu einer differenzierteren
Sicht gekommen. Dazu gehört auch, dass Luthers ursprüngliche Intention nicht die Spaltung
der Kirche gewesen sei, sondern deren tief greifende Reform an Haupt und Gliedern. Dass
es dann aber doch zu jener unheilvollen Entwicklung kam, ist nicht allein ihm anzulasten.
Die ökumenische Bewegung der letzten Jahrzehnte mit ihren theologischen Gesprächen und
praktischen Annäherungen hat es schließlich sogar möglich werden lassen, Luther
evangelischer- wie katholischerseits gemeinsam als „Zeugen des Evangeliums, Lehrer im
Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung“ sehen zu können. Damit ist Luther für
Katholiken nicht etwa sprunghaft zum Heiligen geworden; er stellt aber inzwischen auch für
sie eine geistliche und theologische Herausforderung dar, an der man auf dem Weg zur
Einheit der getrennten Christen nicht vorbeikommt. Auf dieser Grundlage könnte sich in den
nächsten Jahren ökumenisch noch mehr entwickeln: vielleicht auch eine gemeinsame
Interpretation der damaligen Vorgänge und ihrer Wirkungsgeschichte. Dies aber hängt von
beiden Seiten ab. Wünschenswert wäre dabei auch, evangelischerseits noch deutlicher zu
klären, in welchem Verhältnis man sich heutzutage zur Kirche der ersten anderthalb
Jahrtausende sieht: in deutlichem Widerspruch dazu als eine Neugründung oder in gewisser
Kontinuität als die „durch die Reformation hindurchgegangene katholische Kirche“ (so
Bischof Wolfgang Huber). Nach wie vor bleibt die spannende Frage: Werden evangelische
und katholische Christen sich nach der Dekade und dem Gedenkjahr 2017 näher oder ferner
sein?

10.
Nach euphorischen Aufbrüchen in der Ökumene und beachtlichen Erfolgen ist es schon seit
längerem fast in Mode gekommen, bei Stagnationen oder Irritationen immer wieder eine
„ökumenische Eiszeit“ zu diagnostizieren oder herbeizureden. Sicher ist eine „heilige
Ungeduld“ vonnöten, damit man nicht in konfessionalistische Verhaltensweisen zurückfällt
oder krampfhaft auf dem Status quo beharrt. Zugleich sollte aber auch bedacht werden, wie
schwer sich viele – nicht nur etwa kirchliche Entscheidungsträger und Theologen – mit tief
greifenden Reformen und einschneidenden Veränderungen tun. Das dürfte jedoch nicht
daran hindern, sich selbst auf geistvolle Weise der Herausforderung nach einer
überzeugenderen Einheit der Christen zu stellen. Vor Ort „sitzen wir oftmals im selben Boot“
und teilen Freud und Leid gleichermaßen. Da liegt es an uns, ob wir auf Distanz gehen oder
im „Dialog der Liebe und der Wahrheit“ kreativ voranschreiten. Dabei gilt für alle die
entscheidende Frage: Sind wir tatsächlich zugunsten einer größeren Einheit bereit, von
manchem Abschied zu nehmen, vertrauten Ballast abzuwerfen und uns vom Geist Gottes
neue Wege führen zu lassen? Wollen wir das wirklich? Jede Zeit ist zugleich Bewährungsund
Heilszeit.

(pm 30.10.2009 ad)







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