D: Was bedeutet Ökumene? Bischof Feiges Papier im Wortlaut
Wovon reden evangelische und katholische Christen, wenn Sie das Wort „Ökumene" im
Mund führen? Warum halten sich hartnäckig überholte Feindbilder? Wie viel Verschiedenheit
ist möglich, wie viel Einheit nötig? Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige, Mitglied
der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz und Bischof im „Land der Reformation",
hat pünktlich zum Reformationstag „Einige neue katholische Thesen zur Ökumene" veröffentlicht.
Wir dokumentieren das Dokument im Wortlaut:
Einige neue katholische Thesen
zur Ökumene von Bischof Dr. Gerhard Feige veröffentlicht zum Reformationstag
2009
1. Nicht immer wird unter „Ökumene“ dasselbe verstanden. Während katholischerseits
sich damit fast ausschließlich die zwischenkirchlichen Bemühungen um die Einheit
der Christen und die Überwindung der Konfessionsgrenzen verbinden, gebraucht man
evangelischerseits diesen Begriff auch oder sogar mehr für rein innerprotestantische Partnerschaftsbeziehungen
über die Grenzen der eigenen Landeskirche hinaus und im Hinblick auf das vielfältige
Engagement für die „Eine Welt“. Dazu gehören dann solche Themen wie Migration und
interreligiöser Dialog, Entwicklung und Umwelt sowie Friedensarbeit. So kann z.
B. ein Ökumene-Zentrum eröffnet werden, ohne dass das mit anderen Kirchen irgendetwas
zu tun hat. Darum unterhält man in manchen Regionen auch für die Kontakte zur katholischen
Kirche ein eigenes „Catholica“-Referat. Es ist also nicht ganz unbedeutend zu wissen,
was gemeint ist, wenn von „Ökumene“ gesprochen wird, und welchen Stellenwert man
ihr in der jeweiligen Kirche bezüglich des interkonfessionellen Verhältnisses beimisst.
2. Meistens
pflegen solche Christen ökumenische Kontakte, die schon ein Gespür für die Denkund Lebensweise
der jeweils anderen Kirche haben. Bei theologischen Gesprächen hat das manchmal
zur Folge, dass man schon in relativ kurzer Zeit erfreuliche Übereinstimmungen erkennt
und zu wegweisenden Ergebnissen kommt, diese aber von anderen Vertretern der beteiligten
Kirchen nicht unbedingt akzeptiert werden. Dieses Dilemma divergierender Richtungen
in ein und derselben Kirche verhindert manchen Fortschritt und führt gelegentlich
zu regelrechten Zerreißproben. Zugleich verunsichert es die Dialogpartner und Entscheidungsträger
der anderen Kirche und lässt fragen: Was gilt nun? Wer ist repräsentativ? Auf wen
kann man sich noch verlassen? Andererseits gibt es neuerdings Gruppierungen aus
verschiedenen Kirchen, die bislang durchaus nicht ökumenisch gesinnt waren, die
aber hinsichtlich bestimmter ethischer Anliegen inzwischen über Konfessionsgrenzen
hinaus mit ähnlich denkenden Kreisen Zweckbündnisse eingehen. Schon seit längerem
hingegen sehen sich auch verschiedene geistliche Bewegungen dazu herausgefordert,
auf sehr persönliche Weise die christliche Einheit zum Ausdruck zu bringen und
zu vertiefen. Ökumenisch bedeutsam sind außerdem so viele konfessionsverschiedene oder
-verbindende Ehen und Familien, die unter der Trennung leiden, Aktionsgruppen, die sich
für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, Theologen mit einem
weiten Horizont und einem Gespür für die Zeichen der Zeit, christliche Politiker,
die sich den weltanschaulich veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft zu stellen
haben, soziale Einrichtungen, Schulen, Kindertagesstätten und Verbände in schon
lange nicht mehr konfessionell homogener Zusammensetzung sowie die Kirchenleitungen
und die Gemeinden vor Ort mit ihren unterschiedlichen zwischenmenschlichen und
institutionellen Erfahrungen von Ökumene. Auf allen Ebenen findet man also Christen,
die ökumenisch aufgeschlossen sind, eine größere Einheit herbeisehnen und dafür
einiges bewegen. In allen Kirchen sind es aber immer noch zu wenig.
3. Neben
ökumenischen Sammlungsbewegungen gibt es fast überall auch antiökumenische Kräfte
und auseinanderstrebende Gruppierungen. Für viele ist Ökumene immer noch ein Fremd-,
Reiz-, Phantasie-, Füll- oder sogar Unwort. Mancherorts – wie in Jerusalem – kann man
höchstens von einer „Mietshaus-Ökumene“ sprechen, einem notdürftig pragmatisch geregeltem,
aber oberflächlich bleibendem Nebeneinander. Im Bild gesprochen ist geklärt, wer
zu welcher Zeit den Hausflur reinigt und die Tür abschließt, und es gibt auch kurze Treppengespräche
– aber mehr nicht, keine wirklich gemeinsamen Überzeugungen und Anliegen oder Gebete
und Gottesdienste. Dagegen sollte recht verstandene Ökumene weder Diplomatie noch
Technik sein, sondern vielmehr „die Kunst, Misstrauen zu überwinden, Vertrauen
aufzubauen, Freunde zu gewinnen und Freundschaften zu stiften“ (Walter Kardinal
Kasper). Dies gilt es noch stärker zu beherzigen und bei aller regionalen Ungleichzeitigkeit
ökumenischer Entwicklungen situationsgerecht zu entfalten.
4. Verschiedene
Verwerfungen und Feindbilder der Vergangenheit haben sich als Klischees und Vorurteile
so eingefleischt, dass sie trotz gegenteiliger theologischer Klärungen und kirchlicher
Reformen in den letzten Jahrzehnten aus Unkenntnis oder anderen Motiven hartnäckig
weitertradiert werden (z. B. Katholiken würden nach wie vor Heilige anbeten, sich
von Sünden freikaufen oder nicht den so genannten Laienkelch erhalten). Auch stimmen
die Vorstellungen, die viele sich von außen über die anderen Christen machen, oftmals
nicht mit der innerkirchlichen Wirklichkeit überein. So lesen Protestanten z.B. römische
Papiere manchmal viel schneller und begieriger, weil das ihrem Bild von einer „zentralistischen
Papstkirche“ entspricht, während Katholiken selbst differenzierter und „familiärer“
damit umgehen können. Um ökumenisch voranzukommen, sollte man keine Mühe scheuen,
sich gegenseitig noch besser auf dem jeweils neuesten Stand von Lehre und Praxis
wahrzunehmen. Das gilt besonders auch im Blick auf die Orthodoxen Kirchen, über die
in unseren Breiten z. T. nur verschwommene Vorstellungen kursieren und gegenüber denen
manche ihre Vorbehalte haben, vor allem, was deren Verhältnis zur Moderne und Postmoderne
betrifft. Eine gute Übung ist es da bei gemeinsamen Gesprächen, wenn jede Seite
erst einmal versucht, die Position der anderen darzustellen.
5. Von großer
ökumenischer Bedeutung ist die Beantwortung der Frage: In welchem Verhältnis sehen
sich die einzelnen Kirchen zur „una sancta catholica et apostolica ecclesia“ des allen gemeinsamen
Glaubensbekenntnisses? Die einen beanspruchen exklusiv, diese eine und einzige
Kirche zu sein; andere meinen inklusiv, diese sei bei ihnen verwirklicht, man erkenne
die anderen aber auch als „Mittel des Heiles“ an und sehe sich mit diesen verbunden;
und dann gibt es noch die pluralistische Sicht, nach der in allen Kirchen die Kirche
Jesu Christi in gleicher Weise in Erscheinung trete. Diese unterschiedlichen Positionen werden
jeweils durchaus selbstbewusst vertreten, ob durch theoretische Erklärungen oder im
praktischen Verhalten. Sich über das eine oder andere ekklesiologische Selbstverständnis und
dessen Auswirkungen z. B. auf das Problem der Eucharistie- oder Abendmahlsgemeinschaft
zu entrüsten, führt nicht weiter. Vielmehr sollte man sich zunächst erst einmal
zugestehen, eigene theologische Überzeugungen auch offen sagen zu können, ohne
sofort, wenn diese als unangenehm erscheinen, moralisch abgewertet und populistisch
in eine antiökumenische Ecke gestellt zu werden. Der Mut zum freien Wort darf nicht
nur ein evangelisches Privileg sein. Daraus könnten dann, ohne sich gegenseitig unter Druck
zu setzen, fruchtbare Gespräche und zukunftsträchtige Lösungsmöglichkeiten erwachsen.
6. Momentan
haben wir keine gemeinsame Vision einer anzustrebenden Kircheneinheit. Während
die katholische Seite sich schon lange von einer „Rückkehrökumene“ verabschiedet
hat, aber eine sichtbare Einheit nach vorheriger Lösung der klassischen Kontroversthemen
(gegenwärtig vor allem des Kirchen- und Amtsverständnisses) anstrebt, propagiert
die evangelische Seite inzwischen immer stärker eine wechselseitige Anerkennung
bei bleibenden Differenzen. Auf einmal scheint Einheit unter dem Verdacht von Vermassung,
Uniformierung, Zentralismus und Entmündigung in Verruf gekommen und fast zu einem
Schreckgespenst geworden zu sein. Stattdessen wird Verschiedenheit neuerdings als
das Ideal gepriesen, werden Sonderwege immer mehr zur Normalität gerechnet, sieht
man in der Entfremdungs- und Spaltungsgeschichte der Christenheit kaum noch eine
Tragik, sondern eher sogar die erfreuliche Entwicklung zu einer größeren „Buntheit“.
Ohne Zweifel ist „Einheit in Vielfalt“ ein zukunftsträchtiges Modell und erstrebenswert.
Es stellt sich aber die Frage: Wie viel Verschiedenheit ist möglich, ohne die Einheit
zu gefährden? Wie viel Einheit ist nötig, damit Vielfalt nicht zur Beliebigkeit verkommt?
Welche Unterschiede sind komplementär und welche trennen? Schon jetzt verstehen
sich manche Kirchen als „Einheit in Vielfalt“ und sehen sich doch nicht in Einheit mit
den anderen.
7. Immer wieder einmal wird in „Sonntagsreden“ das so genannte
Lund-Prinzip (bezieht sich auf die 3. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung
1952), wie es auch von der „Charta oecumenica“ (2001) aufgegriffen wurde, beschworen,
wonach die Kirchen möglichst gemeinsam handeln sollten, und nur darin getrennt,
wo tiefe Unterschiede der Überzeugung sie dazu zwingen. Bedauerlicherweise zeigt
sich in der Praxis aber, dass gemeinsames Handeln vielfach doch noch eher zu den
Ausnahmen gehört. Vielleicht verbindet sich damit auch eine Überforderung. So stellt
sich z. B. angesichts gravierender kirchlicher Umstrukturierungen auf regionaler
Ebene und vor Ort die Frage, wie der Kontakt bei größeren Flächen, weiteren Entfernungen,
kleineren Gemeinden und weniger Personal noch lebendig gehalten oder auf andere
Weise überzeugend gestaltet werden kann. Gelegentlich hat man aber auch den Eindruck,
dass manchmal nicht unbedingt ein Interesse an mehr Gemeinsamkeiten besteht, weil
dies eventuell der eigenen Profilierung abträglich sein könnte. Gerade angesichts
solcher Ernüchterungen sollte man sich der Herausforderung, soviel wie möglich
gemeinsam zu tun, aufs Neue kreativ stellen und nach umsetzbaren Formen Ausschau
halten.
8. Profil zu haben, zeugt von Klarheit und ist angesichts eines
zunehmenden Relativismus und einer manchmal „billigen“ Ökumene durchaus begrüßenswert.
Das überdeutlich hervorzukehren, kann aber auch Abgrenzungen verschärfen und konfessionalistische Verhaltensweisen
wieder aufleben lassen, vor allem, wenn man sehr ausschließlich argumentiert oder
sich durch den Widerspruch zum anderen definiert. Irrig wäre es dabei z. B. zu
meinen, die eine Seite gründe auf dem Evangelium und die andere habe sich ihre Lehre
irgendwie willkürlich ausgedacht. Katholische und orthodoxe wie evangelische Christen
gehen gemeinsam auf die Heilige Schrift zurück, deuten sie aber dann im Licht ihrer
jeweiligen „Gewährsmänner“ (Kirchenväter oder Reformatoren). Besser wäre es darum vielleicht,
von Stärken oder Schätzen zu reden, die bei den einen mehr bewahrt oder entfaltet
worden sind als bei den anderen und heute alle bei der Suche nach einer wahrhaftigen
und versöhnten Einheit anregen könnten.
9. Angesichts des 2017 anstehenden
Gedenkens an die Reformation vor 500 Jahren und der schon begonnenen „Lutherdekade“
stellt sich erneut die Frage nach der geschichtlichen Deutung dieses Ereignisses
und der Person Martin Luthers. Glorifizierten ihn evangelische Christen früher
häufig als „Glaubenshelden“; „Heiligen der Nation“ oder „neuen Kirchenstifter“,
sahen katholische Christen in ihm den „abgefallenen Mönch“ und „halsstarrigen Häretiker“.
Schon seit längerem sind beide Seiten zu einer differenzierteren Sicht gekommen.
Dazu gehört auch, dass Luthers ursprüngliche Intention nicht die Spaltung der Kirche
gewesen sei, sondern deren tief greifende Reform an Haupt und Gliedern. Dass es
dann aber doch zu jener unheilvollen Entwicklung kam, ist nicht allein ihm anzulasten. Die
ökumenische Bewegung der letzten Jahrzehnte mit ihren theologischen Gesprächen und praktischen
Annäherungen hat es schließlich sogar möglich werden lassen, Luther evangelischer-
wie katholischerseits gemeinsam als „Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben
und Rufer zur geistlichen Erneuerung“ sehen zu können. Damit ist Luther für Katholiken
nicht etwa sprunghaft zum Heiligen geworden; er stellt aber inzwischen auch für sie
eine geistliche und theologische Herausforderung dar, an der man auf dem Weg zur Einheit
der getrennten Christen nicht vorbeikommt. Auf dieser Grundlage könnte sich in den nächsten
Jahren ökumenisch noch mehr entwickeln: vielleicht auch eine gemeinsame Interpretation
der damaligen Vorgänge und ihrer Wirkungsgeschichte. Dies aber hängt von beiden
Seiten ab. Wünschenswert wäre dabei auch, evangelischerseits noch deutlicher zu klären,
in welchem Verhältnis man sich heutzutage zur Kirche der ersten anderthalb Jahrtausende
sieht: in deutlichem Widerspruch dazu als eine Neugründung oder in gewisser Kontinuität
als die „durch die Reformation hindurchgegangene katholische Kirche“ (so Bischof
Wolfgang Huber). Nach wie vor bleibt die spannende Frage: Werden evangelische und
katholische Christen sich nach der Dekade und dem Gedenkjahr 2017 näher oder ferner sein?
10. Nach
euphorischen Aufbrüchen in der Ökumene und beachtlichen Erfolgen ist es schon seit längerem
fast in Mode gekommen, bei Stagnationen oder Irritationen immer wieder eine „ökumenische
Eiszeit“ zu diagnostizieren oder herbeizureden. Sicher ist eine „heilige Ungeduld“
vonnöten, damit man nicht in konfessionalistische Verhaltensweisen zurückfällt oder
krampfhaft auf dem Status quo beharrt. Zugleich sollte aber auch bedacht werden, wie schwer
sich viele – nicht nur etwa kirchliche Entscheidungsträger und Theologen – mit tief greifenden
Reformen und einschneidenden Veränderungen tun. Das dürfte jedoch nicht daran hindern,
sich selbst auf geistvolle Weise der Herausforderung nach einer überzeugenderen
Einheit der Christen zu stellen. Vor Ort „sitzen wir oftmals im selben Boot“ und
teilen Freud und Leid gleichermaßen. Da liegt es an uns, ob wir auf Distanz gehen
oder im „Dialog der Liebe und der Wahrheit“ kreativ voranschreiten. Dabei gilt
für alle die entscheidende Frage: Sind wir tatsächlich zugunsten einer größeren
Einheit bereit, von manchem Abschied zu nehmen, vertrauten Ballast abzuwerfen und
uns vom Geist Gottes neue Wege führen zu lassen? Wollen wir das wirklich? Jede
Zeit ist zugleich Bewährungsund Heilszeit.