Zum Gedenken an den 9. Oktober: „Wir wollen nicht schießen“
Mit einem Festakt
wird an diesem Freitag in Leipzig an die friedliche Revolution in der DDR vor 20 Jahren
erinnert. Im Beisein von Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzlerin Angela Merkel
soll die entscheidende Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 gewürdigt werden. Damals
waren in Leipzig rund 70.000 Menschen für mehr Freiheit und Demokratie auf die Straße
gegangen. Vier Wochen später fiel die Mauer. - Gut 100 Kilometer von Leipzig entfernt,
in Dresden, war am 9. Oktober 1989 etwas ganz anderes geschehen, nicht weniger außergewöhnlich
und ebenso bahnbrechend: Ein SED-Funktionär wurde zum Bittsteller bei der katholischen
Kirche. Sein Anliegen betraf auch Leipzig. Mehr in diesem Beitrag von Birgit Pottler:
Die
Vorgeschichte: Am 8. Oktober wurden mehrere Tausend Demonstranten auf der Prager Straße
in Dresden eingekesselt. Unter ihnen zwei katholische Kapläne, die mit der Volkspolizei
schließlich einen friedlichen Ausgang aushandelten. Die Demonstranten gründeten die
Gruppe der 20; 20 Vertreter, die am folgenden Tag mit dem damaligen Oberbürgermeister
Dresdens sprechen sollten. Das Ziel: erste Signale eines Dialogs in der SED. Die Demonstranten
forderten, die Gesprächsergebnisse genau 24 Stunden später wieder der Öffentlichkeit
auf der Prager Straße bekannt zu geben. Bürgermeister und Volkspolizei verlangten
jedoch aus Angst vor neuen Demonstrationen Versammlungen in vier Kirchen Dresdens.
SED
wurde zum Bittsteller Am 9. Oktober kam folglich erstmals ein Regierungsvertreter
als Bittsteller zu Bischof Joachim Reinelt: „Das war natürlich eine ganz neue Erfahrung.
Er bat mich darum, klar zu machen, dass die SED nun endlich sähe, wie viele Fehler
sie gemacht hätte, dass es zu ganz neuen Entscheidungen in der Reisefreiheit käme
und dass auf das Volk gehört werde, wie das leider in der Geschichte der DDR vorher
nicht geschehen sei. Ich habe dem Mann gesagt: .Wissen sie, das glaubt mir niemand,
weil die Leute das Ihnen nicht glauben. Sie haben in der Geschichte immer schöne Aussagen
gemacht, und sobald Ruhe eingetreten ist, alles wieder zurück genommen.’ Der SED-Mann
hat mich geradezu angebettelt: ,Bitte helfen Sie mir, wir haben eine Angst: Wenn heute,
am 9. Oktober, in Dresden irgendjemand Gewalt anwendet, müssen wir schießen. Und wir
haben uns gerade abgesprochen, zwischen den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Leipzig und
Dresden, dass wir heute Abend in Leipzig nicht schießen wollen.’ ,Und die Berliner
wissen auch Bescheid’, war so eine ganz läppische Bemerkung.“ Bischof Reinelt lenkte
ein, nicht ohne Bedingung: „Wenn es darum geht, dann mache ich diese Ansage. Aber
ich verlange, dass im weiten Umkreis um alle Kirchen kein Volkspolizist zu sehen ist.
An Militär hab’ ich damals noch gar nicht geglaubt, das war mindestens in Dresden
nicht der Fall, in Leipzig aber anders.“
„Hier dürfen wir uns nicht
schonen“ Reinelt sprach sich mit dem evangelischen Landesbischof ab. Der
sollte die „Wir wollen nicht schießen“-Losung in Leipzig verbreiten, Reinelt blieb
in der Dresdner Hofkirche und informierte über die Ergebnisse der ersten Verhandlungen
zwischen Demonstranten und Regime. „Und ich muss sagen, das war ein Höhepunkt in meinem
Bischofsleben“, sagt der fast 73-Jährige 20 Jahre später. Eine politische Veranstaltung
in der katholischen Kirche? „Ich habe eine politische Versammlung ganz bewusst in
der Kirche zugelassen, weil ich gesagt habe, hier müssen wir den Menschen helfen,
hier dürfen wir uns nicht schonen, dürfen auch nicht Prinzipien eisern durchhalten,
hier muss alles für die Menschen getan werden, die ja wirklich auch durch die Stadt
gejagt worden sind.“
Die Stadt sei vereint gewesen, über Konfessionen und
Weltanschauungen hinweg, erinnert sich der Bischof. Zweimal musste die Veranstaltung
hintereinander abgehalten werden, zu groß war der Andrang. Unter den 8.000 Menschen,
die in der Hofkirche in der ersten Runde Platz fanden, war auch der heutige Bischof
von Görlitz, Konrad Zdarsa, vor 20 Jahren Pfarrer im nahen Freital. Als er Richtung
Dresden fuhr, hatten Polizisten am Straßenrand noch sein Autokennzeichen aufgeschrieben:
„So ging das, um Dresden möglichst klein zu halten. Aber aussichtslos. In der Hofkirche
rief einer: ,Da muss ich erst in die Kirche gehen, um Informationen zu bekommen!’“
Der
Durchbruch Der 9. Oktober war der Durchbruch. Bischof Reinelt: „Da war
wirklich eine derartige Stimmung, dass man merkte: Jetzt beginnt es, jetzt geht was
los.“ Mindestens 20.000 Menschen waren bei den Informationsveranstaltungen in Dresden,
70.000 bei der Montagsdemonstration in Leipzig - trotz Angst vor Waffeneinsatz. Reinelt
sagt heute: „Ich habe dann von Leipzig von dem guten Ausgang gehört und habe nicht
gewusst, dass man den Leipzigern die Absprache mit dem SED-Funktionär nicht vorher
mitgeteilt hat. Die sind also noch zitternd auf die Straße gegangen.“