Sonntag: Ansprache an Ökumene-Vertreter im Wortlaut
Christen sind nach Worten von Papst Benedikt XVI. zur Ökumene verpflichtet, um «Europa
seine Wurzeln in Erinnerung zu rufen». Ein europäisches Verständnis von Gerechtigkeit,
Freiheit und sozialer Verantwortung sei vom christlichen Erbe geprägt, sagte der Papst
bei einem Ökumenetreffen mit Vertretern zehn christlicher Bekenntnisse am Sonntag
in der Prager Burg. Nachdrücklich wandte sich Benedikt XVI. gegen eine Verbannung
des Christentums aus dem öffentlichen Leben.
Wir dokumentieren die Ansprache
in einer deutschen Übersetzung:
Meine sehr verehrten Herren Kardinäle und Mitbrüder
im Bischofsamt! Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Ich danke dem allmächtigen
Gott für die Gelegenheit, mit Ihnen, den Vertretern der verschiedenen christlichen
Gemeinschaften dieses Landes, zusammenzukommen. Ich danke Herrn Doktor Černý, dem
Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen in der Tschechischen Republik, für
die freundlichen Begrüßungsworte, die er in Ihrer aller Namen an mich gerichtet hat.
Meine
lieben Freunde, Europa durchlebt weiterhin viele Veränderungen. Es ist kaum zu glauben,
dass erst zwei Jahrzehnte vergangen sind, seitdem der Zusammenbruch der damaligen
Regime den Weg für einen schwierigen, aber fruchtbaren Übergang zu einer demokratischen
politischen Struktur geebnet hat. Während dieser Zeit haben sich Christen mit anderen
Menschen guten Willens zusammengeschlossen, um zum Aufbau eines gerechten politischen
Gefüges beizutragen, und sie stehen weiterhin im Dialog miteinander, um neue Wege
für gegenseitiges Verständnis, Mitwirkung am Frieden und Förderung des Gemeinwohls
zu bahnen.
Nichtsdestoweniger wurden neue Versuche unternommen, den Einfluss
des Christentums auf das öffentliche Leben zurückzudrängen – zuweilen unter dem Vorwand,
dass seine Lehre schädlich sei für das Wohl der Gesellschaft. Dieses Phänomen gibt
uns zu denken. Wie ich in meiner Enzyklika über die christliche Hoffnung dargelegt
habe, soll uns die künstliche Trennung des Evangeliums vom intellektuellen und öffentlichen
Leben veranlassen, sowohl eine „Selbstkritik der Neuzeit“ als auch eine „Selbstkritik
des neuzeitlichen Christentums“ vorzunehmen, vor allem in Bezug auf die Hoffnung,
die das Denken der Neuzeit und das Christentum der Menschheit anbieten können (vgl.
Spe salvi, 22). Fragen wir uns, was das Evangelium der Tschechischen Republik und
ebenso auch ganz Europa heute zu sagen hat – in einer Zeitepoche, die durch ein Anwachsen
verschiedenster Weltanschauungen geprägt ist?
Das Christentum hat auf der sozialen
und ethischen Ebene viel zu bieten; denn das Evangelium hört nie auf, Menschen anzuregen,
sich selbst in den Dienst ihrer Brüder und Schwestern zu stellen. Nur wenige würden
dies bestreiten. Außerdem wissen jene, die mit den Augen des Glaubens ihren Blick
auf Jesus von Nazaret gerichtet haben, dass Gott uns eine tiefere Wirklichkeit zeigt,
die jedoch untrennbar mit der „Ökonomie“ der Liebe verbunden ist, die in dieser Welt
erfahrbar wird (vgl. Caritas in veritate, 2): Er schenkt Heil.
Der Begriff
des Heils hat verschiedene Bedeutungen, und doch drückt er etwas Grundlegendes und
Universales über die Sehnsucht des Menschen nach Wohlergehen und Ganzheit aus. Das
Heil bezieht sich auf das sehnliche Verlangen nach Versöhnung und Gemeinschaft, das
wie von selbst in der Tiefe des menschlichen Geistes erwacht. Es ist die zentrale
Wahrheit des Evangeliums und das Ziel, auf das jegliche Evangelisierung und pastorale
Tätigkeit hingeordnet sind. Und es ist der Maßstab, an dem die Christen immer wieder
neu ihren Blick orientieren, wenn sie sich bemühen, die Wunden vergangener Spaltungen
zu heilen.
In dem Zusammenhang hat der Heilige Stuhl – wie Herr Dr. Černý erwähnte
– im Jahre 1999 zu einem Internationalen Symposium über Jan Hus eingeladen, welches
die Erörterung der komplexen und turbulenten Religionsgeschichte dieses Landes und
Europas im allgemeinen weiterführt (vgl. Johannes Paul II., Grußwort an die Teilnehmer
eines internationalen Hus-Symposiums an der Lateran-Universität, 17. 12.1999). Ich
bete dafür, dass solche ökumenischen Initiativen Frucht tragen nicht nur im Bemühen
um die Einheit der Christen sondern auch um das Wohl aller Europäer.
Es erfüllt
uns mit Zuversicht zu wissen, dass die kirchliche Verkündigung des Heils in Christus
Jesus immer alt und immer neu ist; sie gründet in der Weisheit der Vergangenheit und
ist überreich gefüllt mit Hoffnung für die Zukunft. Wenn Europa die Geschichte des
Christentums vernimmt, hört es seine eigene Geschichte. Sein Verständnis von Gerechtigkeit,
Freiheit und sozialer Verantwortung wie auch die kulturellen und rechtlichen Institutionen,
die dazu geschaffen wurden, dieses Gedankengut zu bewahren und den zukünftigen Generationen
zu übermitteln, sind vom christlichen Erbe geprägt. Tatsächlich belebt seine Rückbesinnung
auf die Vergangenheit seine Erwartungen für die Zukunft.
Daher stützen sich
die Christen auf das Beispiel bedeutender Persönlichkeiten, wie die des heiligen Adalberts
und der heiligen Agnes von Böhmen. Ihr Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums
war von der Überzeugung getragen, dass Christen nicht ängstlich vor der Welt zurückzuschrecken
brauchen, sondern dass sie furchtlos den Schatz der ihnen anvertrauten Wahrheit mit
anderen teilen sollen. Ebenso müssen die Christen heute, wenn sie den gegenwärtigen
Gegebenheiten offen begegnen und all das anerkennen, was in der Gesellschaft gut ist,
auch den Mut haben, die Menschen zu einer radikalen Umkehr einzuladen, die sich aus
einer Begegnung mit Christus ergibt und in ein neues Leben der Gnade führt.
Aus
dieser Sicht verstehen wir besser, warum Christen verpflichtet sind, sich mit anderen
zu vereinen, um Europa seine Wurzeln in Erinnerung zu rufen. Das ist nicht deshalb
nötig, weil diese Wurzeln schon längst vertrocknet wären. Ganz im Gegenteil! Es ist
nötig, weil diese Wurzeln weiterhin – auf unscheinbare, aber doch fruchtbare Weise
– die geistige und moralische Grundlage des Kontinents liefern, damit dieser in einen
sinnvollen Dialog mit Menschen anderer Kulturen und Religionen treten kann. Gerade
weil das Evangelium keine Ideologie ist, beabsichtigt es nicht, die entstehenden sozial-politischen
Gegebenheiten in ein starres Schema zu pressen. Vielmehr steht es über den Veränderungen
dieser Welt und wirft in jeder Zeitepoche neues Licht auf die Würde der menschlichen
Person. Liebe Freunde, bitten wir den Herrn, er möge uns den Geist der Stärke eingießen,
damit wir die unvergängliche Wahrheit des Heils verkünden, die den sozialen und kulturellen
Fortschritt des Kontinents geprägt hat und ihn weiterhin prägen wird.
Durch
das Heil, das uns durch Jesu Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt geschenkt ist,
werden wir, die wir an ihn glauben, nicht nur erneuert, sondern es drängt uns auch,
die Frohe Botschaft mit anderen zu teilen. Die Geistesgaben der Erkenntnis, der Weisheit
und der Einsicht (vgl. Is 11,1-2; Ex 35,31), die uns erleuchten und befähigen, die
von Jesus Christus gelehrte Wahrheit zu verstehen, mögen uns anregen, uns unermüdlich
für die Einheit einzusetzen, die er für all seine in der Taufe wiedergeborenen Kinder
wie auch für die ganze Menschheit ersehnt.
Mit diesen Wünschen und in brüderlicher
Zuneigung Ihnen und allen Mitgliedern Ihrer jeweiligen Gemeinschaften gegenüber möchte
ich Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen und empfehle Sie dem Allmächtigen Gott,
der unsere Burg, unsere Festung und unser Retter ist (vgl. Ps 144,2). Amen.