Zum Auftakt seiner dreitägigen Tschechien-Reise hat Papst Benedikt XVI. an den Sturz
des Kommunismus vor 20 Jahren erinnert. Der Fall der Berliner Mauer stelle „einen
Scheidepunkt in der Weltgeschichte dar“, sagte der Papst am Samstagmittag bei der
Willkommenszeremonie auf dem Prager Flughafen. Die Befreiung von unterdrückerischen
Regimen habe die Länder Mittel- und Osteuropas befähigt, ihren „rechtmäßigen Platz
als unabhängige Akteure im Konzert der Völker einzunehmen“.
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die gesamte Rede des Papstes auf Deutsch
(Prag, Flughafen Stará Ruzyne,
26. September 2009)
Sehr geehrter Herr Präsident!Hochwürdigste Kardinäle, liebe
Mitbrüder im Bischofsamt! Exzellenzen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue
mich, heute unter Ihnen in der Tschechischen Republik zu sein, und bedanke mich bei
Ihnen allen für die herzliche Begrüßung. Ich danke Herrn Präsident Václav Klaus für
die Einladung, dieses Land zu besuchen, und für seine freundlichen Worte. Die Anwesenheit
von Vertretern des öffentlichen Lebens und der politischen Parteien ehrt mich, und
ich begrüße Sie alle zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern der Tschechischen Republik.
Da ich hauptsächlich gekommen bin, um die katholischen Gemeinden von Böhmen und Mähren
zu besuchen, gilt mein herzlicher brüderlicher Gruß Herrn Kardinal Vlk, dem Erzbischof
von Prag, Herrn Erzbischof Graubner von Olmütz, dem Präsidenten der tschechischen
Bischofskonferenz, sowie allen heute hier versammelten Bischöfen und Gläubigen. Besonders
berührt hat mich die Geste der beiden Jugendlichen, die mir für die Kultur dieses
Volkes typische Gaben und ein Gefäß mit Erde dieses Landes überreicht haben. Das hat
mich daran erinnert, wie tief die tschechische Kultur vom Christentum geprägt ist,
da das Brot und das Salz, wie Sie wissen, eine besondere Bedeutung in der Symbolik
des Neuen Testaments haben.
Die gesamte europäische Kultur ist von seinem
christlichen Erbe tief geprägt worden, und dies gilt besonders für die tschechischen
Lande. Denn infolge der Missionsarbeit der Heiligen Cyrill und Methodius im 9. Jahrhundert
wurde die alte slawische Sprache zum ersten Mal niedergeschrieben. Sie sind Apostel
der slawischen Völker und Gründer ihrer Kultur und werden mit Recht als Patrone Europas
verehrt. Zugleich sei hervorgehoben, daß diese zwei großen Heiligen der byzantinischen
Tradition hier den Missionaren des lateinischen Abendlandes begegnet sind. Im Laufe
seiner ganzen Geschichte ist dieses Gebiet im Herzen des Kontinents, im Schnittpunkt
zwischen Norden und Süden, Osten und Westen ein Treffpunkt für verschiedene Völker,
Traditionen und Kulturen geworden. Unbestreitbar hat dies gelegentlich zu Spannungen
geführt, die sich aber auf lange Sicht als eine fruchtbare Begegnung erwiesen haben.
Daraus ergibt sich die wichtige Rolle der tschechischen Lande in der Geistes-, Kultur-
und Religionsgeschichte Europas – zuweilen als Kriegsschauplatz, aber häufiger als
Brücke.
In den nächsten Monaten wird der 20. Gedenktag der „Samtenen Revolution“
begangen, die für dieses Land eine Zeit außergewöhnlicher Bedrängnis, eine Zeit strenger
Kontrolle des Gedankenaustauschs und kultureller Einflüsse zum Glück friedlich beendete.
Ich verbinde mich mit Ihnen und Ihren Nachbarn im Dank für Ihre Befreiung von jenen
Unterdrückungsregimen. Der Fall der Berliner Mauer stellte einen Scheidepunkt in der
Weltgeschichte dar, und er war es um so mehr für die Länder Mittel- und Osteuropas,
da sie befähigt wurden, ihren rechtmäßigen Platz als unabhängige Akteure im Konzert
der Nationen einzunehmen.
Dennoch darf der Preis von vierzig Jahren politischer
Unterdrückung nicht unterschätzt werden. Ein besonders schweres Leid für dieses Land
war der skrupellose Versuch der damaligen Regierung, die Stimme der Kirche zum Schweigen
zu bringen. Während der Geschichte Ihres Landes, von der Zeit des heiligen Wenzel,
der heiligen Ludmila und des heiligen Adalbert bis zur Zeit des heiligen Johannes
Nepomuk, gab es mutige Märtyrer, deren Treue zu Christus bei weitem lauter und klarer
gesprochen hat als die Stimme ihrer Henker. In diesem Jahr begehen wir den vierzigsten
Todestag des Dieners Gottes Kardinal Josef Beran, Erzbischof von Prag. Ich möchte
ihm sowie seinem Nachfolger Kardinal František Tomášek, den ich persönlich kennenlernen
durfte, Anerkennung zollen für ihr unbeugsames christliches Zeugnis angesichts der
Verfolgung. Sie und unzählige mutige Priester, Ordensleute und Laien haben die Flamme
des Glaubens in diesem Land lebendig bewahrt. Da nun die Religionsfreiheit wieder
hergestellt ist, rufe ich alle Bürger dieser Republik auf, die christlichen Traditionen,
die ihre Kultur geprägt haben, wieder zu entdecken, und ich lade die Christen ein,
weiterhin ihre Stimme vernehmen zu lassen, wenn die Nation sich den Herausforderungen
des neuen Jahrtausends stellt. „Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll,
und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist“ (Caritas in veritate, 78).
Die Wahrheit des Evangeliums ist für eine gesunde Gesellschaft unerläßlich, da sie
uns für die Hoffnung bereit macht und uns befähigt, unsere unveräußerliche Würde als
Kinder Gottes zu entdecken.
Herr Präsident, ich weiß von Ihrem Wunsch, daß
die Religion eine größere Rolle in den Belangen dieses Landes spielen möge. Die Fahne
des Präsidenten über der Prager Burg kündet das Motto “Pravda Vítĕzí – die Wahrheit
siegt“: Es ist meine aufrichtige Hoffnung, daß das Licht der Wahrheit weiterhin
diese Nation leiten wird, die im Laufe ihrer Geschichte durch das Zeugnis großer Heiliger
und Märtyrer so reich gesegnet wurde. In dieser naturwissenschaftlich geprägten Zeit
ist es aufschlußreich, sich das Beispiel des Augustinerabts aus Mähren Gregor Mendel
vor Augen zu führen, der mit seiner bahnbrechenden Forschung die Grundlage der modernen
Genetik gelegt hat. Ihm gilt nicht der Vorwurf seines Ordenspatrons, des heiligen
Augustinus, der es bedauerte, daß so viele sich „mehr damit befassen, Tatsachen
zu bewundern als ihre Ursachen zu ergründen“ (Epistula 120,5; vgl. Johannes
Paul II., Ansprache bei der Gedenkfeier zum 100. Todestag von Abt Gregor Mendel,
10. März 1984, 2). Der wahre Fortschritt der Menschheit wird am besten durch eine
solche Verbindung der Weisheit des Glaubens mit den Erkenntnissen der Vernunft gefördert.
Möge das tschechische Volk sich stets der Vorzüge dieser glücklichen Synthese erfreuen.
Noch
einmal möchte ich Ihnen allen meinen Dank aussprechen und Ihnen versichern, daß ich
mich freue, diese Tage bei Ihnen in der Tschechischen Republik zu verbringen, die
Sie voller Stolz „zemĕ Česká, domov můj“ nennen. Vielen Dank.