Mittwochabend, Parkplatz
am Bahnhof München-Solln. Ein ökumenischer Gottesdienst. Gut 1.000 Menschen gedenken
des getöteten S-Bahn-Fahrgasts Dominik Brunner.
Der 50-jährige Geschäftsmann
hatte am vergangenen Samstag vier Jugendliche vor der Attacke eines 17- und eines
18-Jährigen beschützen wollen. Noch aus dem Zug hatte er die Polizei informiert und
war am S-Bahnhof München-Solln mit den vier Kindern ausgestiegen. Dort waren die beiden
Täter, die offenbar Geld für Drogenkauf erpressen wollten, über ihn hergefallen und
hatten den am Boden liegenden Mann mit Schlägen und Tritten so schwer verletzt, dass
er im Krankenhaus starb.
Dominik Brunners Eingreifen und sein Tod haben in
Deutschland eine Debatte über Zivilcourage und Jugendgewalt losgelöst. Kritisiert
wird die Tat, wird das Fehlen der Überwachungskameras aber auch die jetzt losgetretene
Politikerdebatte selbst.
Eine Sendung von Birgit Pottler. Spirale
der Gewalt durchbrochen „Mit seinem Eingreifen hat er ein Signal gesetzt,
dass wir Gewalt und Erpressung beherzt entgegen treten müssen“, sagte am Mittwoch
der evangelische Pfarrer Christian Wendebourg bei der Trauerfeier in Solln. „Sein
Einsatz hat die Spirale der Gewalt unterbrochen.“ „Der Ruf nach staatlicher
Gewalt, um uns davor zu schützen, lässt sich kaum unterdrücken. Aber wir wissen es
selbst, damit zementieren wir nur die tödliche Spirale der Gewalt.“ Als Symbol
dafür lagen große runde Steine spiralförmig auf dem Asphalt. Am Ende der Trauerfeier
legten Besucher Rosen auf die Steine – ein Zeichen solidarischer Gewaltlosigkeit,
die die Gewalt besiegen soll. Der Aufruf der Geistlichen: Alle sollen ein Rosenblatt
mit nach Hause nehmen – „als Erinnerung und Zeichen mutig füreinander einzustehen
an allen Orten, an die wir im Alltag gestellt werden“. Auch der katholische
Pfarrer Wolfgang Neidl würdigte Brunners Zivilcourage und äußerte Bestürzung über
die Tat: „Betroffenheit, Bestürzung, Fassungslosigkeit - ja, auch Wut - waren in den
vergangenen Tagen unsere Begleiter. Und sie werden es wohl auch über diesen Abend
hinaus sein.“ Ein schwarzes Loch In der Tat:
Die reflexartige Debatte hält an, wird unter Politikern schärfer und auch innerhalb
der einzelnen Parteien widersprüchlicher. Änderungen im Jugendstrafrecht? Zumindest
aber mehr Videoüberwachung?
Die beiden Jugendlichen sitzen wegen des Verdachts
auf Mord aus niederen Beweggründen in Untersuchungshaft. Als Höchststrafe drohen zehn
Jahre Jugendarrest. Härtere Strafen? Erziehungswissenschaftler aber auch der Vorsitzende
des deutschen Richterbundes warnen: Ein höheres Strafmaß erhöhe nicht die Abschreckung.
Keine aktuelle Untersuchung belege, dass höhere Strafen die Anzahl der Straftaten
reduziere. Gleiches gilt für die Videoüberwachung. Hier belegen aktuelle Studien aus
England vielmehr, dass das Aufstellen von mehr Kameras an öffentlichen Plätzen keineswegs
dazu geführt hat, dass Straftaten unter Jugendlichen zurückgingen. Klaus Stüllenberg,
Vorsitzender der Stiftung Kriminalprävention: „Ich halte das für kompletten Umfug.
Das ist eine endlose Schraube. Damit verbunden ist dann die Frage, in welcher Gesellschaft
möchte ich leben? Natürlich kann man in jeden S-Bahn-Wagen eine uniformierte Sicherheitskraft
stellen, die dann auch sofort eingreift. Glauben Sie aber nicht, dass das die Täter
davon abhält, ihre Straftaten zu begehen. Diejenigen, die derartige Straftaten begehen,
interessieren sich im Moment, in dem sie das tun, weder für die Strafandrohung, noch
für die Frage, ob sie erkannt werden, weil das keine geplanten Taten sind.“
Warum
nicht? Was geht in den Jugendlichen vor? Mehrere Faktoren spielten eine Rolle, aber
eine klare Antwort gebe es nicht, sagt Michael Hermann, Soziologe und Mitarbeiter
der Katholischen Akademie in Rottenburg-Stuttgart. Zehn Jahre lang hat er jugendliche
Straftäter begleitet: „Was individuell in den Köpfen eines jugendlichen Gewalttäters
vorgeht, ist noch immer nicht klar. Es können psychologische, psychiatrische Auffälligkeiten
hinzutreten, aber insgesamt ist das für die Forschung noch etwas, was in einer Art
Black Box statt findet. Meine Erfahrung aus dem Strafvollzug ist, dass jugendliche
Gewalttäter das im Nachhinein selbst oft nicht wissen und große Schwierigkeiten haben,
ihr individuelles Verhalten zu erklären oder zu rationalisieren. Ganz eindeutig ist
bei solchen massiven Gewaltexzessen, wie wir sie jetzt in München erlebt haben, aber
Folgendes der Fall: Ein normalpsychologisches vernünftiges Denken und Abwägen auch
unter Berücksichtigung der zu erwartenden Strafen sowie der geltenden Moral und Ethik
findet bei Jugendlichen nicht statt.“ Auch längere Haftstrafen seien keine
langfristige Lösung. Das bestätigt die Erfahrung des evangelischen Gefängnisseelsorgers
Matthias Geist aus dem Bereich des Erwachsenenstrafrechts: „Ich erlebe tagtäglich
in den Gefängnissen menschliche Ohnmacht und Haftumstände, unter denen die Menschen
sich nicht tatsächlich bessern können. Meiner Ansicht nach geht es darum, dass wirklich
mit dem Menschen gesprochen wird, mit dem Menschen in Dialog getreten wird und der
Mensch in seiner Ganzheit gesehen wird. Freiheitsstrafen als allein seligmachendes
Mittel mit oft sehr sehr langen Strafen, die jeden Tag allein genommen, nicht wirklich
Sinn ergeben, helfen nicht weiter, sondern führen eher vom Ziel weg und bringen Menschen
oft erst recht wieder ins Gefängnis.“ Anti-Gewalt-Training Was
ist also zu tun? So entsetzt der Münchner Caritasdirektor Hans Lindenberger auch nach
wie vor über die Schlägerei und ihre Folgen ist, den Ruf nach härteren Strafen nennt
er „den zweiten Schritt“. „Der Schritt davor ist eigentlich die Sucht- und Gewaltprävention.
Und da müssten wir als Gesellschaft, als Verantwortungsträger, viel deutlicher hinschauen,
wie wir mit Kindern und mit Jugendlichen so umgehen, sie so pädagogisch gut und würdevoll
begleiten, dass sie nicht in die Sucht geraten, dass sie lernen bei Frustrationen
nicht die Faust zu bemühen.“ Möglichkeiten für diesen ersten Schritt Gewaltprävention
gibt es viele, meint auch der Anti-Gewalt-Trainer Ulrich Krämer: „Ich weiß, es
gibt eine Menge Ansätze, mit diesen Jugendlichen zu arbeiten. Das muss aber auch gut
durchgeführt werden. Vielfach werden Gelder nicht bewilligt, um mit den Jugendlichen
zu arbeiten. Vielfach werden auch menschliche Ressourcen nicht zur Verfügung gestellt,
also keine Trainer eingesetzt.“ Krämer führt Anti-Gewalt-Training auch für
schon auffällig gewordene Jugendliche durch. Einige kämen auch freiwillig: „Die
Jugendlichen merken ja auch, dass sie in bestimmten Bereichen nicht weiter kommen
und dass sie beispielsweise immer wieder mit der Justiz in Kontakt kommen. Oder sie
merken für sich selbst, dass sie ihre Impulse nicht kontrollieren können. Wir arbeiten
hier sehr intensiv. Wir arbeiten genau mit den Provokationspunkten, wir provozieren
selbst auch, wir desensibilisieren, wir arbeiten mit dem, was draußen zum Ausrasten
führt. Wir setzen uns stark mit der eigenen Biographie auseinander, damit sie vielleicht
erkennen, warum sie so reagieren. Aber für uns ist klar: Wir entschuldigen das Verhalten
nicht. Wir wertschätzen den Menschen, aber das negative Verhalten wird nicht entschuldigt,
sondern hart konfrontiert.“ „Innere Maßnahmen“ Vor
eineinhalb Jahren gab es einen ähnlichen Fall in München, ein Rentner hatte Jugendliche
auf das Rauchverbot in der U-Bahn hingewiesen und ist fast zu Tode geprügelt worden.
Auf U-Bahn-Fahrgäste und Fahrer dreinschlage Jugendliche meldeten 2008 auch Stuttgart
und Frankfurt, dazu Amokläufer in Schulen, erst an diesem Donnerstag im fränkischen
Ansbach. Der Mord jetzt in Solln hat die Debatte um Jugendgewalt wieder losgetreten
– leider auch Vorurteile. In Zahlen ausgedrückt ist die Jugendkriminalität leicht
zurückgegangen, zu nehmen so genannte „Rohheitsdelikte“, soll heißen: Die Hemmschwelle
sinkt.
Soziologe Michael Hermann erinnert daran, diese brutalen Gewalttaten
seien kein Massenphänomen: „Dies scheint ein Defizit zu sein, das durch bestimmte
soziologische gesellschaftliche Umstände in letzter Zeit verstärkt worden ist und
sich in solchen seltenen Gewalttaten entlädt. Es wäre falsch, anzunehmen, dass es
sich um ein massenhaftes Problem der jungen Generation in Deutschland handeln würde.“ Doch
eben „eine ganze Reihe“ von Jugendlichen litten unter Defiziten, so Hermann. Die Politik
müsse in allen Lebensbereichen aktiv werden: „Das ist nicht nur Bildung, das ist
auch die ökonomische Ausstattung. In einer modernen Gesellschaft werden die Spannungen
und Klüfte immer größer. Die Erwartungen der Gesellschaft an die nachwachsende Generation
sind sehr hoch. Es ist ein großer Kuchen an Wohlstand zu verteilen, die individuellen
Möglichkeiten daran zu partizipieren sind bei vielen Jugendlichen schlecht, so dass
es intensivster Anstrengungen bedarf, die Lebenssituation und die Zukunftsperspektiven
Jugendlicher insgesamt zu verbessern.“ Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick
sagte diese Woche: Um solche Verbrechen zu verhindern sei Bildung wichtig, „die Bildung
des Gemüts, des Herzens und der Seele“. Der Erzbischof forderte mehr gut ausgebildete
Lehrer, kleinere Schulklassen und eine Verstärkung der Polizei. Der Münchner Caritasdirektor
Lindenberger warnt die Politik vor rein äußeren Maßnahmen, hält dazu an, nach den
Ursachen zu fragen: „Da geschieht ja etwas in der Entwicklung der Gesellschaft.
Immer mehr gerade junge Menschen geraten an den Rand der Gesellschaft. An den Rand
einer Gesellschaft, die gerade in München reich und etabliert ist. Aber wer schaut
auf die Ränder der Gesellschaft?“ Tod der Zivilcourage? Am
Mittwochabend in München stehen gleichzeitig zum Beginn der Gedenkfeier alle Bahnen
und Busse der Stadt für eine Gedenkminute still. Viele Menschen bleiben auch auf offener
Straße stehen. Die Meldung der Münchner Verkehrsbetriebe: „Wir trauern um den Toten
und bekunden unsere Anteilnahme für die Hinterbliebenen. Gleichzeitig setzen wir ein
Zeichen für unsere Solidarität mit Menschen, die Zivilcourage zeigen.“
Zivilcourage.
Zunächst ein großes Wort. Stimmen von der Straße: „Ein schweres Wort. Es bedeutet
für mich, dass man – das ist schwer, zu sagen – dass man aus dem Bauch heraus richtig
handelt. – Ich versteh’ unter Zivilcourage, dass man anderen Menschen in jeglicher
Problemsituation hilft. – Zivilcourage bedeutet, mutiger zu sein, als die anderen.“ S-Bahnhof
München-Solln. Ein Mann hilft Kindern und bezahlt dafür mit dem Leben. „Hier starb
die Zivilcourage“ titelte das Hamburger Abendblatt. „Das hat einen unglaublichen Unterton,
aber da ist was dran“, sagt der Bundesvorsitzende vom Bund Deutscher Kriminalbeamter.
„Die schockierende Tat werde nicht gerade dazu animieren, in ähnlichen Situationen
mutig einzuschreiten.“ Können wir uns Zivilcourage nicht mehr leisten? Klaus Stüllenberg
von der Stiftung Kriminalprävention: „Ich denke, das Gegenteil ist der Fall: Wir
müssen uns Zivilcourage leisten. Das Problem besteht nur darin: wenn das nur einige
Teilnehmer unserer Gesellschaft tatsächlich tun und der Rest nur am Stammtisch oder
Kaffeetisch darüber spricht; im Sinne von man müsste doch, man sollte doch und in
der entscheidenden Situation dann eben doch als Zuschauer stehen bleibt.“ 15
Passanten sollen tatenlos zugesehen haben, als Dominik Brunner zu Tode geprügelt wurde.
Wegen unterlassener Hilfeleistung wird Polizeiangaben zufolge derzeit aber nicht ermittelt.
Stüllenberg: „Die Erfahrungen zeigen, dass Passanten oft mehr zuschauen, hilflos
sind und gar nicht genau wissen, ob sie sich einschalten sollen. Ich denke, das hängt
im Wesentlichen damit zusammen, dass wir in den vorangegangenen zwanzig Jahren gesamtgesellschaftlich
gelernt haben uns rauszuhalten. Die wenigen, die sich eingemischt haben, berichten
mitunter dann noch von unschönen Folgesituationen, von Vernehmungen bei der Polizei,
vor Gericht. Man werde vom Rechtsanwalt der Täter sozusagen auseinander genommen…
Das alles sind Einzelerfahrungen, die angeblich gemacht wurden, die aber stark kommuniziert
werden und dazu beitragen, dass das Gefühl, ,ich misch’ mich lieber nicht ein’, vorherrscht
vor dem ,ich muss mich einmischen, ich will mich einmischen als ein Teil dieser Gesellschaft’.“ „Mein
Leben mit Sicherheit nicht“ Münchens Oberbürgermeister Christian Ude sagte
dem Bayerischen Rundfunk, Gedenkminute und Andacht sollten zwar dem Opfer für seinen
Einsatz danken. Gleichzeitig werde aber auch von den Fahrgästen eingefordert: „Wer
Solidarität erleben will, muss sie auch praktizieren.“ Der Aufruf zur Zivilcourage
eint die politischen Lager, vereint Kirche und Politik. Caritasdirektor Lindenberger:
„Wir dürfen uns hier nicht zurückziehen. Ich appelliere und hoffe, dass das spontane
und solidarische Zusammenstehen von den Zeugen, die so etwas mitbekommen, trotzdem
wächst, dass wir mutig und selbstbewusst uns einmischen, nicht wegschauen, sondern
hinschauen. Das ist glaube ich, wirklich die Lösung: nicht wegschauen, sondern hinschauen
und uns darauf vorbereiten.“ Was riskieren wir für Solidarität, für den Einsatz
für andere? Noch einmal die Stimmen von der Straße: „Was ich dafür riskieren würde?
In gewissem Sinn etwas Körperliches, dass man verletzt wird. – Was soll ich jetzt
sagen? – Mein Leben mit Sicherheit nicht. Ich würde vielleicht Hilfe von Außen holen.
– Das hängt von der Situation ab. – Ziemlich viel. Alles, was in meiner Macht stehen
würde. Egoistischerweise denke ich, es ist realistisch zu sagen: ohne mich selbst
dabei in Gefahr zu bringen.“ Polizeipsychologen raten zur Vorsicht. Wer unüberlegt
eingreife, werde schnell selbst zum Opfer und könne nicht mehr helfen. Das Münchner
Opfer habe alles richtig gemacht, betont der Experte für Gewaltprävention: „Es
ist beispielsweise nicht sinnvoll, sich in eine Schlägerei einzumischen und mitzuschlagen.
Sinnvoll ist, erstens sofort die Polizei anzurufen, zweitens diejenigen, die in der
Umgebung stehen anzusprechen und zu versuchen, sie innerhalb kürzester Zeit zu einem
Kern zu formieren, der sich auflehnt.“
Der zuständige Münchner Staatsanwalt
würdigte den Einsatz des 50-jährigen Dominik Brunner als „vorbildlich“. Der Mann habe
das getan, „was wir alle tun sollten“. Das bayerische Kabinett beschloss am Mittwoch,
Brunner posthum mit dem Bayerischen Verdienstorden zu ehren. Ministerpräsident Horst
Seehofer nannte ihn ein „Vorbild für eine menschliche Gesellschaft“. Am Abend bei
der Gedenkfeier hieß es: „Als erstes soll nicht die Erinnerung an den Tod Dominik
Brunners bleiben, sondern seine Tat“.
Ein Gebet: „Wir bitten dich für alle,
die dabei waren: Verwandle die Bilder des Schreckens und der Gewalt durch deine Kraft
zu einem neuen Weg. Für die vier Jugendlichen, die sich gewehrt haben, die geschützt
wurden und schützen wollten; für die, die nicht schnell genug reagieren konnten oder
wollten: Lass sie und uns alle gemeinsam die Zuversicht zurück gewinnen, dass wir
Angst und Hass besiegen können.“