Mordechay Lewy ist
derzeit Botschafter Israels beim Vatikan, und darum ist es nicht erstaunlich, wenn
in der Vatikanzeitung „L`Osservatore Romano“ mal ein Artikel von ihm erscheint. Allerdings
ging es in Lewys Aufsatz, dem der „Osservatore“ vor ein paar Tagen eine Doppelseite
freiräumte, nicht etwa um die Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan: Stattdessen
schrieb Tel Avivs Spitzendiplomat am Tiber über ein historisches Thema, nämlich das
„Kreuz von Jerusalem“. Lewy hat Geschichte studiert, bekam dafür von der Hebräischen
Universität in Jerusalem 1974 seinen Abschluß „summa cum laude“ – und interessiert
sich besonders für das Christentum des Mittelalters. In der Vatikanzeitung stellte
er nun eine These über die Herkunft und Bedeutung des Kreuzes von Jerusalem vor –
des Kreuzes also, das man bei der jüngsten Papstreise ins Heilige Land oft, vor allem
in Jerusalem, auf Fahnen oder Altardekorationen gesehen hat. Das Kreuz von Jerusalem
besteht aus einem so genannten griechischen Kreuz, also beide Balken gleich lang,
umgeben von vier kleinen Kreuzen jeweils in den vier Ecken. Es wird heute nicht nur
von den Franziskanern im Heiligen Land, vom Lateinischen Patriarchat Jerusalems oder
den Grabesrittern als Signet verwendet, sondern findet sich auch in der Landesflagge
von Georgien oder dem Wappen von Aix-en-Provence. In populären Filmen über die
Kreuzfahrer ist dieses Jerusalemer Kreuz oft zu sehen, als hätten es sich die christlichen
Angreifer auf ihre Fahnen geschrieben. Doch das ist, wie Lewy betont, ein Irrtum:
Während der hohen Zeit der Kreuzzüge ist das Jerusalemer Kreuz nämlich gar nicht belegt.
Woher kommt es dann aber, wenn es mit den Kreuzzügen nichts zu tun hat? Im 9. Jahrhundert,
also noch vor dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug, taucht das Jerusalemer Kreuz auf einem
Reliquiar im Aachen Karls des Großen auf. Ob es schon einen Bezug zu Jerusalem hat,
ist ungewiß. Dann verschwindet es über Jahrhunderte – um auf einmal im Jahr 1300 in
einer italienischen Kapelle wieder zu erscheinen. Im „Jüngsten Gericht“ des Giotto
in Padua schwenken zwei Engel, rechts und links vom richtenden Christus, jeweils eine
weiße Fahne mit dem Kreuz von Jerusalem darauf. Der Kontext hat mit Kreuzfahrern nichts
zu tun – aber schon mit Jerusalem als dem Ort der Letzten Wiederkunft Jesu. Es
vergeht ein halbes Jahrhundert, bis das Jerusalemer Kreuz in einer Miniatur auch einmal
das Schiff von Kreuzfahrern schmückt – und auf den Münzen von christlichen Herrschern
auftaucht, die gerne auch über Jerusalem regieren würden. Allerdings: Die großen Kreuzzüge
sind da längst vorüber, Jerusalem ist schon lange verloren, selbst Akko, letzte Festung
der christlichen Ritter, ist 1291 gefallen. Also: Den Sturm auf Jerusalem bedeutet
das rätselhafte Kreuz nicht, oder nicht in erster Linie. Was aber dann? Botschafter
Lewy zitiert in seinem Aufsatz Thomas von Aquin, ein Messbuch und eine Züricher Wappenrolle
des 14. Jahrhunderts, um eine eigene Theorie zu entwickeln: Danach bedeuten die insgesamt
fünf Kreuze die fünf Wunden Jesu am Kreuz. Viel wichtiger als der heraldische sei
also der theologische Gehalt des Zeichens. Mitte des 14. Jahrhunderts werden dann
die Franziskaner vom Papst zu den Hauptverantwortlichen für Pilgerfahrten und Pilgerbetreuung
im Heiligen Land ernannt – und sie sind sehr angetan vom Bild der fünf Kreuze, das
an die Wunden des Gekreuzigten erinnert. Trug nicht auch ihr Ordensgründer, der heilige
Franz von Assisi, fünf Stigmata, die den Wunden Jesu entsprachen? Von nun an sind
es also die Franziskaner, die für die Verbreitung des Kreuzes von Jerusalem sorgen,
vor allem für Pilgerfahrten von Europa aus. Schon Ende des 14. Jahrhunderts ist das
Kreuz eine Art Abzeichen für Pilger, die die Wallfahrt in die Heilige Stadt absolviert
haben; was den Jakobspilgern die Muschel, ist den Heilig-Land-Pilgern das Fünferkreuz.
Eine interessante These, die Israels Botschafter beim Vatikan über das Jerusalemer
Kreuz entwickelt. Ein ungewöhnliches Beispiel für Kulturaustausch ist es obendrein. (or
02.09.2009 sk)