Der Gebrauch von Religiösem
im weltlichen Kontext ist seit Jahren ein weit verbreitetes Phänomen: Hildegard-von-Bingen-Kochbücher
versprechen Wohlbefinden, TV-Talkmaster erteilen Absolution, Fußball-Fangesänge muten
wie Choräle an. Auch im Popmusikgeschäft wird sich mal mehr, mal weniger offensichtlich
religiöser Inhalte bedient. Derzeit macht wieder einmal die Sängerin Madonna Schlagzeilen;
gegen ihre Konzerte in Polen und Bulgarien, die beide an hohen kirchlichen Feiertagen
stattfanden, wurde heftig protestiert. Auch an einem anderen Popkünstler ist seit
geraumer Zeit kein Vorbeikommen: Michael Jackson. Welchen Hintergrund die Proteste
gegen Madonna haben und wie beide Sänger sich religiöse Symbole und Inhalte zu eigen
mach(t)en, erklärt die Musikwissenschaftlerin und Theologin Christine Lauter in einer
Analyse für uns.
Dass die Popsängerin Madonna gerne mit religiösen Inhalten
kokettiert, ist längst bekannt. Allein schon ihr Künstlername lässt auf eine nicht
eindeutige Beziehung zur katholischen Kirche schließen. Bereits zu Beginn ihrer Karriere
erregte Madonna Aufsehen mit Symbolen der Kirche in denkbar unpassendem Kontext. Während
der letzten Jahre sind Madonnas Äußerungen zur Religion zum Selbstläufer geworden,
kaum einer nahm diese mehr ernst - weder Medien noch Kirche regten sich auf. Vielleicht
ist das auch ein Grund dafür, warum die Sängerin in ihrer letzten Bühnenshow vor drei
Jahren alle Register der Provokation zog und eine regelrechte Polemik um ihre Person
entfachte: In sakraler Atmosphäre ließ Madonna 2006 zu Orgelmusik ein Kreuz aufrichten,
an das sie selbst, eine Dornenkrone tragend, gefesselt war. Dazu im Hintergrund Projektionen
von Bibelversen. Etliche weitere Symbole des Christentums und anderer Religionen tauchten
hier und dort auf. Passenderweise war die Tour „Confessions“, also „Beichten“ betitelt.
Kein Wunder also, dass Stimmen im Vatikan und in Diözesen rund um den Globus laut
wurden und zum Boykott der Konzerte aufriefen. Die Befürchtung, dass sich Madonna
in ihrem Konzert in Warschau an Mariä Himmelfahrt ähnlich in Szene setzen könnte,
förderte eine ganze Protestbewegung zu Tage. Gleiches geschieht derzeit in Bulgarien,
wo die Sängerin an diesem Samstag, dem Fest Johannes des Täufers, auftreten will.
Madonna
nutzt religiöse Symbole, um Aufsehen zu erregen. Dies gelingt ihr immer wieder, indem
sie ein Tabu nach dem anderen bricht – meist genau dann, wenn es etwas ruhiger um
ihre Person geworden ist, wenn ihre Karriere stagniert. Eine wirkliche Aussage steht
hinter dem Gebrauch von christlichen Symbolen jedoch nicht. Wenn Madonna sich am Kreuz
hängend in Szene setzt, will sie Tabus brechen und damit provozieren, nicht den Erlösertod
für sich in Anspruch nehmen.
Das Zitieren religiöser Symbole im Popbusiness
kann aber auch ganz anders aussehen. Nicht zu Provokationszwecken und zum Tabubruch,
sondern wesentlich subtiler benutzte Michael Jackson die Aura des Religiösen und feierte
damit große Erfolge. Die Massenverherrlichung des selbsternannten „King of Pop“ findet
auch zwei Monate nach dessen Tod kein Ende. Seine mediale Allgegenwart bietet Anlass
genug, das Phänomen „Michael Jackson“ einmal genauer unter die theologische Lupe zu
nehmen. Eine schier unendliche Auswahl an Beispielen erschließt sich beim näheren
Blick auf Michael Jacksons Werk. Stellvertretend sei deshalb nur ein Text und die
dazugehörige Bühnenshow untersucht. 1991 veröffentlichte der Sänger den Song „Will
you be there“, Text und Musik stammen beide aus seiner eigenen Feder. Der Song beginnt
mit einem Zitat des Schlusssatzes von Beethovens Neunter Symphonie. Dies ist zwar
ein weltliches Werk, doch lautet der Text im Chor: „Ahnest du den Schöpfer, Welt?
/ Such’ ihn über’m Sternenzelt!“
Ein Kinderchor setzt ein, das Hauptthema
des Songs wird auf der Hammondorgel vorgestellt, dem meistgebrauchten Instrument in
amerikanischen Gottesdiensten. Erst nach mehr als zwei Minuten setzt der eigentliche
Interpret, Michael Jackson, mit seinem Gesang ein. Was er singt, mutet wie ein Gebet
an – besonders nach dem ausgiebigen Aufbau einer sakralen Aura: „Halte mich wie
der Fluss Jordan, trag mich, liebe mich – wenn es mir schlecht geht, wirst du da sein
für mich? Sie sagten mir, ich solle glauben und bis zum Ende durchhalten, aber ich
bin nur ein Mensch. Jeder kontrolliert mich, es scheint, die Welt habe eine Aufgabe
für mich.“
Er ist der Leidende, der sich nach Liebe, Trost und Geborgenheit
sehnt. Er ist der Unverstandene, das Opfer. Doch erfährt der Text nach mehreren solcher
Aufforderungen eine unerwartete Wendung: Plötzlich ist es nicht mehr das Gegenüber,
das für ihn da sein soll. Nein, wenn dieses Gegenüber ihn trägt, ihn liebt, ihn heilt
– dann wird er für es da sein. Nicht mehr „Will you be there“ heißt es, sondern „I
will be there“. Den letzten Abschnitt des Songs bildet ein gebetsartig gesprochener
Teil, der wiederum mit sakral anmutendem Chorgesang begleitet ist und die inhaltliche
Wende weiter ausführt.
Diese Wende im Zusammenhang des ganzen Songs betrachtet
sagt: Nicht Gott, das Gegenüber, das er um Beistand bittet, sondern Jacksons eigene
Fangemeinde soll ihm beistehen. Er selbst verspricht seinen Anhängern Seelenheil,
solange sie ihm nur nachfolgen. All das erinnert enorm an Jesu Aufforderungen an seine
Jünger im Neuen Testament.
Dass diese Verbindung nicht nur Interpretation
ist, zeigt die Bühnenshow zum selben Song: Ein Gospelchor füllt die Bühne, teils sind
die Sänger in liturgische Gewänder gehüllt, teils als Sklaven oder Indianer verkleidet.
Tänzer scharen sich um Michael Jackson, heben ihn an den Beinen hoch, er breitet die
Arme aus und neigt den Kopf zur Seite – zur Kruzifixhaltung, die Tänzer falten ihre
Hände vor der Brust wie zum Gebet. Kinder überreichen ihm einen Globus, legen die
Welt in seine Hände, ein großes Buch, auf dem ein Kreuz abgebildet ist, betrachten
der Sänger geradezu ängstlich, als ob das Buch ihr eigenes Schicksal zum Inhalt habe.
Zwischendurch immer wieder Einblenden von jubelnden Fanscharen, die Michael Jackson
mit Segensgebärden grüßt; aufgewühlte junge Frauen finden in seiner Umarmung Halt.
Die
Botschaft ist eindeutig: Aus dem Opfer, das mit seinen schulterlangen, lockigen Haaren
der traditionellen Jesusikonographie erheblich nahe kommt, wird die messianisch verkitschte
Erlöserfigur Jackson, der in seinem Leiden die Leiden seiner Jünger im Publikum, der
Sklaven und Indianer auf der Bühne, der ganzen Welt stellvertretend auf sich nimmt.
Die popkulturelle Heiligenverehrung hat die profane Sphäre verlassen. Religiöse Symbole
und Inhalte sollen hier nicht wie bei Madonna Blickfänger sein, sondern auf einen
eigenen Inhalt, einen wahren Religionsersatz verweisen. Ihre ursprüngliche Bedeutung
wird umgekehrt, die Symbole verweisen nicht mehr auf kommendes Heil, sondern werden
Teil des Profanen.
Auch nach dem Tod des Sängers hört dieser Personenkult nicht
auf, vielmehr übersteigert er sich selbst: Die Begräbnisfeier begrüßt den Sarg mit
Jacksons Leichnam mit dem Gospel „Bald werden wir den König, den King sehen“ – und
meint damit doch den „King of Pop“ –, Reverends predigen sein Großmenschentum, und
alle Anschuldigungen rund um Kindesmissbrauch scheinen vergessen. Thomas Gottschalk
spricht in seinem Nachruf in der Bild-Zeitung vom „Messias einer Musikgeneration,
für den er sich hielt und der er zweifelsohne war“. Offenbar hat der Sänger geschafft,
was er mit seinen Texten, seiner Musik, nicht zuletzt aber mit einer Selbstdarstellung
fern dieser Welt erreichen wollte: Er ist der „King of Pop“, der König im Pophimmel,
der seinen Anhängern über seinen Tod hinaus ewiges Heil verspricht. Dass er dies so
subtil, ganz ohne Protest der Kirche geschafft hat, ist der eigentliche Skandal, neben
dem der Aufruhr um Madonna zur Bagatelle wird.