Vatikan: „Europa darf Grenzen nicht aus Egoismus abschotten“
Im jüngsten Flüchtlingsdrama
vor der Mittelmeerinsel Lampedusa mit dutzenden Toten hat der Vatikan die EU-Länder
erneut dazu aufgerufen, die Menschenrechte von Migranten zu garantieren. Die europäischen
Gesellschaften dürften sich nicht „aus Egoismus verschließen“ gegenüber Menschen,
die wegen Hunger und Verfolgung nach Europa kämen. Das betonte der Präsident des Päpstlichen
Rates für die Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs, Kurienerzbischof
Antonio Maria Vegliò im Interview mit Radio Vatikan.
„Unsere so genannten
zivilen Gesellschaften haben eine starke Ablehnung gegenüber Ausländern entwickelt.
Diese ist nicht nur in der Unkenntnis des Anderen begründet, sondern auch in einem
Egoismus, in der fehlenden Bereitschaft, das Eigene mit dem Fremden zu teilen. Das
nimmt zum Teil extreme Ausmaße an, so dass viele ihren Wohlstand lieber mit Haustieren
als mit Flüchtlingen teilen. Deren Zahl wächst aber leider dramatisch. Laut der jüngsten
Statistiken sind seit 1988 fast 15.000 Menschen an den Grenzen nach Europa gestorben.
Der Päpstliche Rat für die Migranten ist bestürzt angesichts immer neuer solcher Tragödien
und betont das, was auch Papst Benedikt in seiner Enzyklika „Caritas in Veritate“
festgehalten hat: ‚Jeder Migrant genießt fundamentale, unveräußerliche Menschenechte,
die es in jeder Situation zu achten gilt.‘“
Bei der Überfahrt von Libyen
nach Italien sind in der vergangenen Woche nach Angaben Überlebender mindestens 73
eritreische Flüchtlinge an Entkräftung gestorben. Die italienischen Justizbehörden
ermitteln jetzt im Hinblick auf den Hergang des Unglücks. Dabei wurden Vorwürfe gegen
Malta laut, den fünf überlebenden Migranten verspätet Hilfe geleistet zu haben. Laut
italienischem Innenministerium habe die maltesische Marine das Boot bereits am Dienstag
gesichtet, den Überlebenden aber lediglich Wasser, Brot und Schwimmwesten zugeworfen.
Erst zwei Tage später seien sie von der italienischen Küstenwacht gerettet worden.
Die maltesischen Behörden wiesen die Vorwürfe zurück. Im Streit um die Verantwortlichkeit
der Tragödie unterstreicht der Vatikan: Solche Vorfälle können nur durch international
verbindliche Übereinkünfte zum Schutz von Migranten verhindert werden. Erzbischof
Vegliò:
„Zwar ist es auf der einen Seite wichtig und legitim, dass Staaten
die Grenzen auf dem Meer überwachen, um Einwanderung zu regulieren und humanitäre
Einsätze zu leisten. Aber auf der anderen Seite gibt es Menschenrechte, die geachtet
und geschützt werden müssen, und das ganz besonders in extremen Notsituationen, wenn
zum Beispiel Boote mit Flüchtlinge hilflos auf dem Meer treiben oder in Seenot geraten…
Der Papst hat deshalb dazu aufgerufen, die verschiedenen Gesetzesordnungen besser
aufeinander abzustimmen, mit der Perspektive, die Bedürfnisse und Rechte der emigrierenden
Personen und Familien zu gewährleisten ebenso wie die der Zielländer der Emigranten.“
Aufgrund
der kirchlichen Stellungnahmen im Bezug auf das Flüchtlingsdrama ist es ferner zu
Polemiken unter italienischen Politikern gekommen. Reformminister und Parteivorsitzender
der rechtsgerichteten Lega Nord, Umberto Bossi, hatte die Äußerungen der Bischöfe
am Samstag vor Journalisten als „sinnlos“ bezeichnet. Wörtlich sagte Bossi: „Warum
öffnet nicht der Vatikan, der Immigration unter Strafe stellt, seine Pforten?“ Der
Kirchenstaat solle selber mit gutem Beispiel vorangehen. Damit stieß der Reformminister
auf harsche Kritik seitens katholischer Verbände und Politiker. Der Vorsitzende der
Christdemokratischen Union, Pier Ferdinando Casini, nannte die Äußerungen Bossis eine
„Beleidigung für alle Italiener“.
Als unsachlich haben auch Juristen Bossis
Bemerkung kritisiert. „Die Straftat der Illegalen Einwanderung gibt es für den Staat
der Vatikanstadt praktisch nicht“, sagte gegenüber Radio Vatikan der Kirchenrechtler,
Giuseppe Della Torre:
„Natürlich gibt es Normen, die sowohl die Staatsbürgerschaft,
als auch den Zugang zur Vatikanstadt regeln. Es hat auch rechtliche Konsequenzen,
wenn man gegen diese Regeln verstößt. Aber man kann in dieser Hinsicht keinen direkten
Vergleich zwischen Italien und dem Vatikan, der aus dem apostolischen Palast und den
umliegenden Gärten besteht, anstellen. Das wäre so, als würde man Italien mit dem
Sitz des Präsidenten auf dem Quirinal vergleichen.“