D: „Kirche hat es mit Gerechtigkeitsproblem zu tun“
Gleich zwei große
Konferenzen drehten sich vergangene Woche um das Thema Migration. In Gambia sagten
die englischsprachigen Bischöfe Westafrikas, dass Auswandern ein fundamentales Menschenrecht
sei. Auf einer Konferenz im mexikanischen Gualdalajhara kündigte US-Präsident Barack
Obama an, die Immigrationspolitik der Vereinigten Staaten zu überprüfen. Klaus
Barwig ist Referent in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Michael Hermann
hat ihn gefragt, ob Migration, gerade die Migration junger Menschen, in Zeiten der
Globalisierung zu einem immer wichtigeren Thema wird.
„Natürlich. Zum einen,
weil für Menschen in den armen Regionen der Welt die Überlebenschancen geringer werden.
Und gerade junge Familienangehörige in die reichen Länder geschickt werden, um ihre
Familien – im wahrsten Sinne des Wortes – am Leben zu erhalten. Das geschieht im Moment
natürlich ganz überwiegend durch illegale Zuwanderung, weil andere Wege im Moment
nicht offen sind. Aber es gibt noch eine ganz andere Dimension. Allen Bevölkerungsexperten
ist inzwischen klar, dass unsere wohlhabenden Regionen in Europa und auch in Nordamerika
mehr oder weniger vergreisen werden. Zum Erhalt der Bevölkerungszahl bräuchten wir
derzeit eine jährliche Nettozuwanderung von mindestens 250.000 Menschen außerhalb
unseres Landes. Die Nettozuwanderung bewegt sich im Moment vielleicht bei etwa plus
10.000, allerhöchstens. Das heißt: Man sieht wie groß das Problem eigentlich schon
geworden ist. Aber darauf sind unsere Systeme derzeit überhaupt nicht eingestellt.
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die Traumata der 90er-Jahre mit jährlichen
Zuwanderungszahlen von 800.000 bis eine Million Menschen alleine nach Deutschland
fortwirke, und dass diese Traumata bis heute Ansätze blockieren, so wie gerade von
Obama geschildert, über gezielte Einwanderungspolitik qualifizierter Menschen aus
den ärmeren Regionen nachzudenken.“
Nehmen Ihrer Einschätzung nach Überfremdungsängste
in den Ländern, in die Migranten strömen, zu? Diesen Eindruck kann man zum Beispiel
hier in Italien gewinnen, wo die Gesetzgebung im Hinblick auf illegale Einwanderer
verschärft werden soll.
„Davon ist nach meiner Meinung auszugehen. Die Zeitungen
sind in Europa voll von Berichten, wie es Flüchtlingen ergeht, die an den Küsten Italiens,
Spaniens und Griechenlands anlanden. Ob noch lebendig oder nicht mehr lebendig. Das
Stichwort ist eindeutig Abschreckung. Und Abschreckung ist eines der wichtigsten Instrumente
unserer Politik, um dem Zuwanderungsdruck, dem die reichen Länder ausgesetzt sind,
zu begegnen. Dieser Zuwanderungsdruck, der früher stärker Deutschland traf - Deutschland
war lange Jahre führend in den Zuwanderungszahlen von Asylsuchenden -, dieser Zuwanderungsdruck
hat sich nun auf die Küsten der EU im Mittelmeerbereich und am Atlantik verlagert. Beispiele
für diese Politik sind das Verhalten Griechenlands, wo Flüchtlinge nicht ins Verfahren
kommen. Ein anderes Beispiel sind Flüchtlingslager, die inzwischen auf Betreiben Italiens
in Libyen unter den Augen des UNHCR etabliert wurden. Und das ist besonders tragisch.
Wenn man es dann mal genauer anschaut und sieht, wer sind eigentlich Flüchtlinge,
die über das Mittelmeer kommen, wenn sie aus der Türkei losfahren in diesen Seelenverkäufern:
Wie viele Christen, wie viele Mandäer, wie viele Jesiden sind auf diesen Schiffen,
die eben keine Wirtschaftsflüchtlinge sind, sondern die Menschen sind, denen der Rückweg
in die Heimat Irak, aus der sie fliehen mussten, auch in Zukunft versperrt sein wird."
Obama
sagte auf der Konferenz in Mexiko zu seinen Vorstellungen in der modernen Migrationspolicy:
„Wir wollen Fairness. Wir können ein System mit großer Sicherheit an den Grenzen und
mit klaren Regeln zur Einwanderung schaffen. Wir geben den hier lebenden Einwanderern
eine Chance, einen Weg zur amerikanischen Staatsbürgerschaft zu finden, so dass sie
nicht in dunklen Ecken leben müssen.“ Deutschland hat seine Staatsbürgerschaft ja
bereits reformiert. Sind diese Veränderungen aus Sicht der katholischen Kirche ausreichend?
„Ja,
es hat den Anschein, als drohe das Ganze auf halbem Weg stecken zu bleiben. Bei all
dem, was reformiert wurde, sehen wir dann doch, dass die Einwanderungszahlen stagnieren.
Und wenn wir die Haupteinbürgerungsgruppen, Haupteinwanderungsgruppen in Deutschland
anschauen, also zum Beispiel die Türken, dann geht es tendenziell sogar eher zurück.
Und man fragt sich dann schon: Was ist das Problem, wo wäre nachzubessern? Man stellt
schon fest, dass die Hürden insbesondere in den erhöhten Sprachanforderungen ganz
offensichtlich zu hoch sind. Und da tun es sich viele, besonders die erfolgreichen
Einwanderer, dann einfach nicht an, weil man sieht: Indem man hier erfolgreich ist
und war und indem man es auch schafft, seine Steuern zu bezahlen, seinen Lebensunterhalt
zu bestreiten, kann man in Deutschland auch leben, ohne dass man Deutscher wird. Vor
allem, wenn man das Gefühl hat, das ist vielleicht alles gar nicht so ernsthaft gewollt.
Was uns in Deutschland nach wie vor fehlt, ist eine Kultur, die sich endlich von dieser
Lebenslüge „Wir sind kein Einwanderungsland!“, die ja 50 Jahre gegolten hat, befreit
und die zur Kennntis nimmt, dass der überwiegende Teil derer, die hier sind, auch
hier bleiben werden und es insofern politisch unvernünftig ist, sich selber und denen,
die hier bleiben werden, die Illusion aufrecht zu erhalten, sie gehen dann irgendwann
doch. Das ist nicht die Basis für ein tragfähiges Zusammenleben derer, die aller Wahrscheinlichkeit
und aller Voraussicht nach zusammenleben werden. Wir haben noch ein anderes Problem
in der Staatsangehörigkeit: Eine Vielzahl von Kindern von eingewanderten Menschen,
von Ausländern, die sich seit langem hier aufhalten, bekommen automatisch zu der Staatsangehörigkeit
ihrer Eltern auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Allerdings mit der Bedingung verknüpft,
im Alter zwischen 18 und 23 Jahren zu optieren für eine der beiden. Also entweder
die ausländische zu behalten und die deutsche aufzugeben, oder die deutsche zu behalten
und damit dann die Staatsangehörigkeit der Eltern aufzugeben. Das wird erneut ein
Themenfeld werden, wo sich Menschen, die sich eigentlich dazugehörig fühlen, wieder
neu die Frage stellen: Gehöre ich eigentlich dazu oder gehöre ich nicht dazu? Der
Zusammenhang des Ganzen ist die Frage, lassen wir Doppelstaatsangehörigkeit zu oder
nicht. Es ist sehr aufschlussreich, dass gerade Deutschland mit der höchsten Doppelstaatlerzahl
in Europa genau an diesen Stellen, wo es um Leute geht, die eben hier bleiben werden,
wieder so restriktiv ist.“
Die Deutsche Bischofskonferenz hat 2005
ein Papier zu Migrationspolitik verabschiedet. Sie und Ihre Kollegen diskutieren derzeit
intensiv über die Umsetzung in der konkreten caritativen Praxis. Welche Schwierigkeiten
tun sich hier auf?
„Als große Institution in einer pluralistischen Gesellschaft
unterscheiden wir uns als katholische Kirche nicht wesentlich vom gesellschaftlichen
Befund und Umfeld. Wir haben es in diesem Zusammenhang nach meiner Meinung mit einem
Gerechtigkeitsproblem zu tun. Auch wenn 20 Prozent unserer Mitglieder - in unserer
Diözese Rottenburg-Stuttgart - Einwanderer sind und auch wenn es, um mit Paulus zu
sprechen, in der Kirche keine Ausländer gibt, unterscheiden wir uns nicht derart positiv,
dass wir der Gesellschaft ein positives Vorbild sein könnten. Auch in unseren katholischen
Privatschulen - und vielleicht sogar ganz besonders dort - und im gesamten Spektrum
unserer kirchlichen Ausbildungsstätten sind junge Migranten nicht anteilsgerecht vertreten.
Bis heute nicht. Wir versäumen bis heute, wahrzunehmen, unserer Gesellschaft ein Bild
zu vermitteln, welche positive Wirkungen es vermitteln könnte, wenn die Partizipation
der Zuwanderer klappen würde. Und ganz besonders tragisch für uns als Kirche: Es sind
unsere Mitglieder. Und mit dieser besonderen Verbindlichkeit ist eigentlich die Notwendigkeit,
entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, größer. Auf dieses Gerechtigkeits- und Partzipationsproblem
hat sich das Integrationspapier der Bischofskonferenz auch sehr selbstkritisch nach
innen geäußert.“
In der Öffentlichkeit hält sich hartnäckig das Bild, dass
Kriminalität in Deutschland im Wesentlichen von Migranten verursacht sei. Wie sieht
das die kriminalsoziologische Forschung? Wie sieht das die katholische Kirche?
„Das
Thema Kriminalität ist sehr emotional besetzt. Von Seiten der Kirche - wie auch in
der kriminologischen Forschung - wird immer wieder darauf hingewiesen: Man muss dringend
differenzieren und Dinge, die nicht zusammengehören, auch sauber auseinander halten.
Es sei denn, man hat ganz bestimmte politische Absichten. Man muss zunächst einmal
unterschieden: Der ehemalige Gastarbeiter, der seit 50 Jahren hier lebt und sein Auskommen
gefunden hat, ist doch ein völlig anderer Mensch, fällt aber unter dieselbe Kategorie
Ausländer wie derjenige, der sich mit krimineller Absicht Westeuropa aussucht, um
dort mit nicht legalen Mitteln etwas vom Kuchen abzukriegen. Das alles unter denselben
Begriff Ausländer zu packen, zeigt ja schon mal, wie fragwürdig die ganze Geschichte
ist. Was wir haben ist ein Problem unter bestimmten Gruppen junger Zuwanderer - Gruppen,
die nicht sehr integriert sind. Das weist schon auf ein Integrationsproblem hin, das
wir hier in der Gesellschaft haben. Da muss man dazu sehen, dass wir seit Jahren wissen,
dass unser Bildungssystem speziell in einigen Bundesländern es nicht schafft, Menschen
aus unteren sozialen Schichten und deren Kinder anzuheben. Man spricht von Vererbung
der Zugehörigkeit zu unteren sozialen Schichten. Und wenn wir wissen - das erleben
wir vor allem am Beispiel von italienischen Familien in Süddeutschland -, wie sich
Bildungsferne in unteren sozialen Schichten und Desintegration, wie sich das verstärkt,
dann ist es keine Frage, dass es bestimmte Gruppen von Menschen gibt, die, wenn sie
unter solchen Bedingungen aufwachsen, stärker gefährdet sind als andere. Wenn wir
es mal auf den Punkt gebracht haben, dass wir uns die Altersgruppe anschauen und dann
die Vergleichsgruppen, ist ganz interessant: Der normale „Ausländer“, der ehemalige
Gastarbeiter, ist geringer von Kriminalität betroffen als der vergleichbare Deutsche
einer solcher Schicht. Das sind jetzt keine Auseinanderdifferenzierungen, damit am
Schluss nichts mehr herauskommt. Sondern man muss wirklich sehen, wo wir ein Problem
haben.“
Der Täter ist also nicht mehr der Russe. Der Täter ist nicht immer
der Türke. Warum halten sich solche Vorurteile derart hartnäckig?
„Die
Schuld sucht man doch gern beim Anderen. Und weil der Ausländer ist, das Fremde verkörpert,
dann eignet er sich da besser. Da kann man viel sagen, was man dem Eigenen eigentlich
zutraut. Als Sündenböcke waren doch schon immer die Andersartigen besser geeignet.
Und man hat dann die Vorstellung, man könne den Sündenbock, das ist ja das Sprachspiel,
in die Wüste schicken. Wenn wir jetzt nochmal anschauen, wie die Einwanderungspolitik
der letzten Jahrzehnte gelaufen ist, wie man da immer gebetsmühlenhaft gesagt hat
„Wir sind kein Einwanderungsland!“, dann wird auch klar, was mit dem, der sich nicht
an die Normen hält, passiert. Da hat der nicht dazugehört. Und wer nicht dazugehört,
den kann man in die Wüste schicken. Und das sind Dinge, die halten sich besonders
dann so hartnäckig, wenn das Bild von Abwehr geprägt ist, selbst gegenüber denen,
die schon in der dritten Generation hier sind.“