Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte hat die Türkei verurteilt, weil der Staat eine Frau, ihre drei
Kinder und ihre Mutter nicht ausreichend vor der Gewalt des Ehemannes geschützt hat.
Die Türkei muss der 37-Jährigen mehr als 30.000 Euro Schmerzensgeld bezahlen. Der
Straßburger Beschluss stößt quer durch die Lager auf Beifall, obwohl ähnliche Kritik
von außen sonst häufig als Eingriff in innere Angelegenheiten verstanden wird. „Eine
Lektion für den Respekt vor Frauen“ nannte es das Boulevardblatt „Hürriyet“ am Donnerstag,
von einer verdienten „schallenden Ohrfeige“ schrieb die regierungsnahe Zeitung „Yeni
Safak“. Die Frau wurde von ihrem Ehemann über mehrere Jahre, zum Teil mit Messerstichen,
körperlich misshandelt. Nach jeder Anzeige seitens der Frau kam der Mann mit einer
Geldstrafe wieder frei. Die Türkin wurde Berichten zufolge immer wieder mit dem Tod
bedroht, wenn sie nicht die Anzeigen zurücknehmen würde. Als sie sich vor sieben Jahren
von ihm trennen wollte, erschoss er die Mutter der Frau. Der Türke bekam dafür eine
lebenslange Haftstrafe, gegen die er Berufung einlegte. Bis zum Abschluss des Verfahrens
ist er auf freiem Fuß. Erst nach dem Urteil vor dem Gerichtshof erteilte die türkische
Regierung Auflagen gegen den Mann, dass er sich der Frau nicht mehr nähern dürfe. Das
Urteil und die zugrunde liegende Tragik haben in der Türkei eine neue Debatte über
Männergewalt ausgelöst. Auch Polizei und Justiz, die solche Gewalt auch nach entsprechenden
Gesetzesreformen augenscheinlich noch zu oft hinnehmen, stehen in der öffentlichen
Kritik. Das Straßburger Gericht berief sich in der Urteilsbegründung auf Berichte
von Frauengruppen. Mehreren Untersuchungen zufolge werden 40 Prozent der türkischen
Frauen Opfer häuslicher Gewalt, nur wenige gehen zur Polizei. Die türkische Presse
bewertet das Urteil als historisch, weil es in seiner Begründung über den Einzelfall
hinaus eine „Kultur der Gewalt“ benennt, die oft toleriert werde. Der Rechtsexperte
der regierenden AKP forderte seine Regierung auf, nun „das Nötige zu tun“. Frauen-Aktivistinnen
nannten das Urteil „eine Chance für die Türkei, die Augen zu öffnen“. Die einzige
laute Kritik kam bislang von der AKP-Abgeordneten Güldal Aksit, sie findet das Urteil
„unfair“. Aksit ist die Vorsitzende des Gleichberechtigungsausschusses im Parlament.
„Leider“, wie die Zeitung „Radikal“ prompt kommentierte. (sz/pm 12.06.2009 bp)