Jerusalem – heilige
Stadt für drei Weltreligionen. Ein Porträt der Altstadt, von Stefan Kempis.
Juden
beten an der Klagemauer: Es ist Freitagabend, die Sonne geht unter, der Sabbath zieht
herauf. Für sie heißt diese Stadt Yerushalayim – Gründung des Gottes Shalem, aber
auch das Wort Shalom, Frieden, klingt da phonetisch mit an. Hier geschah nach jüdischer
Überzeugung die dramatische Szene der Opferung Isaaks; hier gründete David um das
Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung seine Hauptstadt, die sein Nord- und Südreich miteinander
verband, und hier erhob sich der Tempel, entstanden die Psalmen und die meisten Texte
des „Alten“ Testaments. Das jüdische Viertel Jerusalems ist die alte Oberstadt aus
der Zeit des Herodes – Kernpunkte: Jaffa-Tor, Davidsturm, Klagemauer. 70 nach Christus
wurde der jüdische Tempel zerstört und die Juden in alle Welt zerstreut. Heute sind
sie wieder hier und wollen sich nie wieder vertreiben lassen. Ihr manchmal aggressiv
demonstrierter Anspruch trägt zu einer nervösen Grundspannung in der Altstadt mit
bei.
Christen aus Indien folgen, mitten im Gassengewirr treppauf treppab, der
Via Dolorosa. Jerusalem ist für sie der Ort des Todes und der Auferstehung Jesu; es
gibt ein allgemein-christliches Stadtviertel, in dem sich vor allem die Grabeskirche
Jesu befindet, und ein ebenfalls christliches, kleineres Viertel der Armenier. Christen
in Jerusalem – das ist eine babylonische Mischung von Herkünften, Riten, Trachten
und Gebräuchen; ihr Verhältnis untereinander ist nicht immer nur herzlich, in der
Grabeskirche fliegen sogar manches Mal die Fäuste. Nirgends auf der Welt wird die
Spaltung der Christenheit so sichtbar zum Skandal wie ausgerechnet hier, an den christlichen
Heiligen Stätten. Kriege und Zerstörungen haben dazu geführt, dass vom Jerusalem,
das Jesus kannte, buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist.
Der
Muezzin ruft von der Al-Aksha-Moschee zum Gebet: Auch für Moslems ist Jerusalem eine
heilige Stadt, sie nennen sie al-Quds, die Entfernte, denn als solche wird sie im
Koran bezeichnet. Mohammed soll eines Nachts von Mekka aus hierhin entrückt worden
und von hier aus zu einem Besuch in den Himmel aufgefahren sein. Der überirdisch schöne
Felsendom mit seiner goldenen Kuppel ist der drittheiligste Ort des Islam – der heiligste
außerhalb der Arabischen Halbinsel. Die Schlüssel zum Tempelberg – einem Areal, das
ein Sechstel der Oberfläche der Altstadt einnimmt – hat ein von Jordanien bestallter
Funktionär.
Eine Stadt – drei Religionen auf engstem Raum, innerhalb der malerischen
Stadtmauer von 1542. Jerusalem, die Stadt auf dem Berg, ist voller Spannungen und
Widersprüche. Und sie wächst längst nach allen Seiten, teilweise chaotisch. Jerusalem
– Yerushalayim – El Quds. „Friede wohne in deinen Mauern“, betete der Psalmist und
betete auch Jesus. Das Gebet ist bis heute nicht so richtig in Erfüllung gegangen.