Pater Generalminister! Pater Kustos! Liebe Freunde!
An diesem heiligen Ort,
der durch das Andenken an Mose geweiht ist, grüße ich Sie alle herzlich in unserem
Herrn Jesus Christus. Ich danke dem Generalminister der Minderbrüder, Pater José Rodríguez
Carballo, für seinen liebenswürdigen Willkommensgruß. Bei dieser Gelegenheit möchte
ich auch persönlich und im Namen der ganzen Kirche den Brüdern der Kustodie für ihre
jahrhundertelange Präsenz im diesen Ländern, für ihre freudige Treue zum Charisma
des heiligen Franziskus und für ihr großzügiges Bemühen um das geistliche und materielle
Wohl der christlichen Gemeinden vor Ort und der unzähligen Pilger danken, die jedes
Jahr das Heilige Land besuchen. Ich möchte hier auch mit besonderer Dankbarkeit den
verstorbenen Pater Michele Piccirillo erwähnen, der sein Leben der Erforschung der
christlichen Antike gewidmet hat und in diesem ihm so teuren Heiligtum begraben ist.
Es ist angemessen, daß meine Pilgerreise auf diesem Berg beginnt, von dem Mose
aus der Ferne das verheißene Land erblickte. Die wunderbare Aussicht vom Vorplatz
dieses Heiligtums lädt uns ein, darüber nachzudenken, wie jene prophetische Vision
auf geheimnisvolle Weise den großen Heilsplan umfaßte, den Gott für sein Volk vorbereitet
hatte. Denn in diesem Jordantal, das unter uns liegt, sollte, als die Zeit erfüllt
war, Johannes der Täufer auftreten, um dem Herrn den Weg zu bereiten. In diesen Wassern
des Jordanflusses sollte Jesus nach seiner Taufe durch Johannes als geliebter Sohn
des Vaters offenbart werden und, gesalbt vom Heiligen Geist, sein öffentliches Wirken
beginnen. Und vom Jordan ausgehend sollte das Evangelium zuerst durch die Verkündigung
und die Wunder Christi verbreitet werden und dann nach seiner Auferstehung und der
Ausgießung des Geistes zu Pfingsten von seinen Jüngern bis an die Enden der Erde getragen
werden. Hier auf den Höhen des Bergs Nebo lädt uns das Gedenken an Mose ein, „unsere
Augen zu erheben“, um mit Dankbarkeit nicht nur Gottes große Taten in der Vergangenheit
zu betrachten, sondern auch um mit Glauben und Hoffnung in die Zukunft zu blicken,
die er für uns und für unsere Welt bereithält. Wie Mose hat er auch uns bei unserem
Namen gerufen, uns eingeladen, Tag für Tag aus der Sünde und der Sklaverei hinauszuziehen
ins Leben und in die Freiheit, und er hat uns ein unerschütterliches Versprechen gegeben,
uns auf unserem Weg zu begleiten. Im Wasser der Taufe sind wir aus der Sklaverei der
Sünde in ein neues Leben und eine neue Hoffnung hinübergetreten. In der Gemeinschaft
der Kirche, dem Leib Christi, erwarten wir freudig den Anblick der himmlischen Stadt,
des neuen Jerusalems, wo Gott alles in allen sein wird. Von diesem heiligen Berg lenkt
Mose unseren Blick – wie er es später erneut am Berg Tabor tun sollte (vgl. Lk
9,28-36) – auf die Erfüllung aller Verheißungen Gottes in Christus. Mose hat das
verheißene Land am Ende seines irdischen Pilgerwegs aus der Ferne betrachtet. Sein
Beispiel erinnert uns daran, daß auch wir ein Teil der die Zeiten überdauernden Pilgerschaft
des Gottesvolkes durch die Geschichte sind. Auf den Spuren der Propheten, der Apostel
und der Heiligen sind wir berufen, mit dem Herrn zu gehen, seine Sendung weiterzutragen,
für die Frohbotschaft von Gottes allumfassender Liebe und von seinem Erbarmen Zeugnis
zu geben. Wir haben den Auftrag, durch unsere Nächstenliebe, unseren Dienst an den
Armen und unser Bemühen, Sauerteig der Versöhnung, der Vergebung und des Friedens
in der Welt um uns zu sein, zum Kommen des Reiches Christi beizutragen. Wir wissen,
daß wir wie Mose vielleicht nicht die volle Umsetzung von Gottes Plan in unserer Lebenszeit
sehen werden. Doch wir vertrauen, daß wir durch die Erfüllung unseres kleinen Teils
in Treue zu der Berufung, die jeder von uns empfangen hat, helfen werden, die Wege
des Herrn zu ebnen und den Anbruch seines Reiches willkommen zu heißen. Und wir wissen,
daß Gott, der Mose mit der Offenbarung seines Namens ein Versprechen gab, immer an
unserer Seite zu sein (vgl. Ex 3,14), uns die Kraft geben wird, auch inmitten
von Leid, Prüfung und Drangsal in freudiger Hoffnung auszuharren. Seit frühester
Zeit sind die Christen zu den Stätten gepilgert, die in Verbindung mit der Geschichte
des auserwählten Volkes, mit den Ereignissen des Lebens Christi und mit den Anfängen
der Kirche in Verbindung stehen. Diese große Tradition, die meine gegenwärtige Wallfahrt
weiterführen und bekräftigen möchte, gründet in dem Verlangen, im Gebet und in der
Betrachtung jene Stätten zu sehen, zu berühren und auszukosten, die durch die körperliche
Gegenwart unseres Heilands, seiner seligen Mutter, der Apostel und der ersten Jünger,
die ihn nach der Auferstehung von den Toten sahen, gesegnet wurden. Hier auf den Spuren
der unzähligen Pilger, die uns in allen Jahrhunderten vorausgegangen sind, sind wir
herausgefordert, das Geschenk unseres Glaubens in größerer Fülle schätzen zu lernen
und in jener Gemeinschaft zu wachsen, die alle Grenzen der Sprache, der Rasse und
der Kultur überwindet. Die alte Tradition der Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten
erinnert uns auch an das unzertrennbare Band zwischen der Kirche mit dem jüdischen
Volk. Von Anfang an hat die Kirche in diesen Ländern in ihrer Liturgie der großen
Gestalten der Patriarchen und Propheten gedacht, als Zeichen ihrer großen Wertschätzung
für die Einheit der beiden Testamente. Unsere heutige Begegnung schenke uns eine neue
Liebe zum Kanon der Heiligen Schrift und ein Verlangen, alle Hindernisse auf dem Weg
der Versöhnung zwischen Christen und Juden in gegenseitiger Achtung und Zusammenarbeit
im Dienst des Friedens, zu dem uns das Wort Gottes ruft, zu überwinden! Liebe Freunde,
an dieser heiligen Stätte versammelt, wollen wir nun unsere Augen und unsere Herzen
zum Vater erheben. Wenn wir uns jetzt bereit machen, um das Gebet zu beten, das Jesus
uns gelehrt hat, so wollen wir ihn bitten, das Kommen seines Reiches zu beschleunigen,
damit wir die Erfüllung seines Heilsplans sehen und mit dem heiligen Franziskus und
allen Pilgern, die uns im Zeichen des Glaubens vorangegangen sind, die Gabe des unermeßlichen
Friedens – pax et bonum – erfahren können, die uns im himmlischen Jerusalem
erwartet.