Karfreitagspredigt: „Kreuz Christi ist Grund zur Hoffnung für alle“
Wir dokumentieren hier die Karfreitagspredigt des offiziellen Predigers des päpstlichen
Hauses, des Kapuzinerpaters Raniero Cantalamessa:
„Christus factus est pro
nobis oboediens usque ad mortem, mortem autem crucis”: „Christus ist für uns gehorsam
geworden bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuze.“ Im 2000. Geburtsjahr des Apostels Paulus
wollen wir einige seiner flammenden Worte über das Geheimnis des Todes Christi hören,
das wir feiern. Keiner kann uns besser helfen als er, dessen Bedeutung und Tragweite
zu verstehen.
An die Korinther schreibt er in der Art eines Manifestes: „Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit.
Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis,
für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen,
Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,22-24). Der Tod Christi ist von
universaler Tragweite: „Einer ist für alle gestorben, also sind
alle gestorben“ (2 Kor 5,14). Sein Tod hat dem Tod eines jeden Mannes und einer jeden
Frau einen neuen Sinn gegeben.
In den Augen des Paulus nimmt das Kreuz eine
kosmische Dimension an. Auf ihm hat Christus die Mauer der Spaltung niedergerissen,
die Menschen mit Gott und untereinander versöhnt und so die Feindschaft zerstört (vgl.
Eph 2,14-16). Von diesem Begriff aus wird die erste Tradition das Thema des Kreuzes
als des kosmischen Baumes entfalten, der mit seinem vertikalen Stamm Himmel und Erde
eint und mit seinem horizontalen Arm die verschiedenen Völker der Welt untereinander
versöhnt. Ein kosmisches und im selben Moment höchst persönliches Ereignis: „Er
hat mich geliebt und sich für mich hingegeben“ (Gal 2,20). Jeder Mensch, schreibt
der Apostel, ist einer, „für den Christus gestorben ist“ (Röm 1“ (Röm 14,15).
Aus
alle diesem entsteht das Empfinden für das Kreuz, das nicht mehr als Sühne, Tadel
oder Grund des Leidens gesehen wird, sondern als Verherrlichung und Stolz des Christen,
das heißt als frohlockende Sicherheit, begleitet von bewegter Dankbarkeit, zu der
der Mensch sich im Glauben erhebt: „Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi,
unseres Herrn, rühmen“ (Gal 6,14).
Paulus hat das Kreuz in den Mittelpunkt
der Kirche als Großmast im Zentrum des Schiffes gepflanzt; er hat es zu deren Grund
und Schwerpunkt von allem gemacht. Er hat für immer das Bild der christlichen Verkündigung
festgelegt. Die Evangelien, die nach ihm verfasst worden sind, werden dem Schema folgen
und aus dem Bericht vom Leiden und Sterben Christi den Mittelpunkt machen, auf den
hin alles ausgerichtet ist.
Man wundert sich nur angesichts des vom Apostel
zu Ende gebrachten Unterfangens. Für uns heute ist es relativ leicht, die Dinge in
diesem Licht zu sehen, nachdem das Kreuz Christi, wie Augustinus sagte, die Erde erfüllt
hat und nun auf der Krone der Könige erglänzt (Augustinus, Enarr. in Psalmos,
54, 12; PL 36, 637). Als Paulus schrieb, war das Kreuz noch gleichbedeutend mit der
größten Schmach, etwas, das unter wohlerzogenen Menschen nicht einmal genannt werden
durfte. Das Ziel des Paulusjahres besteht nicht so sehr darin, das Denken des Apostel
besser zu kennen (das tun die Gelehrten von je her, ohne in Betracht zu ziehen, dass
die wissenschaftliche Forschung mehr Zeit als nur ein Jahr erfordert), es geht vielmehr
darum, wie der Heilige Vater bei mehreren Gelegenheiten erinnert hat, von Paulus zu
lernen, wie auf die aktuellen Herausforderungen des Glaubens zu antworten ist.
Eine
dieser Herausforderungen – vielleicht diejenige, die bis heute in der offensten Art
vorgetragen wurde – hat sich in einen Werbeslogan auf den öffentlichen Verkehrsmitteln
in London und anderen europäischen Städten umgesetzt: „Es gibt wahrscheinlich keinen
Gott. Jetzt höre auf dir Sorgen zu machen und genieße dein Leben“: „There’s probably
no God. Now stop worrying and enjoy your life.”
Das, was diesen Slogan so packend
macht, ist nicht die Prämisse „Es gibt wahrscheinlich keinen Gott“, sondern die Schlussfolgerung:
„Genieße dein Leben“! Die unterschwellige Botschaft besteht darin, dass der Glaube
an Gott daran hindert, das Leben zu genießen und ein Feind der Freude ist. Ohne ihn
gäbe es mehr Glück in der Welt! Paulus hilft uns, auf diese Herausforderung zu antworten,
indem der den Ursprung und Sinn allen Leidens angefangen beim Leiden Christi erklärt. Warum „musste der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit
zu gelangen?“ (Lk 24,26). Auf diese Frage wird bisweilen eine „schwache“ und in einem
gewissen Sinn beruhigende Antwort gegeben. Indem Christus die Wahrheit Gottes offenbart,
provoziert er notwendig den Widerstand der Mächte des Bösen und der Finsternis, und
diese werden, wie dies bei den Propheten geschehen ist, zu seiner Ablehnung und Eliminierung
führen. „Der Messias musste all das erleiden“ müsste somit in diesem Sinne verstanden
werden: „Es war unvermeidlich, dass der Messias all das erleidet“.
Paulus gibt
eine „starke“ Antwort auf jene Frage. Die Notwendigkeit ergibt sich nicht aus der
natürlichen, sondern aus der übernatürlichen Ordnung. In den Ländern alten christlichen
Glaubens wird fast immer die Vorstellung vom Leid und Kreuz mit der des Opfers und
der Sühne verbunden: das Leid, so denkt man, ist notwendig, um die Sünde zu sühnen
und die Gerechtigkeit Gottes zufrieden zu stellen. Dies hat in der Moderne zur Zurückweisung
jeglicher Idee eines Opfers, das Gott dargebracht wird, und schließlich der Idee Gottes
selbst geführt.
Es ist nicht zu leugnen, dass wir Christen manchmal diesem
Vorwurf Nahrung gegeben haben. Es handelt sich jedoch um ein Missverständnis, das
eine bessere Kenntnis des Denkens des heiligen Paulus mittlerweile endgültig geklärt
hat. Er schreibt, dass Gott Christus „dazu bestimmt hat, Sühne zu
leisten mit seinem Blut“ (Röm 3,25), diese Sühne aber leistet er nicht, um Gott Genüge
zu leisten, sondern um die Sünde zu auszutilgen. „Man kann sagen, dass Gott selbst
es ist, und nicht der Mensch, der die Sünde sühnt… Das Bild ähnelt mehr dem der Entfernung
eines zernagenden Makels oder der Neutralisierung eines tödlichen Virus als dem eines
durch Bestrafung besänftigen Zornes“ (J. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Eerdmans,
1998).
Christus hat der Idee des Opfers einen radikal neuen Inhalt gegeben.
In ihm ist es nicht mehr der Mensch, der auf Gott Einfluss nimmt, damit dieser sich
besänftige. Vielmehr ist es Gott, der handelt, damit der Mensch von seiner Feindseligkeit
gegen ihn und den Nächsten ablasse. Das Heil beginnt nicht mit der Bitte um Versöhnung
seitens des Menschen, sondern mit der Bitte Gottes: „Lasst euch mit ihm versöhnen“
(1 Kor 2,6ff.) (vgl. G. Theissen – A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen
: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996).
Es ist so, dass Paulus die Sünde ernst nimmt
und sie nicht banalisiert. Die Sünde ist für ihn die Hauptursache für das Unglück
der Menschen, das heißt die Ablehnung Gottes, nicht Gott! Sie verschließt den Menschen
in der „Lüge“ und „Ungerechtigkeit“ (Röm 1,18ff; 3,23), sie verdammt den materiellen
Kosmos zur „Vergänglichkeit“ und „Verlorenheit“ (Röm 8,19ff) und
ist die letzte Ursache auch der sozialen Übel, die die Menschheit quälen.
Die
momentane Weltwirtschaftskrise und deren Ursachen werden endlosen Analysen unterzogen,
wer aber wagt es, das Problem von der Wurzel her anzugehen und von der Sünde zu sprechen?
Der Apostel definiert die unersättliche Habsucht als einen „Götzendienst“ und zeigt
auf die zügellose Gier nach Geld als die „Wurzel alles Übel“ (1 Tim 6,10). Wie sollte
man ihm da nicht recht geben? Warum sind so viele Familien zu Grund und Boden gerichtet,
warum sind Heerscharen von Arbeitern arbeitslos, wenn nicht aufgrund der unersättlichen
Profitgier einiger? Die Elite des Finanzwesens und der Weltwirtschaft war zu einer
verrückt gewordenen Lokomotive geworden, die vorwärts rannte, ohne dabei an den Rest
des Zuges zu denken, der in der Ferne auf den Gleisen stillstand. Wir alle waren die
Einbahnstraße in die falsche Richtung gefahren.
Mit seinem Tod hat Christus
nicht nur die Sünde entlarvt und besiegt, sondern auch dem Leiden einen neuen Sinn
gegeben, auch dem Leiden, das nicht von einer Sünde abhängt. Er hat aus ihm ein Werkzeug
des Heles gemacht, einen Weg zur Auferstehung und zum Leben. Sein Opfer wirkt nicht
durch den Tod, sondern dank der Überwindung des Todes, das heißt dank der Auferstehung:
„Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde
er auferweckt“ (Röm 4,25): die beiden Ereignisse sind im Denken des Paulus und der
Kirche nicht von einander zu trennen.
Es handelt sich um eine universale menschliche
Erfahrung: in diesem Leben folgen Freude und Schmerz einander mit derselben Regelmäßigkeit,
mit der einer Welle die andere folgt und zwischen ihnen ein Tal und eine Leere ist,
die den Schiffbrüchigen zurückwirft. „Denn mitten im Strudel der Freuden erhebt sich
– so schrieb der heidnische Dichter Lukrez – plötzlich ein Wermutstropfen, der unter
den Blumen ihn ängstet“ (Lucretius De rerum natura, IV, 1129 f.). Der Gebrauch von
Drogen, der Mißbrauch der Sexualität, die mörderische Gewalt verleihen für den Moment
die Trunkenheit der Lust, führen jedoch zur moralischen nund oft auch physischen Zersetzung
des Menschen.
Christus hat mit seinem Leiden und Sterben die Beziehung zwischen
Freude und Schmerz umgestoßen. Er „hat angesichts der vor ihm liegenden
Freude das Kreuz auf sich genommen“ (Hebr 12,2). Nicht mehr eine Freude, die mit dem
Leiden endet, sondern ein Leiden, das zum Leben und zur Freude führt. Es handelt sich
nicht allein um eine unterschiedliche Aufeinanderfolge der beiden Dinge; die Freude
ist es, die auf diese Weise das letzte Wort hat, nicht das Leiden, und es ist dies
eine Freude, die in Ewigkeit dauern wird. „Wir wissen, dass Christus,
von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn“
(Röm 6,9). Und wer sie auch nicht mehr über uns haben.
Diese neue Beziehung
zwischen dem Leiden und der Freude spiegelt sich in der Art wider, wie die Zeit in
der Bibel eingeteilt ist. Nach menschlicher Berechnung beginnt der Tag mit dem Morgen
und endet mit der Nacht; für die Bibel beginnt er mit der Nacht und endet mit dem
Tag: „Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag“, so der Schöpfungsbericht
(Gen 1,5). Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Jesus am Abend starb und auf Morgen auferstand.
Ohne Gott ist das Leben ein Tag, der in der Nacht endet; mit Gott ist es eine Nacht,
die im Tag endet, und ein Tag, ohne dass die Sonne untergeht.
Christus ist
also nicht gekommen, um das Leiden des Menschen zu vermehren oder zu predigen, gegenüber
diesem zu resignieren; er ist gekommen, um ihm einen Sinn zu geben und dessen Ende
und Überwindung zu verkündigen. Jener Slogan auf den Bussen in London und anderen
Städten wird auch von den Eltern gelesen, die ein krankes Kind haben, von einsamen
Menschen oder Leuten, die arbeitslos sind, von Asylanten, die vor den Schrecken des
Krieges geflohen sind, von Menschen, die im Leben schweres Unrecht erlitten haben…
Ich versuche, mir ihre Reaktion vorzustellen, wenn sie die Worte lesen: „Es gibt wahrscheinlich
keinen Gott. Jetzt höre auf dir Sorgen zu machen und genieße dein Leben.“ Und mit
was?
Das Leiden bleibt gewiss ein Geheimnis für alle, besonders das Leiden
der Unschuldigen, aber ohne den Glauben an Gott wird es unendlich absurder. Es wird
ihm auch die letzte Hoffnung auf Befreiung genommen. Der Atheismus ist ein Luxus,
den sich nur die im Leben Privilegierten erlauben können, diejenigen, die alles gehabt
haben, einschließlich der Möglichkeit, sich dem Studium und der Forschung zu widmen.
Es
ist dies nicht die einzige Unstimmigkeit dieses Werbegags. „Es gibt wahrscheinlich
keinen Gott“: es könnte ihn also auch geben, es ist nicht völlig auszuschließen, dass
es ihn gibt. Aber, lieber ungläubiger Bruder, wenn es Gott nicht gibt, so habe ich
nichts verloren; wenn es ihn aber gibt, hast du alles verloren! Wir müssten fast dem
danken, der diese Webekampagne gefördert hat; sie hat der Sache Gottes einen größeren
Dienst erwiesen als viele unsere apologetischer Argumente. Sie hat die Armut ihrer
Gründe gezeigt und dazu beigetragen, an viele eingeschlafene Gewissen zu rütteln.
Gott
aber hat ein Urteilsmaß, das anders ist als das unsrige, und wenn er den guten Glauben
oder ein schuldloses Nichtwissen sieht, rettet er auch den, der sich im Leben darum
bemüht hat, ihn zu bekämpfen. Wir Gläubigen müssen uns diesbezüglich auf Überraschungen
vorbereiten. „Wie viele Schafe sind draußen vor dem Stall“, ruft Augustinus aus, „und
wie viele Wölfe drinnen!“ – „Quam multae oves foris, quam multi lupi intus!“ (Augustinus,
In Ioh. Evang. 45,12).
Gott ist in der Lage, aus seinen hartnäckigsten Leugnern
seine leidenschaftlichsten Zeugen zu machen. Paulus ist der Beweis dafür. Was hatte
Saulus von Tarsus getan, um jene außerordentliche Begegnung mit Christus zu verdienen?
Was hatte er geglaubt, gehofft, gelitten? Auf ihn ist das anzuwenden, was Augustinus
zu jeder göttlichen Erwählung sagte: „Suche den Verdienst, suche die Gerechtigkeit,
denke nach und sieh zu, ob du anderes als Gnade findest“ (Augustinus, Die Vorherbestimmung
der Heiligen, 30, PL 44, 981). So erklärt er seine Berufung: „Ich bin nicht wert,
Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe.
Doch durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,9-10).
Das Kreuz Christi
ist Grund zur Hoffnung für alle, und das Paulusjahr ist eine Gelegenheit der Gnade
auf für den, der nicht glaubt und auf der Suche ist. Etwas spricht zu ihren Gunsten
vor Gott: das Leid! Wie der Rest der Menschheit leiden auch die Atheisten im Leben,
und seit der Sohn Gottes es auf sich genommen hat, hat das Leid eine erlösende, gleichsam
sakramentale Kraft. Es ist ein Kanal, so schrieb Johannes Paul II in „Salvifici doloris“,
durch den die Heil bringenden Kräfte des Kreuzes Christi der Menschheit angeboten
sind (Nr. 23).
Der Aufforderung, für die zu beten, „die nicht an Gott glauben“,
wird jetzt bald ein berührendes Gebet auf Latein des Heiligen Vaters folgen. Übersetzt
lautet es so: „Allmächtiger und ewiger Gott, du hast in die Herzen der Menschen ein
so tiefes Heimweh nach dir gelegt, dass sie nur dann, wenn sie dich finden, Frieden
haben: lass jenseits aller Hindernisse die Zeichen deiner Güte erkennen und sie –
angeregt durch das Zeugnis unseres Lebens – die Freude haben, an dich zu glauben,
den einen wahren Gott und Vater alle Menschen. Durch Christus unseren Herrn. Amen.“ (rv
11.04.2009 ad)