Leben ohne Verzicht kann nicht gelingen. Daran hat Papst Benedikt XVI. in der Predigt
an diesem Palmsonntag erinnert. Das Kirchenoberhaupt rief die Gläubigen auf dem Petersplatz
zur Selbsthingabe und zur täglich neu praktizierten Christusnachfolge auf. Mit dem
Gottesdienst hat der Papst die Karwoche eröffnet und den Weltjugendtag 2009 gefeiert.
Wir
dokumentieren hier die Predigt in einer Arbeitsübersetzung von Birgit Pottler:
Liebe
Schwestern und Brüder, liebe Jugendliche!
Mit einer stetig wachsenden Schar
von Pilgern ist Jesus zum Paschafest nach Jerusalem hinauf gezogen. Auf dem letzten
Teilstück des Weges, in der Nähe von Jericho heilte er den blinden Bartimäus, der
ihn als Sohn Davids angerufen und um Erbarmen gebeten hatte. Des Sehens schließlich
mächtig geworden – hat er sich dankbar der Pilgergruppe angeschlossen.
Als
Jesus an den Toren Jerusalems einen Esel besteigt, das Tier, das die Königsherrschaft
des Hauses David symbolisiert, erwacht unter den Pilgern die freudige Sicherheit:
Er ist es, der Sohn Davids! Und sie grüßen Jesus mit dem messianischen Ruf: „Gesegnet
sei er, der kommt im Namen des Herrn“, und sie fügen noch hinzu: „Gesegnet sei das
Reich das nun kommt, das Reich unseres Vaters David! Hosanna in der Höhe!“ (Mk 11,9f).
Wir wissen nicht, was die begeisterten Pilger sich genau unter dem Reich Davids, das
nun kommen sollte, vorstellten. Aber haben wir denn wirklich die Botschaft Jesu, des
Sohnes Davids, begriffen? Haben wir verstanden, was das Reich ist, von dem er im Verhör
vor Pilatus gesprochen hat? Verstehen wir, was es heißt, dass dieses Reich nicht von
dieser Welt ist? Oder ersehnen wir vielmehr, dass es von dieser Welt sei?
Johannes
listet in seinem Evangelium nach dem Einzug in Jerusalem eine Reihe von Jesus-Worten
auf, in denen er das Wesentliche dieses neuartigen Reiches erläutert. Bei einer ersten
Lektüre dieser Texte können wir drei verschiedene Bilder dieses Reiches unterscheiden,
in denen sich auf je andere Weise, dasselbe Geheimnis wider spiegelt. Johannes berichtet
zunächst, dass unter den Pilgern, die während des Festes “Gott anbeten wollten“, auch
einige Griechen waren (vgl. 12,20). Achten wir darauf, dass es das wahre Anliegen
dieser Pilger war, Gott anzubeten. Das entspricht voll und ganz dem, was Jesus bei
der Reinigung des Tempels sagt: „Mein Haus soll ein Haus des Gebets für alle Völker
sein“ (Mk 11,17). Das wirkliche Ziel der Wallfahrt muss sein, Gott zu begegnen, ihn
anzubeten und so der grundlegenden Beziehung unseres Lebens den Rechten Platz einzuräumen.
Die Griechen sind Menschen auf der Suche nach Gott, mit ihrem Leben sind sie auf dem
Weg zu Gott. Hier, mittels zweier Apostel griechischer Sprache, Philippus und Andreas,
bringen sie die Bitte vor den Herrn: „Wir wollen Jesus sehen“ (Joh 12,21). Ein großes
Wort. Liebe Freunde, deshalb sind wir hier versammelt: Wir wollen Jesus sehen. Mit
diesem Ziel sind vergangenes Jahr zigtausende junger Menschen nach Sydney gekommen.
Natürlich hatten sie viele Erwartungen an diese Pilgerfahrt. Aber das wesentliche
Motiv war dieses: Wir wollen Jesus sehen.
Was diese Bitte angeht – was
hat Jesus in jener Stunde gesagt und getan? Aus dem Evangelium geht nicht klar hervor,
ob es eine Begegnung zwischen jenen Griechen und Jesus gegeben hat. Der Blick Jesu
geht weiter. Der Kern seiner Antwort auf die Bitte jener Menschen ist: „Wenn das Weizenkorn
nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt
es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Das heißt: Es kommt nicht auf ein mehr oder weniger
kurzes Gespräch mit einigen wenigen Personen an, die dann nach Hause zurück kehren.
Als Weizenkorn, gestorben und auferstanden, wird er wieder kommen, auf ganz neue Art
und Weise und über die Grenzen des Augenblicks erhaben, und wird der Welt und den
Griechen begegnen. Mit der Auferstehung überschreitet Jesus die Grenzen von Raum und
Zeit. Als Auferstandener ist er auf dem Weg zur Welt und zur Geschichte in ihrem ganzen
Ausmaß. Ja, als Auferstandener geht er zu den Griechen und spricht mit ihnen, er zeigt
sich ihnen und so werden sie, die Fernstehenden, zu Nächsten und in ihrer Sprache,
in ihrer Kultur, wird sein Wort auf neue Art weiter getragen und auf neue Weise verstanden.
Sein Reich kommt. Wir können so zwei wesentliche Charakteristika dieses Reiches erkennen.
Das erste ist, dass das Reich durch das Kreuz kommt. Weil Jesus sich voll und ganz
hingibt, kann er als Auferstandener allen gehören und sich allen zeigen. In der Eucharistie
erhalten wir die Frucht des Weizenkorns, das gestorben ist, die Brotvermehrung, die
weitergeht bis an die Enden der Erde und für alle Zeiten. Die zweite Eigenschaft besagt:
Sein Reich ist universal. Es erfüllt sich die alte Hoffnung Israels: Die Königsherrschaft
Davids kennt keine Grenzen mehr. Sie reicht „von Meer zu Meer“ – wie der Prophet Sacharja
(9,10) sagt – und umfasst damit die ganze Welt. Das ist jedoch nur möglich, weil die
Herrschaft nicht eine politische Macht meint, sondern einzig und allein auf der freien
Zugehörigkeit aus Liebe basiert – eine Liebe, die ihrerseits auf die Liebe Jesu Christi
antwortet, der sich für alle hingegeben hat. Ich denke, dass wir immer von Neuem beide
Dinge lernen müssen – vor allem die Universalität, die Katholizität. Die meint, dass
niemand sich selbst absolut setzen darf, seine Kultur und seine Welt. Diese Universalität
fordert, dass wir alle einander gegenseitig aufnehmen und dabei auch auf etwas von
uns verzichten. Die Universalität schließt das Geheimnis des Kreuzes ein – die Überwindung
seiner selbst, der Gehorsam gegenüber dem gemeinsamen Wort Jesu Christi in der gemeinsamen
Kirche. Universalität bedeutet stets eine gewisse Überwindung seiner selbst, der Verzicht
auf etwas Persönliches. Universalität und Kreuz gehören zusammen. Nur so wächst Frieden.
Das
Wort vom Weizenkorn, das stirbt, gehört zur Antwort, die Jesus den Griechen gibt.
Es ist seine Antwort. Schließlich formuliert er aber noch ein weiteres Mal die grundlegende
Regel des Menschseins: „Wer sein Leben liebt, verliert es. Wer es aber in dieser Welt
gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben“ (Joh 12,25). Wer sein Leben für
sich haben will, nur für sich selbst leben will, alles für sich haben und alle Möglichkeiten
auskosten will – genau der verliert das Leben. Es wird langweilig und leer. Nur in
der Aufgabe seiner selbst, nur im interessenlosen Geben des Ichs zugunsten des Dus,
nur im „Ja“ zum größeren Leben, das Gott gehört, wird auch unser Leben weit und groß.
Dieses Grundprinzip, das der Herr aufstellt, ist letzten Endes schlicht identisch
mit dem Prinzip der Liebe. Liebe bedeutet ja, sich selbst aufzugeben, sich zu geben,
nicht sich besitzen wollen, sondern frei von sich zu werden: nicht sich auf sich selbst
zurückziehen – im Sinne: Was wird von mir bleiben, sondern nach vorne schauen, auf
den Anderen – auf Gott und auf die Menschen, die er mir schickt. Dieses Prinzip der
Liebe, das den Weg des Menschen bestimmt, ist wiederum identisch mit dem Geheimnis
des Kreuzes, dem Geheimnis des Todes und der Auferstehung, dem wir in Christus begegnen.
Liebe Freunde, es ist vielleicht relativ einfach, dies als große fundamentale Vision
vom Leben zu akzeptieren. Aber in Wirklichkeit geht es hier nicht um das einfache
Anerkennen eines Prinzips, sondern es geht darum, dessen Wahrheit konkret zu leben,
die Wahrheit des Kreuzes und der Auferstehung. Und dafür genügt wiederum nicht eine
große Entscheidung. Sicherlich ist es wichtig, einmal die große grundsätzliche Entscheidung
zu fällen, das große „Ja“ zu wagen, das der Herr in einem bestimmt Moment unseres
Lebens von uns will. Aber das große „Ja“ im entscheidenden Moment unseres Lebens –
das „Ja“ zur Wahrheit, die der Herr uns zeigt – muss dann täglich neu erkämpft werden,
in den alltäglichen Situationen in denen wir stets aufs Neue unser Ich beiseite lassen
und uns zur Verfügung stellen müssen, wenn wir im Grunde uns doch an unser Ich klammern.
Zu einem rechtschaffenen Leben gehört auch das Opfer, der Verzicht. Wer ein Leben
ohne diese stets neue Selbsthingabe verspricht, täuscht die Menschen. Gelingendes
Leben ohne Opfer gibt es nicht. Wenn ich selbst auf mein eigenes Leben zurückblicke,
muss ich sagen, dass gerade die Momente, in denen ich „ja“ zum Verzicht gesagt habe,
die großen und wichtigen Momente meines Lebens waren.
Der heilige Johannes
hat in seine Zusammenstellung der Worte des Herrn für den „Palmsonntag“ auch eine
modifizierte Form des Gebetes Jesu im Ölgarten aufgenommen. Es ist vor allem die Aussage:
„Meine Seele ist erschüttert.“ (Joh 12, 27). Hier scheint der Schrecken Jesu auf,
der von den anderen drei Evangelisten ausführlich veranschaulicht wird – sein Erschrecken
vor der Macht des Todes, vor dem ganzen Abgrund des Bösen, den Er sieht und in den
Er hinabsteigen muss. Der Herr erleidet unsere Ängste zusammen mit uns, er begleitet
uns durch die letzte Angst hindurch zum Licht. Dann folgen bei Johannes die beiden
flehenden Bitten Jesu. Die erste wird nur bedingt geäußert: „Was soll ich sagen: Vater
rette mich aus dieser Stunde?“ (Joh 12,27). Als menschliches Wesen fühlt sich auch
Jesus veranlasst zu bitten, dass ihm der Schrecken des Leidens erspart bleiben möge.
Auch wir können auf diese Weise beten. Auch wir können uns wie Hiob vor dem Herrn
beklagen, ihm all unsere Fragen unterbreiten, die angesichts der Ungerechtigkeit in
der Welt und der Probleme unseres eigenen Ichs in uns emporkommen. Vor Ihm müssen
wir uns nicht in fromme Phrasen, in eine Scheinwelt flüchten. Beten bedeutet immer
auch Ringen mit Gott, und wie Jakob können wir (zu) IHM sagen: „Ich lasse dich nicht
los, wenn du mich nicht segnest!“ (Gen 32, 27). Aber dann kommt die zweite inständige
Bitte Jesu: „Verherrliche deinen Namen!“ (Joh 12, 28). Bei den Synoptikern klingt
das so: „Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen!“ (Lk 22, 42). Am Ende sind
die Ehre Gottes, seine Herrschaft, sein Wille immer wichtiger und richtiger als mein
Denken und mein Wille. Das ist das Wesentliche in unserem Gebet und in unserem Leben:
Diese rechte Ordnung der Wirklichkeit zu begreifen, sie zutiefst anzunehmen; auf Gott
zu vertrauen und zu glauben, dass Er das Richtige tut; dass sein Wille die Wahrheit
und die Liebe ist; dass mein Leben gut wird, wenn ich lerne, dieser Ordnung zuzustimmen.
Leben, Tod und Auferstehung Jesu sind für uns die Garantie, dass wir Gott wirklich
vertrauen können. Auf diese Weise verwirklicht sich sein Reich.
Liebe Freunde!
Am Ende dieser Liturgie, dieser Messfeier, werden die Jugendlichen aus Australien
das Weltjugendtagskreuz an ihre Altersgenossen aus Spanien übergeben. Das Kreuz ist
auf dem Weg von einem Ende der Welt zum anderen, von Meer zu Meer. Und wir begleiten
es. Wir gehen mit ihm auf seinem Weg und finden so unseren Weg. Wenn wir das Kreuz
berühren, vielmehr, wenn wir es tragen, berühren wir das Geheimnis Gottes, das Geheimnis
Jesu Christi. Das Geheimnis, dass Gott die Welt – uns – so sehr geliebt hat, dass
er seinen einzigen Sohn für uns hingab (vgl. Joh 3, 16). Wir berühren das wunderbare
Geheimnis der Liebe Gottes, die einzige wirklich Erlösung bringende Wahrheit. Aber
wir berühren auch das grundlegende Gesetz, die bestimmende Norm unseres Lebens, nämlich
die Tatsache, dass ohne das „Ja“ zum Kreuz, ohne das gemeinsame Gehen mit Christus
Tag für Tag, das Leben nicht gelingen kann. Je mehr wir aus Liebe zu der großen Wahrheit
und der großen Liebe – aus Liebe zur Wahrheit und zur Liebe Gottes – auch einen gewissen
Verzicht leisten können, desto größer und reicher wird das Leben. Wer sein Leben für
sich selbst behalten will, verliert es. Wer sein Leben hingibt – täglich in den kleinen
Gesten, die zu der großen Entscheidung gehören –, der findet es. Das ist die anspruchsvolle,
aber auch zutiefst schöne und befreiende Wahrheit, in die wir während des Wegs des
Kreuzes durch die Kontinente schrittweise eintreten wollen. Möge der Herr diesen Weg
segnen. Amen.