Marx, „Kritik an Israels Politik nicht gleich Antisemitismus“
Der Krieg in Gaza
hat auch den Besuch der bischöflichen Koordinierungsgruppe für die Unterstützung der
Kirche im Heiligen Land überschattet. Am Donnerstag ging ihre Visite zu Ende – einer
der neun Teilnehmer aus Amerika und Europa war der stellvertretende Vorsitzende der
Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx. Unsere Korrespondentin
Gabi Fröhlich hat kurz vor seinem Rückflug mit dem Münchner Erzbischof gesprochen
und ihn zunächst nach seinem Eindruck von dem gemeinsamen Telefonat der Bischöfe mit
dem Gazaer Pfarrer Manuel Musallam gefragt. Reinhard Marx: „Der Eindruck
von der ausgesprochen dramatischen humanitären Situation dort – wenn irgendwo Krieg
ist, wenn Bomben fallen, wenn Wasser und Strom fehlen, dann leidet darunter vor allem
die Zivilbevölkerung. Und deswegen ist es wichtig, dass endlich die Waffen schweigen,
damit systematisch humanitäre Hilfe ins Land kommen kann. Ein solches Land muss ja
aufgebaut werden. Das ist das eine. Und das andere ist natürlich, politische Perspektiven
zu entwickeln, damit dieses Land Gaza und ganz Palästina sich zu einem Staat entwickeln
kann. Das war vor Ausbruch dieses Krieges nicht möglich, und das ist sicher auch eine
der Ursachen für die Eskalation. Ich will da kein letztes politisches Urteil fällen,
aber wenn Menschen in einem schmalen Landstrich eingepfercht sind, wenn da eine totale
Abhängigkeit von anderen ist und nichts sich entwickeln kann – dann ist das einfach
unzumutbar. Und darum richtet sich unsere dringende Bitte an die Europäische Union
und die USA, mitzuhelfen, dass nach diesem hoffentlich bald zu Ende gehenden Krieg
Perspektiven entwickelt werden. Dass nun wirklich die Idee der zwei Staaten Israel
und Palästina konkreter vorangetrieben wird. Gerade im Gaza-Streifen muss eine politische
Zukunft her - die Situation dort ist nicht erst jetzt, sondern war auch vor Ausbruch
der Kämpfe inakzeptabel.“ Bundeskanzlerin Merkel hat nach Ausbruch des Krieges
die alleinige Schuld an der Eskalation der Hamas zugewiesen – wie sehen Sie das? „Je
näher man diesem Konflikt kommt, je länger man den Kontakt mit dem Heiligen Land und
seinen Bewohnern hält, desto schwieriger wird es mit Schwarzweiß-Zuweisungen. So einfach
sind die Dinge nicht. Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung - wer wollte das
bezweifeln. Aber das ist ja noch nicht die Antwort auf die Frage, wie es hier weitergeht.
Und wo die Ursachen des ganzen Konfliktes liegen. Was kommt danach, nach der Gewalt?
Die Gewalt ist keine Antwort, von wem auch immer sie ausgeht, das muss man deutlich
unterstreichen. Und da fehlen sowohl die politischen Konzepte als auch der Wille,
wirklich den anderen, also hier Palästina, zu einem Staat werden zu lassen, der souverän
und dann auch in guter Nachbarschaft mit Israel existieren kann. Unsere Appelle gehen
also an beide Seiten.“ Die Bilder aus Gaza gehen um die Welt, und viele sind
schockiert über das Ausmaß des Leides dort – sehen Sie die Gefahr, dass das einen
latenten Antisemitismus schüren könnte? „Man muss immer unterscheiden zwischen
dem, was der Staat Israel tut, und dem, was Juden in der ganzen Welt bedeuten. Eine
totale Identifizierung ist vielen Juden in der Welt auch nicht recht. Beides gehört
zwar eng zusammen, das Schicksal des jüdischen Staates wird jeden Juden irgendwie
auch persönlich betreffen. Und wenn Israel existenziell gefährdet wäre, dann wäre
die ganze Staatengemeinschaft aufgerufen, für Israel einzutreten. Jeder, der das Existenzrecht
Israels bestreitet, kann nicht ernsthaft in die Staatengemeinschaft integriert werden
- da bin ich ganz einer Meinung mit der Bundesregierung. Wir sollten aber aufpassen,
dass dieser Konflikt nicht benutzt wird, und zwar von verschiedenen Seiten. Die Interessen
sind vielfältig, die Bilder werden instrumentalisiert - da muss man sehr aufpassen.
Es wäre verheerend, wenn ein solcher Konflikt als Vorwand für den Antisemitismus benutzt
würde, auch wenn manche das sicher versuchen.“ Allerdings gibt es jüdische
Organisationen, die hinter jeder Kritik an der Politik Israels Antisemitismus wittern
– geht der Appell auch an sie? „Eine solche Gleichsetzung wäre sicher falsch;
man kann nicht die Politik eines demokratischen Staates wie Israel einfach identifizieren
mit dem Judentum. Auch wenn da eine außergewöhnlich enge Verbindung da ist – viele
Juden empfinden die Angst, dass die Existenz Israels bedroht sein könnte, unmittelbar
auch für sich selbst. Aber es muss möglich bleiben, die konkrete Politik Israels zu
kritisieren.“