2009-01-05 16:50:30

Verwirrte Buchstaben. Betrachtung von Prof. Würmeling


Zum Schluss dieses Jahres 2008 lade ich Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer von Radio Vatikan, nach Nürnberg ein, in den Johannisfriedhof, in den wir ausnahmsweise zu dieser späten Stunde noch Einlass finden. Doch gilt heute unser Besuch nicht den hier begrabenen Nürnberger Berühmtheiten wie Albrecht Dürer. Ich will Sie zu einem anderen Grab führen, dem Grab eines Mannes, den heute kaum mehr jemand kennen dürfte. Er hörte auf den schönen Namen Jakob Rosenwirth, und das ist auch schon so ziemlich alles, was wir über ihn wissen. Wir brauchen auch nicht viel mehr über ihn zu wissen, denn was uns interessiert, ist nicht, was von ihm unter der Erde liegt, sondern was über der Erde von ihm Zeugnis gibt, nämlich sein Grabmal.


Darauf spielt ein typisch barocker Dreizeiler auf den Namen „Rosenwirth“ des Begrabenen an:
„Hier ruht, wer wol den Lauff vollführt,
bis dieser Erden Dornen Bürd
zu milden Himmelsrosen wird.“


Die dornige Bürd, die Bürde dieser Erde, verwandelt der Tod in milde Himmelsrosen, das wird hier ganz schlicht und selbstverständlich gesagt und wortspielerisch mit dem Namen des Verstorbenen verbunden. Aber mehr als dieser einfache Spruch soll uns die große Bronzeplatte interessieren, die auf dem Grabmal angebracht ist. Auf ihr finden wir plastisch einen wirren Haufen von Buchstaben in ein chaotisches Durcheinander verhakt. Von Lesbarkeit keine Spur mehr. Und wenn wir nicht wüssten, dass da ein Jakob Rosenwirth begraben liegt, es würde uns kaum gelingen, die Bronzebuchstaben sinnvoll so zusammenzuordnen, dass der Name des Begrabenen lesbar wird. Aber was in aller Welt soll diese Buchstabenverwirrung bedeuten?


Im Barockzeitalter haben die Menschen den Tod und seine Schrecken vielfach und mit großer Lust dargestellt. Zahlreiche Bilder und Figuren zeigen menschliche Skelette als Mahnung an die Endlichkeit unseres Lebens. Der Tod ist überall dabei. Auf unserem Grabmal tritt er nun ganz besonders originell auf, nämlich in den verwirrten Buchstaben. Wo sonst Knochen als die letzten Überbleibsel des Menschen abgebildet werden, sind es hier die auseinander gefallenen und durcheinander geworfenen Buchstaben seines Namens. Sie zeigen uns an, dass der Mensch mit seinem Tod bis in seine letzten Bestandteile zerfällt und aufgelöst wird und entsprechend auch sein Name bis in die einzelnen Buchstaben.


Damit folgt der Mensch dem ehernen Gesetz der Natur, von dem die Physiker als dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre sprechen. Der besagt, dass bei jedem Energieumsatz, also auch bei jedem Lebensvorgang, ein gewisser Anteil von Energie unumkehrbar in Wärme verwandelt wird. Und deswegen wird schließlich alles Weltgeschehen einmal strukturlos in der Entropie, im Wärmetod enden. Wir Lebewesen stellen in diesem gewaltigen Strom in den Wärmetod jeweils nur kleine Revolutionen oder Wirbel dar, die sich der unausweichlichen Tendenz zum Zerfall für eine gewisse Zeit widersetzen können, um sich schließlich doch im Tod der Entropie immer mehr zu nähern und sich in ihr aufzulösen.


Für einen Sylvesterabend und den Beginn eines neuen Jahres sind das nun nicht gerade tröstliche Gedanken. Aber vielleicht hilft uns der Bronzegießer weiter, der dem Jakob Rosenwirth sein originelles Grabmal schuf? Vielleicht weiß er aus „dieser Erden Dornen Bürd ... milde Himmelsrosen“ zu zaubern?


Zu den verwirrten Buchstaben hat er nämlich zwei kleine Engel gesetzt, die sich an dem anscheinend Unentwirrbaren zu schaffen machen. Einen Buchstaben haben sie bereits herausgeklaubt und aufgerichtet. Es ist ein I, der Anfangsbuchstabe von Rosenwirths Vornamen Jakob, der aber auch für Initium, für Anfang stehen kann. Für jenen neuen Anfang, dem Rosenwirth nach seinem Tode, der, wie man so dahersagt, das Tor zum Leben sei, entgegensieht. Kein Zweifel: die beiden kleinen Engel arbeiten an des Rosenwirths Auferstehung, symbolisieren durch die Wiederherstellung seines Namens, eine Wiederherstellung, die für die Auferstehung seines Fleisches steht.


An Auferstehung glaubt, wer das Credo nicht nur nachbetet, sondern bekennt. Aus der Sicht der Physiker könnte es so etwas nach dem Wärmetod, nach dem endgültigen Zerfall von allem in der Entropie nicht mehr geben; Es erscheint völlig unglaublich und einfach undenkbar.


Undenkbar?


Denkbar ist aber doch, dass irgendwann und irgendwie allen Menschen einmal Gerechtigkeit widerfahren wird, den Gequälten und Unterdrückten, den Ermordeten und den Vertriebenen - ebenso wie den Tätern. Wie aber soll das geschehen? Wie soll das in der Vergangenheit unerreichbar Versunkene erreicht werden, ohne dass - gegenläufig zur Zeit - allen noch einmal ein neuer Anfang geschenkt würde, ein jüngstes Gericht, bei dem alles Verkrümmte und Zerschlagene neu aufgerichtet würde, eben eine Auferstehung?


Der Verlust des Glaubens an eine Auferstehung habe „eine spürbare Leere hinterlassen“, sinniert der Philosoph Jürgen Habermas, der sich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet. Nicht, dass er etwa an Auferstehung glaubt; aber er hält so etwas gleichsam im Konjunktiv für denkbar, sozusagen um der Gerechtigkeit willen.


Der Christ, der an die Auferstehung glaubt, glaubt darum, auf Gerechtigkeit hoffend, das Unglaubliche, aber eben doch nicht das Undenkbare.


Die beiden kleinen Engel auf dem Johannisfriedhof in Nürnberg, die aus verwirrten Buchstaben, einem tödlichen Chaos, den Namen des Jakob Rosenwirth wieder zusammenzufügen begonnen haben, sind Zeugen und Mitarbeiter seiner Auferstehung und wollen uns Mut machen, an die Verheißung unserer Auferstehung von den Toten, die Auferstehung des Fleisches zu glauben. Hinter dem, was der barocke Dichter kindlich fromm und wortspielerisch dem Jakob Rosenwirth auf das Grab geschrieben hat:


„Hier ruht, wer wol den Lauff vollführt,
bis dieser Erden Dornen Bürd
zu milden Himmels Rosen wird.“


Hinter dem steht also Gewaltiges, die Verheißung ewigen Lebens.


Wie abgegriffen hört sich demgegenüber die gebräuchliche Formel an, die wir über unsere Toten sprechen: “Requiem aeternam dona eis, Domine!“, „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe!“ Als ob es sich um die Totenruhe und eine Art ewigen Schlafes im dunklen Grabe handle. Gemeint ist aber doch ein hellwaches Leben im Licht; „et lux perpetua luceat eis!“, „und das ewige Licht leuchte ihnen!“


Von außen, von einem ungläubigen Philosophen müssen wir uns sagen lassen, dass die Auferstehung zu einem neuen Leben kein unsinniger Glaube sein muss, sondern eine immerhin denkbare Antwort auf unsere Existenz als Leidwesen Mensch, eine immerhin denkbare Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit, die ohne Auferstehung undenkbar bleibt. „Requiescant in pace!“ heißt es schließlich, „sie mögen in Frieden ruhen“, wobei der Friede in einem künftigen aktiven Leben gemeint ist.


Den wollen wir unseren Toten des vergangenen Jahres wünschen - und schließlich auch uns selbst für das kommende Jahr hier auf Erden und dermaleinst für alle Zeiten.


In diesem Sinne seien denn die verwirrten Buchstaben entwirrt und das Neue Jahr 2009 froh begonnen! (rv)







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