“Wer gleicht dem Herrn, unserm Gott, der in der
Höhe thront und sich hinabbeugt, um auf den Himmel und die Erde zu schauen?” So singt
Israel in einem seiner Psalmen (vgl. 113 [112], 5f), in dem es zugleich die Größe
Gottes und seine gütige Nähe zu uns Menschen rühmt. Gott wohnt in der Höhe, aber er
beugt sich nieder…. Gott ist unendlich groß und weit über uns. Das ist die erste Erfahrung
des Menschen. Der Abstand scheint unendlich. Der Schöpfer des Alls, der Lenker des
Ganzen ist weit von uns entfernt, so scheint es zunächst. Aber dann kommt die überraschende
Erfahrung: Der, dem niemand gleicht, „der in der Höhe trohnt“, er schaut hernieder.
Er beugt sich herunter. Er sieht uns, und er sieht mich. Dieses Herabschauen Gottes
ist mehr als ein Blick aus der Höhe. Gottes Sehen ist Tun. Daß er mich sieht, mich
ansieht, verändert mich und die Welt um mich herum. So fährt der Psalm dann gleich
fort: „Der den Schwachen aus dem Staub emporhebt…“ Mit seinem Herabschauen hebt er
mich auf, nimmt er mich gütig an die Hand und hilft mir, selbst aus der Tiefe in die
Höhe zu kommen. „Gott beugt sich hinab.“ Dieses Wort ist ein prophetisches Wort. In
der Nacht zu Bethlehem hat es eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Gottes Sichbeugen
hat einen unerhörten und vorher nicht zu ahnenden Realismus angenommen. Er beugt sich
– er kommt, ganz er selbst, als Kind herunter bis in die Armseligkeit des Stalls hinein,
die für alle Not und Verlassenheit der Menschen steht. Gott steigt wirklich herab.
Er wird ein Kind und begibt sich in die völlige Abhängigkeit eines neugeborenen Menschenkindes.
Der Schöpfer, der alles in Händen hält, von dem wir alle abhängen, macht sich klein
und der menschlichen Liebe bedürftig. Gott ist im Stall. Im Alten Testament hatte
man den Tempel gleichsam als den Fußschemel Gottes betrachtet; die Heilige Lade als
den Ort, an dem er geheimnisvoll unter den Menschen gegenwärtig war. So wußte man,
daß über dem Tempel verborgen die Wolke der Herrlichkeit Gottes steht. Nun steht sie
über dem Stall. Gott ist in der Wolke der Armseligkeit eines Kindes ohne Herberge:
welch undurchdringliche Wolke und doch – Wolke der Herrlichkeit! Denn wie könnte seine
Liebe zum Menschen, seine Sorge um ihn größer und reiner erscheinen? Die Wolke der
Verhüllung, der Armseligkeit des ganz der Liebe bedürftigen Kindes ist zugleich Wolke
der Herrlichkeit. Denn nichts kann höher, größer sein als die Liebe, die sich so herabbeugt,
heruntersteigt, sich abhängig macht. Die Herrlichkeit des wahren Gottes wird sichtbar,
wenn uns die Augen des Herzens vor dem Stall von Bethlehem aufgehen.
Die Weihnachtsgeschichte
des heiligen Lukas, die wir eben im Evangelium gehört haben, erzählt uns, daß Gott
den Schleier seiner Verborgenheit als erstes vor den ganz Geringen, vor Menschen ein
wenig gelüftet hat, die in der großen Gesellschaft eher verachtet waren: den Hirten,
die bei den Tieren auf den Feldern um Bethlehem Wache hielten. Lukas sagt uns, daß
diese Menschen „wachten“. So können wir uns hier an ein zentrales Motiv der Botschaft
Jesu erinnert fühlen, wo es immer wieder mit steigender Dringlichkeit bis zum Ölberg
hin darum geht, die Menschen zur Wachsamkeit einzuladen – wachend zu sein, um der
Ankunft des Herrn gewahr zu werden und für sie bereitet zu sein. So bedeutet das Wort
wohl auch hier mehr als das bloß äußere Wachsein in der nächtlichen Stunde. Es waren
wirklich wache Menschen, in denen der Sinn für Gott und seine Nähe lebendig war. Menschen,
die auf Gott warteten und sich nicht damit zufrieden gaben, daß er uns im Alltag so
fern scheint. An das wachende Herz kann sich die Botschaft der großen Freude richten:
Heute nacht ist euch der Erlöser geboren. Und nur das wachende Herz ist fähig, die
Botschaft zu glauben. Nur das wachende Herz gibt den Mut aufzubrechen, um Gott als
Kind im Stall zu finden. Bitten wir den Herrn, daß er auch uns helfe, wachende Menschen
zu werden.
Der heilige Lukas erzählt uns des weiteren, daß die Hirten selbst
von der Herrlichkeit Gottes, von seiner Wolke aus Licht „eingehüllt“ waren, im inneren
Glanz dieser Herrlichkeit standen. Eingehüllt in die heilige Wolke hören sie den Lobgesang
der Engel: „Herrlichkeit Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen seines
Wohlgefallens.” Und wer sind diese Menschen seines Wohlgefallens, wenn nicht die Kleinen,
die Wachenden, die Wartenden, die auf Gottes Güte hoffen und nach ihm Ausschau halten?
Bei
den Kirchenvätern kann man einen überraschenden Kommentar zum Gesang der Engel finden,
der den Erlöser begrüßt. Bisher – so sagen die Väter – hatten die Engel Gott gekannt
in der Größe des Alls, in der Logik und Schönheit des Kosmos, die von ihm kommt und
ihn spiegelt. Sie hatten gleichsam den stummen Lobgesang der Schöpfung aufgenommen
und ihn zur Musik des Himmels gemacht. Aber nun war da etwas Neues, für sie förmlich
Erschütterndes geschehen. Der Gott, von dem das All kündet, der alles trägt und in
Händen hält – er war selber in die Geschichte der Menschen eingetreten, ein Handelnder
und Leidender in der Geschichte geworden. Aus der freudigen Erschütterung über dieses
Unfaßliche, diese zweite und neue Weise, in der Gott sich zeigt, sei ein neuer Gesang
geboren worden, von dem uns das Weihnachtsevangelium ein Stück aufbewahrt hat: „Herrlichkeit
Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden“. Wir dürfen wohl sagen, daß dieser
Doppelvers gemäß der Weise der hebräischen Poesie in seinen zwei Abschnitten im letzten
dasselbe sagt, nur von einem je anderen Blickfeld her. Die Herrlichkeit Gottes ist
in der Höhe, aber seine Höhe ist nun im Stall, das Niedrige ist das Hohe geworden.
Seine Herrlichkeit ist mitten auf Erden, die Herrlichkeit der Demut und der Liebe.
Und wiederum: Die Herrlichkeit Gottes ist Friede. Wo er ist, da ist Friede. Er ist
da, wo die Menschen nicht die Erde selber zum Paradies machen wollen und dann zur
Gewalt greifen. Er ist bei denen, die wachen Herzens sind; bei den Demütigen und bei
denen, die seiner Höhe, der Höhe der Demut und der Liebe entsprechen. Ihnen schenkt
er seinen Frieden, damit durch sie Friede hineintrete in diese Welt.
Der mittelalterliche
Theologe Wilhelm von St. Thierry hat einmal gesagt: Gott hat gesehen – von Adam an
– daß seine Größe den Menschen zum Widerstand reizte; daß er sich in seinem Selbersein
beengt und in seiner Freiheit bedroht fühlt. So wählte Gott einen neuen Weg. Er wurde
ein Kind. Er wurde abhängig und schwach, unserer Liebe bedürftig. Nun könnt ihr nicht
mehr Angst haben vor mir, nun könnt ihr mich nur noch lieben – so sagt uns der Gott,
der ein Kind wurde.
Mit diesen Gedanken treten wir in dieser Nacht vor das
Kind von Bethlehem hin – vor den Gott, der unseretwegen ein Kind werden wollte. Über
jedem Kind liegt der Abglanz des Kindes von Bethlehem. Jedes Kind bittet um unsere
Liebe. In dieser Nacht denken wir daher besonders auch an die Kinder, denen die Liebe
der Eltern versagt ist. An die Straßenkinder, denen kein Zuhause geschenkt ist. An
die Kinder, die als Soldaten mißbraucht und zu Werkzeugen der Gewalt gemacht werden,
anstatt Träger der Versöhnung und des Friedens sein zu dürfen. An die Kinder, die
durch die Porno-Industrie und durch all die schändlichen Formen des Mißbrauchs bis
in die Tiefe ihrer Seele hinein verwundet werden. Das Kind von Bethlehem ist ein neuer
Anruf an uns, alles zu tun, damit die Not dieser Kinder ende; alles zu tun, damit
das Licht von Bethlehem die Herzen der Menschen anrührt. Denn nur durch die Bekehrung
des Herzens, nur durch eine Änderung im Innersten des Menschen kann die Ursache all
dieses Bösen überwunden, kann die Macht des Bösen besiegt werden. Nur wenn die Menschen
sich ändern, ändert sich die Welt, und damit die Menschen sich ändern, brauchen sie
das Licht von Gott her, das Licht, das auf so unerwartete Weise in unsere Nacht eingetreten
ist.
Und wenn wir vom Kind von Bethlehem sprechen, denken wir auch an diesen
Ort Bethlehem und denken an das Land, in dem Jesus gelebt und das er zutiefst geliebt
hat. Und wir beten darum, daß dort Friede werde. Daß der Haß und die Gewalt enden.
Daß Verstehen erwache, eine Offenheit der Herzen, die die Grenzen öffnet. Daß der
Friede einkehre, von dem die Engel in jener Nacht gesungen haben.
Im Psalm
96 (95) preist Israel und mit ihm die Kirche die Größe Gottes, die in der Schöpfung
erscheint. Alle Geschöpfe werden da aufgerufen, in diesen Lobpreis einzustimmen, und
so steht da auch das Wort: „Jubeln sollen alle Bäume des Waldes vor dem Herrn, wenn
er kommt“ (v. 12f). Diesen Psalm liest die Kirche wiederum als eine Prophetie und
als einen Auftrag zugleich. Das Kommen Gottes in Bethlehem war leise. Nur die wachenden
Hirten waren für einen Augenblick in den Lichtglanz dieses Kommens eingehüllt und
durften ein Stück aus dem neuen Lied hören, das aus dem Staunen und der Freude der
Engel über das Kommen Gottes geboren wurde. Dieses leise Kommen von Gottes Herrlichkeit
setzt sich durch die Jahrhunderte hindurch fort. Wo Glaube ist, wo sein Wort verkündet
und gehört wird, versammelt er die Menschen und schenkt sich ihnen in seinem Leib,
macht sie zu seinem Leib. Er „kommt“. Und so wacht das Herz der Menschen auf. Das
neue Lied der Engel wird zum Lied der Menschen, die alle Jahrhunderte hindurch in
immer neuer Weise die Ankunft Gottes als Kind besingen und von innen her froh werden.
Und die Bäume des Waldes kommen zu ihm und jubeln. Der Baum auf dem Petersplatz spricht
von ihm, will sein Leuchten weitergeben und will sagen: Ja, er ist gekommen, und die
Bäume des Waldes jubeln ihm zu. Die Bäume in den Städten und in den Häusern sollten
mehr als ein festliches Brauchtum sein: Sie zeigen auf den hin, der Grund unserer
Freude ist – auf den Gott, der für uns ein Kind wurde. Der Lobgesang spricht zutiefst
schließlich von dem, der selbst der wiedergefundene Baum des Lebens ist. Im Glauben
an ihn empfangen wir Leben. Im Sakrament der Eucharistie schenkt er sich uns – schenkt
er Leben, das in die Ewigkeit hineinreicht. In dieser Stunde stimmen wir ein in den
Lobpreis der Schöpfung, und unser Lob ist zugleich Bitte: Ja, Herr, laß uns etwas
vom Lichtglanz deiner Herrlichkeit sehen. Und gib Frieden auf Erden. Mache uns zu
Menschen deines Friedens. Amen.