Dokument: Papstbotschaft zum Weltfrieden - der Volltext.
BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST BENEDIKT XVI. ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES
1. JANUAR 2009: DIE ARMUT BEKÄMPFEN, DEN FRIEDEN SCHAFFEN
1. AUCH
ZU BEGINN DIESES NEUEN JAHRES möchte ich allen meinen Friedenswunsch zukommen lassen
und sie mit dieser meiner Botschaft einladen, über das Thema ,,Die Armut bekämpfen,
den Frieden schaffen” nachzudenken. Schon mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II.
hatte in der Botschaft zum Weltfriedenstag 1993 die negativen Auswirkungen unterstrichen,
welche die Armutssituation ganzer Völker letztlich auf den Frieden hat. Tatsächlich
gehört die Armut oft zu den Faktoren, welche Konflikte und auch kriegerische Auseinandersetzungen
begünstigen oder verschärfen. Letztere tragen ihrerseits zum Fortbestehen tragischer
Situationen von Armut bei. ,,Es macht sich in der Welt eine andere ernste Bedrohung
für den Frieden immer besorgniserregender breit”, schrieb Johannes Paul II. ,,Viele
Menschen, ja ganze Völkerschaften leben heute in äußerster Armut. Der Unterschied
zwischen Reichen und Armen ist auch in den wirtschaftlich hochentwickelten Nationen
augenfälliger geworden. Es handelt sich um ein Problem, das sich dem Gewissen der
Menschheit aufdrängt, da eine große Zahl von Menschen in Verhältnissen lebt, die ihre
angeborene Würde verletzen und infolgedessen den wahren und harmonischen Fortschritt
der Weltgemeinschaft gefährden”.1 2. In diesem Zusammenhang schließt
die Bekämpfung der Armut eine aufmerksame Betrachtung des komplexen Phänomens der
Globalisierung ein. Eine solche Betrachtung ist schon unter methodologischem Gesichtspunkt
wichtig, weil sie nahelegt, die Ergebnisse der von Wirtschaftswissenschaftlern und
Soziologen durchgeführten Forschungen über viele Aspekte der Armut zu verwerten. Der
Verweis auf die Globalisierung müßte jedoch auch eine geistige und moralische Bedeutung
besitzen und dazu anregen, auf die Armen ganz bewußt im Hinblick darauf zu schauen,
daß alle in einen einzigen göttlichen Plan einbezogen sind, nämlich die Berufung,
eine einzige Familie zu bilden, in der alle – Einzelpersonen, Völker und Nationen
– ihr Verhalten regeln, indem sie es nach den Grundsätzen der Fraternität und der
Verantwortung ausrichten. In dieser Perspektive ist es nötig, eine umfassende und
differenzierte Vorstellung von der Armut zu haben. Wenn die Armut ein nur materielles
Phänomen wäre, würden die Sozialwissenschaften, die uns helfen, die Dinge auf der
Grundlage von vornehmlich quantitativen Daten zu messen, ausreichen, um ihre Hauptmerkmale
aufzuzeigen. Wir wissen jedoch, daß es Formen nicht materieller Armut gibt, die keine
direkte und automatische Folge materieller Not sind. So existieren zum Beispiel in
den wohlhabenden und hochentwickelten Gesellschaften Phänomene der Marginalisierung
und der relationalen, moralischen und geistigen Armut: Es handelt sich um innerlich
orientierungslose Menschen, die trotz des wirtschaftlichen Wohlergehens verschiedene
Formen von Entbehrung erleben. Ich denke einerseits an das, was mit ,,moralischer
Unterentwicklung” 2 bezeichnet wird, und andererseits an die negativen
Folgen der ,,Überentwicklung”.3 Und dann übersehe ich nicht, daß in den
sogenannten ,,armen” Gesellschaften das Wirtschaftswachstum häufig durch kulturelle
Hindernisse gebremst wird, die einen angemessenen Gebrauch der Ressourcen nicht gestatten.
Es steht ohnehin fest, daß jede Form von auferlegter Armut in einer mangelnden Achtung
der transzendenten Würde der menschlichen Person wurzelt. Wenn der Mensch nicht in
der Ganzheit seiner Berufung betrachtet wird und man die Ansprüche einer wirklichen
,,Humanökologie”4 nicht respektiert, entfesseln sich auch die perversen
Dynamiken der Armut, wie es in einigen Bereichen, auf die ich kurz eingehen möchte,
deutlich wird. Armut und moralische Folgen 3. Häufig wird die Armut mit der
demographischen Entwicklung gleichsam als deren Ursache in Verbindung gebracht. Infolgedessen
laufen Kampagnen zur Geburtenreduzierung, die auf internationaler Ebene auch mit Methoden
durchgeführt werden, die weder die Würde der Frau respektieren noch das Recht der
Eheleute, verantwortlich die Zahl ihrer Kinder zu bestimmen,5 und – was
noch schwerwiegender ist – oft nicht einmal das Recht auf Leben achten. Die Vernichtung
von Millionen ungeborener Kinder im Namen der Armutsbekämpfung ist in Wirklichkeit
eine Eliminierung der Ärmsten unter den Menschen. In Anbetracht dessen bleibt das
Faktum bestehen, daß 1981 etwa 40% der Weltbevölkerung unterhalb der absoluten Armutsgrenze
lebten, während sich dieser Prozentsatz heute praktisch halbiert hat und Völkerschaften,
die übrigens ein beachtliches demographisches Wachstum aufweisen, die Armut überwunden
haben. Diese Tatsache macht deutlich, daß die Ressourcen zur Lösung des Problems der
Armut selbst bei einem Anwachsen der Bevölkerung vorhanden wären. Man darf auch nicht
vergessen, daß seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute die Erdbevölkerung um
vier Milliarden zugenommen hat und daß dieses Phänomen weitgehend Länder betrifft,
die jüngst auf der internationalen Bühne als neue Wirtschaftsmächte erschienen sind
und die gerade dank ihrer hohen Einwohnerzahl eine schnelle Entwicklung erlebt haben.
Überdies erfreuen sich unter den am meisten entwikkelten Nationen jene mit den höchsten
Geburtenraten eines besseren Entwicklungspotentials. Mit anderen Worten, es bestätigt
sich, daß die Bevölkerung ein Reichtum und nicht ein Armutsfaktor ist. 4. Ein anderer
besorgniserregender Bereich sind die pandemischen Krankheiten wie zum Beispiel Malaria,
Tuberkulose und AIDS, welche in dem Maß, wie sie die produktiven Teile der Bevölkerung
befallen, einen starken Einfluß auf die Verschlechterung der allgemeinen Bedingungen
eines Landes ausüben. Die Versuche, die Konsequenzen dieser Krankheiten für die Bevölkerung
zu bremsen, erzielen nicht immer Ergebnisse von Bedeutung. Außerdem kommt es vor,
daß die von einigen dieser Pandemien betroffenen Länder, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen,
Erpressungen von seiten derer erleiden müssen, die wirtschaftliche Hilfen von der
Umsetzung einer lebensfeindlichen Politik abhängig machen. Vor allem ist es schwierig,
AIDS, eine dramatische Ursache der Armut, zu bekämpfen, wenn man sich nicht der moralischen
Problematik stellt, mit der die Verbreitung des Virus verbunden ist. Zunächst müssen
Kampagnen unternommen werden, die besonders die Jugendlichen zu einer Sexualität erziehen,
die völlig der Würde der Person entspricht; in diesem Sinn realisierte Initiativen
haben bereits bedeutende Ergebnisse erzielt, indem sie die Verbreitung von AIDS vermindert
haben. Sodann müssen auch den armen Völkern die notwendigen Medikamente und Behandlungen
zur Verfügung gestellt werden; das setzt eine entschiedene Förderung der medizinischen
Forschung und der therapeutischen Neuerungen voraus sowie nötigenfalls eine flexible
Anwendung der internationalen Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums, so daß
allen die gesundheitliche Grundversorgung gewährleistet werden kann. 5. Ein dritter
Bereich, dem die Aufmerksamkeit in den Programmen zur Bekämpfung der Armut gilt und
der die ihr innewohnende moralische Dimension zeigt, ist die Armut der Kinder. Wenn
eine Familie von Armut betroffen ist, erweisen sich die Kinder als ihre anfälligsten
Opfer: Fast die Hälfte derer, die in absoluter Armut leben, sind heute Kinder. Wenn
man sich bei der Betrachtung der Armut auf die Seite der Kinder stellt, sieht man
sich veranlaßt, jene Ziele als vorrangig anzusehen, die diese am unmittelbarsten angehen,
wie zum Beispiel die Fürsorge für die Mütter, das Engagement in der Erziehung, den
Zugang zu Impfungen, zu medizinischer Versorgung und zum Trinkwasser, den Umweltschutz
und vor allem den Einsatz zum Schutz der Familie und der Beständigkeit der innerfamiliären
Beziehungen. Wenn die Familie schwächer wird, tragen unvermeidlich die Kinder den
Schaden davon. Wo die Würde der Frau und der Mutter nicht geschützt wird, bekommen
das wiederum in erster Linie die Kinder zu spüren. 6. Ein vierter Bereich, dem
unter moralischem Gesichtspunkt besondere Aufmerksamkeit gebührt, ist die bestehende
Beziehung zwischen Abrüstung und Entwicklung. Das augenblickliche Niveau der weltweiten
militärischen Ausgaben ist besorgniserregend. Wie ich bereits betont habe, geschieht
es, daß »die enormen materiellen und menschlichen Ressourcen, die in die militärischen
Ausgaben und in die Rüstung einfließen, ... den Entwicklungsprojekten der Völker,
besonders der ärmsten und hilfsbedürftigsten, entzogen [werden]. Und das verstößt
gegen die Charta der Vereinten Nationen, die die internationale Gemeinschaft und insbesondere
die Staaten verpflichtet, ,,die Herstellung und Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit so zu fördern, daß von den menschlichen und wirtschaftlichen Hilfsquellen
der Welt möglichst wenig für Rüstungszwecke abgezweigt wird” (Art. 26)«.6 Dieser
Sachverhalt ist keine Erleichterung, sondern stellt sogar eine ernste Behinderung
für das Erreichen der großen Entwicklungsziele der internationalen Gemeinschaft dar.
Außerdem läuft eine übertriebene Erhöhung der militärischen Ausgaben Gefahr, einen
Rüstungswettlauf zu beschleunigen, der Enklaven der Unterentwicklung und der Verzweiflung
verursacht und sich so paradoxerweise in einen Faktor von Instabilität, von Spannung
und von Konflikten verwandelt. Wie mein verehrter Vorgänger Paul VI. weitblickend
geäußert hat, ist ,,die Entwicklung die neue Bezeichnung für Frieden”.7
Darum sind die Staaten dazu aufgefordert, ernsthaft über die tieferen Gründe der häufig
durch Ungerechtigkeit entzündeten Konflikte nachzudenken und ihnen durch eine mutige
Selbstkritik abzuhelfen. Wenn eine Verbesserung der Beziehungen erreicht wird, müßte
das eine Reduzierung der Rüstungsausgaben gestatten. Die eingesparten Geldmittel können
dann für Entwicklungsprojekte zugunsten der ärmsten und am meisten notleidenden Menschen
und Völker bestimmt werden: Ein großzügiges Engagement in diesem Sinne ist ein Engagement
für den Frieden innerhalb der Menschheitsfamilie. 7. Ein fünfter Bereich im Zusammenhang
mit der Bekämpfung der materiellen Armut betrifft die augenblickliche Nahrungsmittelkrise,
welche die Befriedigung der Grundbedürfnisse aufs Spiel setzt. Diese Krise ist weniger
durch einen Mangel an Nahrungsmitteln gekennzeichnet als vielmehr durch Schwierigkeiten
des Zugangs zu ihnen und durch Spekulationen, also durch das Fehlen einer Koordination
politischer und wirtschaftlicher Institutionen, die in der Lage ist, den Bedürfnissen
und Notlagen zu begegnen. Die Unterernährung kann auch schwere psycho- physische Schäden
für die Völkerschaften verursachen, indem sie viele Menschen der nötigen Energien
beraubt, um ohne spezielle Hilfen aus ihrer Armutssituation herauszukommen. Das trägt
dazu bei, daß die Schere der Ungleichheiten weiter auseinandergeht, und provoziert
Reaktionen, die Gefahr laufen, in Gewalt zu münden. Die Daten über die Entwicklung
der relativen Armut in den letzten Jahrzehnten zeigen alle eine Vergrößerung des Gefälles
zwischen Reichen und Armen an. Hauptursachen dieses Phänomens sind zweifellos einerseits
der technologische Wandel, dessen Nutzen vor allem der oberen Einkommensklasse zugute
kommt, und andererseits die Preisdynamik der Industrieprodukte, deren Kosten wesentlich
schneller ansteigen als die Preise der Agrarprodukte und der Rohstoffe, die im Besitz
der ärmeren Länder sind. So geschieht es, daß der größte Teil der Bevölkerung der
ärmeren Länder unter doppelter Marginalisierung leidet, sowohl durch niedrigere Einnahmen
als auch durch höhere Preise. Bekämpfung der Armut und globale Solidarität 8.
Einer der besten Wege zur Schaffung des Friedens ist eine Globalisierung, die auf
die Interessen der großen Menschheitsfamilie 8 ausgerichtet ist. Um die
Globalisierung zu lenken, bedarf es jedoch einer starken globalen Solidarität 9
zwischen reichen und armen Ländern sowie innerhalb der einzelnen Länder, auch wenn
sie reich sind. Ein ,,gemeinsamer Ethikkodex”10 ist notwendig, dessen Normen
nicht nur den Charakter von Konventionen besitzen, sondern im Naturgesetz wurzeln,
das vom Schöpfer in das Gewissen eines jeden Menschen eingeschrieben ist (vgl. Röm
2, 14- 15). Spürt nicht jeder von uns im Innersten seines Gewissens den Aufruf, seinen
eigenen Beitrag zum Allgemeinwohl und zum sozialen Frieden zu leisten? Die Globalisierung
beseitigt gewisse Barrieren, doch das bedeutet nicht, daß sie nicht neue aufrichten
kann; sie bringt die Völker einander näher, doch die räumliche und zeitliche Nähe
schafft von sich aus nicht die Bedingungen für ein wahres Miteinander und einen echten
Frieden. Die Marginalisierung der Armen des Planeten kann in der Globalisierung nur
dann wirksame Mittel zur Befreiung finden, wenn jeder Mensch sich durch die in der
Welt bestehenden Ungerechtigkeiten und die damit verbundenen Verletzungen der Menschenrechte
persönlich verwundet fühlt. Die Kirche, die ,,Zeichen und Werkzeug für die innigste
Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit”11 ist,
wird weiterhin ihren Beitrag leisten, damit Ungerechtigkeiten und Unverständnis überwunden
werden und man dahin gelangt, eine friedvollere und solidarischere Welt aufzubauen. 9.
Auf dem Gebiet des Internationalen Handels und der Finanztransaktionen sind heute
Prozesse im Gange, die es erlauben, die Ökonomien positiv zu koordinieren und so zur
Verbesserung der allgemeinen Bedingungen beizutragen; doch es gibt auch gegenteilige
Prozesse, welche die Völker entzweien und ins Abseits drängen und so gefährliche Voraussetzungen
für Kriege und Konflikte schaffen. In den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg ist der internationale Waren- und Dienstleistungshandel ausserordentlich
schnell angestiegen und hat dabei eine in der Geschichte zuvor nicht gekannte Dynamik
entfaltet. Ein großer Teil des Welthandels betraf die bereits früh industrialisierten
Länder, mit der beachtlichen Erweiterung durch viele Schwellenländer, die an Bedeutung
gewonnen haben. Es gibt jedoch andere Länder mit niedrigen Einnahmen, die hinsichtlich
des Handelsflusses noch schwer marginalisiert sind. Ihr Wachstum hat unter dem in
den letzten Jahrzehnten verzeichneten schnellen Verfall der Preise für Primärgüter
gelitten, die fast die Gesamtheit ihrer Exporte ausmachen. In diesen – großenteils
afrikanischen – Ländern stellt die Abhängigkeit vom Export von Primärgütern weiterhin
einen erheblichen Risikofaktor dar. Ich möchte hier erneut dazu aufrufen, allen Ländern
die gleichen Zugangschancen zum Weltmarkt einzuräumen und Ausschlüsse und Marginalisierungen
zu vermeiden. 10. Ähnliche Überlegungen können über das Finanzwesen angestellt
werden, das dank der Entwicklung der Elektronik und der Politik zur Liberalisierung
des Geldverkehrs zwischen den verschiedenen Ländern einen der Hauptaspekte des Phänomens
der Globalisierung betrifft. Die objektiv wichtigste Funktion des Finanzwesens, nämlich
langfristig die Möglichkeit von Investitionen und somit von Entwicklung zu unterstützen,
erweist sich heute als äußerst anfällig: Sie erfährt die negativen Rückwirkungen eines
Systems von Finanztransaktionen – auf nationaler und globaler Ebene –, die auf einem
extrem kurzfristigen Denken beruhen, das den Wertzuwachs aus Finanzaktivitäten verfolgt
und sich auf die technische Verwaltung der verschiedenen Formen des Risikos konzentriert.
Auch die jüngste Krise beweist, wie die Finanzaktivität manchmal von rein autoreferentiellen
Logiken geleitet wird, die jeder langfristigen Rücksicht auf das Allgemeinwohl entbehren.
Die Einengung in der Zielsetzung der weltweiten Finanzmakler auf die extreme Kurzfristigkeit
vermindert die Fähigkeit des Finanzwesens, seine Brückenfunktion zwischen Gegenwart
und Zukunft zu erfüllen zur Unterstützung der Schaffung langfristig angelegter Produktions-
und Arbeitsmöglichkeiten. Ein auf kurze und kürzeste Fristen eingeengtes Finanzwesen
wird gefährlich für alle, auch für diejenigen, denen es gelingt, während der Phasen
der Finanzeuphorie davon zu profitieren.12 11. Aus all dem geht hervor,
daß die Bekämpfung der Armut eine Zusammenarbeit sowohl auf wirtschaftlicher als auch
auf juristischer Ebene erfordert, die der internationalen Gemeinschaft und im besonderen
den armen Ländern ermöglicht, aufeinander abgestimmte Lösungen zu finden und zu verwirklichen,
um den oben genannten Problemen durch die Bereitstellung eines wirksamen rechtlichen
Rahmens für die Wirtschaft zu begegnen. Sie verlangt außerdem Impulse zur Bildung
von leistungsfähigen, auf Mitverantwortung beruhenden Institutionen sowie die Unterstützung
im Kampf gegen die Kriminalität und in der Förderung einer Kultur der Legalität. Andererseits
ist nicht zu leugnen, daß eine ausgeprägte Wohlfahrtspolitik häufig Ursache des Scheiterns
von Hilfsmaßnahmen für die armen Länder ist. In die Ausbildung der Menschen zu investieren
und ergänzend eine spezifische Kultur der Eigeninitiative zu entwickeln, erscheint
zur Zeit als der richtige mittel- und langfristige Plan. Wenn die wirtschaftlichen
Aktivitäten zu ihrer Entfaltung günstige äußere Umstände brauchen, so bedeutet das
nicht, daß man den Problemen des Einkommens keine Aufmerksamkeit schenken darf. Obschon
zu Recht unterstrichen worden ist, daß die Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens nicht
das Ziel schlechthin des politisch-wirtschaftlichen Handelns sein kann, darf man doch
nicht vergessen, daß dies ein wichtiges Instrument darstellt, um das Ziel der Bekämpfung
von Hunger und absoluter Armut zu erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt muß hier die
Illusion ausgeräumt werden, daß eine Politik der reinen Umverteilung des bestehenden
Vermögens das Problem endgültig lösen könnte. In einer modernen Wirtschaft hängt nämlich
der Wert des Vermögens in ausschlaggebendem Maße von der Fähigkeit ab, gegenwärtigen
und zukünftigen Gewinn zu schaffen. Die Wertschöpfung erweist sich deshalb als eine
unausweichliche Notwendigkeit, die man berücksichtigen muß, wenn man die materielle
Armut wirksam und nachhaltig bekämpfen will. 12. Die Armen an die erste Stelle
zu setzen, erfordert schließlich den gebührenden Raum für eine korrekte wirtschaftliche
Logik bei den Akteuren des internationalen Marktes, für eine korrekte politische Logik
bei den institutionellen Akteuren und für eine korrekte Logik der Mitverantwortung,
die fähig ist, die lokale wie internationale Zivilgesellschaft zur Geltung zu bringen.
Die internationalen Organismen anerkennen heute selbst den hohen Wert und den Vorteil
wirtschaftlicher Initiativen der Zivilgesellschaft oder der örtlichen Verwaltungen
zur Förderung der Befreiung und Eingliederung jener Bevölkerungsschichten in die Gesellschaft,
die häufig unterhalb der äußersten Armutsgrenze leben und zugleich für die offiziellen
Hilfen schwer erreichbar sind. Die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung des
20. Jahrhunderts lehrt, daß gute Entwicklungspolitik von der Verantwortlichkeit der
Menschen und der Schaffung eines positiven Zusammenwirkens von Märkten, Zivilgesellschaft
und Staaten abhängt. Besonders der Zivilgesellschaft kommt eine ausschlaggebende Rolle
in jedem Entwicklungsprozeß zu, denn die Entwicklung ist im wesentlichen ein kulturelles
Phänomen, und die Kultur entsteht und entfaltet sich im Zivilbereich.13 13.
Wie mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. bereits betont hat, offenbart die Globalisierung
,,eine ausgeprägte Charakteristik der Ambivalenz” 14 und muß deshalb mit
umsichtiger Klugheit gelenkt werden. Zu dieser Form von Klugheit gehört es auch, vorrangig
die Bedürfnisse der Armen der Erde zu berücksichtigen, indem der Skandal des bestehenden
Mißverhältnisses zwischen den Problemen der Armut und den Maßnahmen, welche die Menschen
vorsehen, um ihnen entgegenzutreten, überwunden wird. Das Mißverhältnis besteht sowohl
auf kultureller und politischer als auch auf geistiger und ethischer Ebene. Man bleibt
nämlich oft bei den äußeren und praktischen Ursachen der Armut stehen, ohne zu denen
vorzudringen, die im menschlichen Herzen wohnen wie die Habgier und die Begrenztheit
der Horizonte. Die Probleme der Entwicklung, der Hilfen und der internationalen Zusammenarbeit
werden manchmal ohne eine wirkliche Einbeziehung der Menschen als rein technische
Fragen angegangen, die sich in der Planung von Strukturen, im Abschluß von Tarifverträgen
und in der Bereitstellung anonymer Finanzierungen erschöpfen. Die Bekämpfung der Armut
ist dagegen auf Männer und Frauen angewiesen, die zutiefst die Mitmenschlichkeit praktizieren
und fähig sind, Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften auf Wegen authentischer
menschlicher Entwicklung zu begleiten. Schluß 14. In der Enzyklika Centesimus
annus mahnte Johannes Paul II. die Notwendigkeit an, ,,eine Denkweise aufzugeben,
die die Armen der Erde — Personen und Völker — als eine Last und als unerwünschte
Menschen ansieht, die das zu konsumieren beanspruchen, was andere erzeugt haben”.
,,Die Armen”, schrieb er, ,,verlangen das Recht, an der Nutzung der materiellen Güter
teilzuhaben und ihre Arbeitsfähigkeit einzubringen, um eine gerechtere und für alle
glücklichere Welt aufzubauen”.15 In der jetzigen globalisierten Welt wird
immer offensichtlicher, daß der Friede nur hergestellt werden kann, wenn man allen
die Möglichkeit eines vernünftigen Wachstums sichert: Die Verzerrungen ungerechter
Systeme präsentieren nämlich früher oder später allen die Rechnung. Es kann also nur
die Torheit dazu verführen, ein vergoldetes Haus zu bauen, wenn ringsum Wüste oder
Verfall herrscht. Die Globalisierung allein ist unfähig, den Frieden herzustellen,
und in vielen Fällen schafft sie sogar Trennungen und Konflikte. Sie offenbart vielmehr
einen Bedarf: den einer Ausrichtung auf ein Ziel völliger Solidarität, die das Wohl
eines jeden und aller anstrebt. In diesem Sinn ist die Globalisierung als eine günstige
Gelegenheit anzusehen, um in der Bekämpfung der Armut etwas Bedeutendes zu verwirklichen
und um der Gerechtigkeit und dem Frieden bisher unvorstellbare Möglichkeiten zur Verfügung
zu stellen. 15. Von jeher hat sich die Soziallehre der Kirche um die Armen gekümmert.
Zur Zeit der Enzyklika Rerum novarum waren dies vor allem die Arbeiter der neuen Industriegesellschaft;
in der Soziallehre Pius' XI., Pius' XII., Johannes' XXIII., Pauls VI. und Johannes
Pauls II. sind neue Formen der Armut hervorgehoben worden, während sich der Horizont
der sozialen Frage weitete, bis sie weltweite Dimensionen angenommen hat.16
Diese Ausweitung der sozialen Frage auf die Globalität ist nicht nur im Sinn einer
quantitativen Ausdehnung zu betrachten, sondern auch im Sinn einer qualitativen Vertiefung
über den Menschen und über die Bedürfnisse der Menschheitsfamilie. Darum zeigt die
Kirche, während sie die aktuellen Phänomene der Globalisierung und ihre Auswirkung
auf die Formen menschlicher Armut aufmerksam verfolgt, die neuen Aspekte der sozialen
Frage nicht nur in ihrer Ausdehnung, sondern auch in ihrer Tiefe auf, insofern sie
die Identität des Menschen und seine Beziehung zu Gott betreffen. Es sind Prinzipien
der Soziallehre, die danach trachten, die Zusammenhänge zwischen Armut und Globalisierung
zu klären und das Handeln auf die Schaffung des Friedens auszurichten. Unter diesen
Prinzipien ist es angebracht, im Licht des Primats der Nächstenliebe hier in besonderer
Weise an die ,,vorrangige Liebe für die Armen” 17 zu erinnern, die von
der gesamten christlichen Überlieferung von der Urkirche an bezeugt worden ist (vgl.
Apg 4, 32-36; 1 Kor 16, 1; 2 Kor 8-9; Gal 2, 10). ,,Jeder trage ohne Zögern den
Teil bei, der ihm obliegt”, schrieb Leo XIII. 1891 und fügte hinzu: ,,Was die Kirche
betrifft, wird sie niemals und in keiner Weise von ihrem Werk ablassen”.18
Dieses Bewußtsein begleitet auch heute das Handeln der Kirche gegenüber den Armen,
in denen sie Christus sieht,19 da sie in ihrem Herzen ständig den Auftrag
des Friedensfürsten an die Apostel nachklingen hört: ,,Vos date illis manducare –
gebt ihr ihnen zu essen” (Lk 9, 13). In der Treue zu dieser Aufforderung ihres Herrn
wird die Kirche deshalb niemals versäumen, der gesamten Menschheitsfamilie ihre Unterstützung
in den Impulsen zu kreativer Solidarität zu versichern, nicht nur um aus dem Überfluß
zu spenden, sondern vor allem um ,,die Lebensweisen, die Modelle von Produktion und
Konsum und die verfestigten Machtstrukturen zu ändern, die heute die Gesellschaften
beherrschen”.20 Darum richte ich zu Beginn eines neuen Jahres an alle Jünger
Christi wie auch an jeden Menschen guten Willens die dringende Einladung, gegenüber
den Bedürfnissen der Armen das Herz zu öffnen und alles konkret Mögliche zu unternehmen,
um ihnen zu Hilfe zu kommen. Unumstößlich wahr bleibt nämlich das Axiom: ,,Die Armut
bekämpfen heißt den Frieden schaffen”. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2008. VATIKANISCHE
DRUCKEREI 1 Botschaft zum Weltfriedenstag 1993, 1 2 Paul VI., Enzyklika Populorum
progressio, 19. 3 Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 28. 4
Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 38. 5 Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum
progressio, 37; Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 25. 6 Benedikt
XVI., Schreiben an Kardinal Renato Raffaele Martino anläßlich der internationalen
Studientagung des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden zum Thema ,,Abrüstung,
Entwicklung und Frieden. Perspektiven für eine allseitige Abrüstung”, 10. April 2008. 7
Enzyklika Populorum progressio, 87. 8 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus
annus, 58. 9 Vgl. Johannes Paul II., Ansprache bei der Audienz des Christlichen
Verbandes der italienischen Arbeiter ACLI, 27. April 2002, 4: Insegnamenti di Giovanni
Paolo II, XXV, 1 [2002], 637. 10 Johannes Paul II., Ansprache vor der Vollversammlung
der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, 27. April 2001, 4: Insegnamenti
di Giovanni Paolo II, XXIV, 1 [2001], 802. 11 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm.
Konst. Lumen gentium, 1. 12 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden,
Kompendium der Soziallehre der Kirche, 368. 13 Vgl. ebd., 356. 14 Ansprache
bei der Audienz für Leiter der Arbeiter- und Industriegewerkschaften, 2. Mai 2000,
3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, XXIII, 1 [2000], 726. 15 Nr. 28 16 Vgl.
Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 3. 17 Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo
rei socialis, 42; vgl. Ders., Enzyklika Centesimus annus, 57. 18 Leo XIII., Enzyklika
Rerum novarum, 45. 19 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 58. 20
Ebd.