Dokument: Die Predigt des Papstes zum Abschluss der Bischofs-Synode
Mit einer feierlichen Messe in St. Peter ist am Sonntag die Weltbischofssynode zu
Ende gegangen. Vor den Synodenvätern aus aller Welt kündigte Benedikt XVI. seine erste
Reise nach Afrika an. Im März 2009 will er Kamerun und Angola besuchen. Bischöfe
aus aller Welt hatten sich seit dem 5. Oktober im Vatikan mit dem Thema Wort Gottes
beschäftigt. Hier dokumentieren wir den schriftlichen Redetext des Papstes, wie er
ihn (mit kleinen Hinzufügungen) in St. Peter vorgetragen hat, in voller Länge.
HOMILIE
DES HEILIGEN VATERS NICHT OFFIZIELLE DEUTSCHE ÜBERSETZUNG
Liebe
Mitbrüder im Bischofs- und im Priesteramt, liebe Brüder und Schwestern!
Das
Wort des Herrn, das eben im Evangelium erklungen ist, hat uns daran erinnert, dass
in der Liebe das gesamte göttliche Gesetz zusammengefasst ist. Der Evangelist Matthäus
berichtet, dass die Pharisäer, nachdem Jesus die Sadduzäer mit seiner Antwort zum
Schweigen gebracht hatte, zusammengekommen waren, um ihn auf die Probe zu stellen
(vgl. 22,34-35). Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, fragte ihn: “Meister, welches
Gebot im Gesetz ist das wichtigste?” (V. 36). Die Frage lässt die in der alten jüdischen
Tradition vorhandene Besorgnis erkennen, ein einendes Prinzip für die verschiedenen
Formulierungen des göttlichen Willens zu finden. Dies war keine einfache Frage, wenn
man bedenkt, dass es im Gesetz Mose 613 Gebote und Verbote gab. Wie sollte man erkennen,
welches von ihnen das größte ist? Aber Jesus antwortet ohne zu zögern: “Du sollst
den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deine
Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot” (V. 37-38). In seiner Antwort zitiert
Jesus das Shemà, das Gebet, das der fromme Israelit mehrmals am Tag spricht, vor allem
am Morgen und am Abend (vgl. Dtn 6.4-9; 11,13-21; Num 15,37-41): der Ausruf der Gott
als dem einzigen Herrn geschuldeten ganzheitlichen und totalen Liebe. Die Betonung
liegt auf der Totalität dieser Hingabe an Gott, es werden die drei Fähigkeiten aufgezählt,
die den Menschen in seinen tiefen psychischen Strukturen ausmachen: Herz, Seele und
Verstand. Der Begriff Verstand, diánoia, umfasst den rationalen Aspekt. Gott ist nicht
nur Gegenstand der Liebe, der Pflicht, des Willens und des Gefühls, sondern auch des
Intellekts, der deshalb aus diesem Bereich nicht ausgeschlossen werden darf. Dann
aber fügt Jesus etwas hinzu, nach dem der Gesetzeslehrer in Wirklichkeit gar nicht
gefragt hatte: “Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst” (V. 39). Das Überraschende der Antwort Jesu besteht in der Tatsache,
dass er eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Gebot herstellt,
das er in gleicher Weise mit einer biblischen, dem levitischen Kodex der Heiligkeit
(vgl. Lev 19,18) entnommenen Formulierung beschreibt. Und schließlich werden am Schluss
des Abschnitts die beiden Gebote miteinander verbunden in ihrer Rolle als fundamentales
Prinzip, auf dem die gesamte biblische Offenbarung ruht: “An diesen beiden Geboten
hängt das ganze Gesetz samt den Propheten” (V. 40). Der Text aus dem Evangelium,
über den wir nachdenken, unterstreicht, dass Jünger Christi zu sein bedeutet, nach
seinen Lehren zu handeln, die zusammengefasst sind im ersten und größten Gebot des
göttlichen Gesetzes, dem Gebot der Liebe. Auch die erste Lesung aus dem Buch Exodus
hebt die Pflicht der Liebe hervor; eine Liebe, die in den Beziehungen zwischen den
Personen konkret bezeugt wird: es müssen von Achtung, Zusammenarbeit und großherziger
Hilfe geprägte Beziehungen sein. Auch der Fremde, die Witwe und der Bedürftige - das
heißt jene Mitbürger, die niemand “verteidigt” - sind Nächste, die geliebt werden
sollen. Der biblische Autor beschäftigt sich auch mit Einzelheiten, wie im Fall des
einem Armen geliehenen Objektes (vgl. Ex 22,25-26). Hier ist es Gott selbst, der sich
zum Garanten der Situation macht, in der sich dieser Nächste befindet. In der zweiten
Lesung können wir eine konkrete Umsetzung des höchsten Gebotes der Liebe in einer
der ersten christlichen Gemeinden erkennen. Der hl. Paulus schreibt an die Thessalonicher
und gibt ihnen zu verstehen, dass er sie schätzt und voll Zuneigung in seinem Herzen
trägt, obwohl er sie erst seit kurzem kennt. Er weist auf sie als “Vorbild für alle
Gläubigen in Mazedonien und in Achaia” (1 Thess 1,6-7) hin. Es fehlt in dieser erst
vor kurzem gegründeten Gemeinde sicher nicht an Schwächen und Schwierigkeiten, aber
es ist die Liebe, die alles überwindet, alles erneuert und alles besiegt: die Liebe
dessen, der im Bewusstsein seiner eigenen Grenzen gehorsam den Worten Christi, des
göttlichen Meisters, folgt, die durch einen treuen Jünger weitergegeben wurden: “Ihr
seid unserem Beispiel gefolgt und dem des Herrn”, schreibt der hl. Paulus, “ihr habt
das Wort trotz großer Bedrängnis aufgenommen”. Und er fährt fort: “Von euch aus ist
das Wort des Herrn aber nicht nur nach Mazedonien und Achaia gedrungen, sondern überall
ist euer Glaube an Gott bekannt geworden” (1 Thess 6.8). Die Lehre, die wir aus der
Erfahrung der Thessalonicher ziehen - eine Erfahrung, die in Wahrheit alle authentischen
christlichen Gemeinschaften gemeinsam haben -, ist, dass die Liebe zum Nächsten aus
dem gehorsamen Hören des göttlichen Wortes kommt. Wie wichtig ist es also, das Wort
zu hören und ihm im persönlichen und gemeinschaftlichen Leben Gestalt zu verleihen! In
dieser Eucharistiefeier zum Abschluss der Synodenarbeiten nehmen wir in einzigartiger
Weise die Beziehung wahr, die zwischen dem liebevollen Hören auf Gott und dem uneigennützigen
Dienst an den Brüdern besteht. Wie oft haben wir in den vergangenen Tagen Erfahrungen
und Reflexionen gehört, die unterstreichen, dass es heute ein wachsendes Bedürfnis
gibt, innerlicher auf Gott zu hören, sowie sein Heilswort wahrhaft zu kennen und in
aufrichtigerer Weise den Glauben zu teilen, der sich beständig am Tisch des göttlichen
Wortes nährt! Liebe und verehrte Brüder, ich danke jedem von euch für das, was er
zur Vertiefung des Synodenthemas “Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der
Kirche” beigetragen hat. Ich grüße euch alle voll Zuneigung. Einen besonderen Gruß
richte ich an die Herren Kardinäle: die Delegierten Präsidenten und den Generalsekretär
der Synode, denen ich für ihren beständigen Einsatz danke. Ich grüße euch, liebe Brüder
und Schwestern, die ihr aus allen Kontinenten gekommen seid und eure bereichernde
Erfahrung mitgebracht habt. Übermittelt bei eurer Rückkehr allen den herzlichen Gruß
des Bischofs von Rom. Ich grüße die Bruderdelegierten, die Experten, die Auditoren
und die Sondergäste, die Mitglieder des Generalsekretariats der Synode und alle für
die Pressearbeit Zuständigen. Ein besonderer Gedanke gilt den Bischöfen Kontinentalchinas,
die nicht an dieser Synodenversammlung teilnehmen konnten. Ich möchte an dieser Stelle
ihrer Liebe zu Christus, ihrer Gemeinschaft mit der Weltkirche und ihrer Treue zum
Nachfolger des Apostels Petrus meine Stimme verleihen und Gott dafür danken. Wir denken
in unserem Gebet an sie und alle ihrer Hirtensorge anvertrauten Gläubigen. Bitten
wir den “obersten Hirten” (1 Petr 5,4) ihnen Freude, Kraft und apostolischen Eifer
zu schenken, damit sie mit Weisheit und Weitsicht die katholische Gemeinschaft in
China führen können, die uns sehr am Herzen liegt. Wir alle, die wir an den Synodenarbeiten
teilgenommen haben, nehmen das erneuerte Bewusstsein mit, dass die Hauptaufgabe der
Kirche am Beginn des neuen Jahrtausends vor allem darin besteht, sich vom Wort Gottes
zu ernähren, um ihren Einsatz in der Neuevangelisierung wirksam werden zu lassen.
Jetzt muss diese kirchliche Erfahrung in jede Gemeinschaft hineingetragen werden;
wir müssen die Notwendigkeit erkennen, das gehörte Wort in Gesten der Liebe umzusetzen,
weil nur so die Verkündigung des Evangeliums glaubwürdig wird, trotz aller menschlicher
Schwächen. Das erfordert vor allem eine noch tiefere Kenntnis Christi und ein immer
fügsameres Hören auf sein Wort. In diesem Paulusjahr machen wir uns die Worte des
Apostels zu eigen: “Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde” (1 Kor 9,16),
und ich wünsche von Herzen, dass in jeder Gemeinschaft mit immer festerer Überzeugung
diese Sehnsucht des hl. Paulus als Berufung im Dienst am Evangelium für die Welt wahrgenommen
wird. Am Beginn der Synodenarbeiten habe ich an den Aufruf Jesu erinnert: “die Ernte
ist groß” (Mt 9,37), ein Aufruf, auf den wir unermüdlich antworten müssen trotz der
Schwierigkeiten, auf die wir stoßen können. So viele Menschen sind auf der Suche,
manchmal sogar ohne sich dessen bewusst zu sein, nach der Begegnung mit Christus und
seinem Evangelium; so viele haben es nötig, in ihm den Sinn ihres Lebens zu finden.
Ein klares und gemeinsames Zeugnis von einem Leben nach dem von Jesus bezeugten Wort
Gottes zu geben ist daher ein unerlässlicher Prüfstein für die Sendung der Kirche. Die
Lesungen, die die Liturgie uns heute zur Betrachtung anbietet, erinnern uns daran,
dass die Fülle des Gesetzes sowie aller göttlichen Schriften die Liebe ist. Wer also
meint, die Schriften oder zumindest irgendeinen Teil von ihnen verstanden zu haben,
ohne sich durch ihr Verständnis auch dafür einzusetzen, die zweifache Liebe zu Gott
und zum Nächsten aufzubauen, zeigt in Wirklichkeit, dass er noch weit davon entfernt
ist, den tiefen Sinn verstanden zu haben. Aber wie soll man dieses Gebot in die Tat
umsetzen, wie könnte man die Liebe zu Gott und den Brüdern ohne einen lebendigen und
intensiven Kontakt mit den Heiligen Schriften leben? Das Zweite Vatikanische Konzil
bekräftigt: “Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit
offenstehen” (Konstitution Dei Verbum, 22), damit die Menschen, wenn sie der Wahrheit
begegnen, in der echten Liebe wachsen können. Es handelt sich um ein heute unerlässliches
Erfordernis für die Evangelisierung. Und weil die Begegnung mit der Schrift nicht
selten Gefahr läuft, keine “kirchliche Angelegenheit” zu sein, sondern Subjektivismus
und Willkür ausgesetzt ist, wird es unerlässlich, durch eine gehaltvolle und glaubwürdige
Pastoral, die Kenntnis der Heiligen Schrift zu fördern, um das Wort in der christlichen
Gemeinschaft zu verkünden, zu feiern und zu leben. Dies soll im Dialog mit den Kulturen
unserer Zeit geschehen, im Dienst der Wahrheit und nicht der gängigen Ideologien,
zur Vertiefung des Dialogs, den Gott mit allen Menschen führen will (vgl. ebd., 21).
Zu diesem Zweck muss der Vorbereitung der Priester besondere Sorgfalt gewidmet werden,
denn sie sollen anschließend die Beschäftigung mit der Bibel anhand von geeigneten
Hilfsmitteln fördern. Die gegenwärtigen Bemühungen, um unter den Laien Initiativen
in bezug auf die Bibel und besonders unter den Jugendlichen die Ausbildung von Gruppenleitern
ins Leben zu rufen, müssen ermutigt werden. Das Bemühen, den Glauben durch das Wort
Gottes auch den Fernstehenden und besonders denen, die ernsthaft auf der Suche nach
dem Sinn des Lebens sind, bekannt zu machen, muss unterstützt werden. Viele andere
Überlegungen würde ich gerne noch hinzufügen, ich beschränke mich aber darauf, zu
unterstreichen, dass der privilegierte Ort, an dem das Wort Gottes, das die Kirche
aufbaut, erklingt, zweifellos die Liturgie ist. Hier scheint auf, dass die Bibel das
Buch eine Volkes und für ein Volk ist; ein Erbe, eine den Lesern übergebene Hinterlassenschaft,
damit sie in ihrem Leben die Heilsgeschichte Gegenwart werden lassen, deren schriftliches
Zeugnis die Bibel bewahrt. Deshalb gibt es eine Beziehung wechselseitiger, lebenswichtiger
Zugehörigkeit zwischen Volk und Buch: die Bibel bleibt ein lebendiges Buch, wenn es
ein Volk gibt, das sie liest; das Volk existiert nicht ohne das Buch, denn in ihm
findet es seine Daseinsberechtigung, seine Berufung, seine Identität. Diese wechselseitige
Zugehörigkeit von Volk und Heiliger Schrift wird in jeder liturgischen Versammlung
gefeiert, die durch den Heiligen Geist auf Christus hört, denn er ist es, der spricht,
wenn in der Kirche die Schrift gelesen wird und der erneuerte Bund Gottes mit seinem
Volk angenommen wird. Schrift und Liturgie stimmen in dem einen Ziel überein, das
Volk Gottes zum Dialog mit dem Herrn zu führen. Das aus dem Mund Gottes hervorgegangene
und in den Schriften bezeugte Wort kehrt zu ihm zurück in der Form der betenden Antwort
des Volkes (vgl. Jes 55,10-11). Liebe Brüder und Schwestern, beten wir, damit das
erneuerte Hören auf das Wort Gottes durch das Wirken des Heiligen Geistes eine echte
Erneuerung der universalen Kirche und jeder kirchlichen Gemeinschaft hervorbringen
kann. Wir vertrauen die Früchte dieser Synodenversammlung der mütterlichen Fürsprache
der Jungfrau Maria an. Ihr vertraue ich auch die II. Sonderversammlung der Synode
für Afrika an, die nächstes Jahr in Rom stattfinden wird. Ich habe die Absicht, mich
im nächsten März nach Kamerun zu begeben, um den Vertretern der Bischofskonferenzen
Afrikas das Instrumentum laboris dieser Synodenversammlung zu übergeben. Von dort
aus werde ich mich, so Gott will, nach Angola begeben, um feierlich den 500. Jahrestag
der Evangelisierung des Landes zu begehen. Die allerseligste Jungfrau Maria - die
als “Magd des Herrn” ihr Leben hingegeben hat, damit sich alles in Übereinstimmung
mit dem Willen Gottes erfülle (vgl. Lk 1,38) und die aufgefordert hat, alles zu tun,
was Jesus sagt (vgl. Joh 2,5) - möge uns lehren, in unserem Leben den Primat des Wortes
anzuerkennen, das uns allein Rettung schenken kann. Amen!