2008-10-16 14:47:18

Synode: Gerl-Falkovitz über die „zweite Aufklärung“


RealAudioMP3 Vordenker der Philosophie seien dem Christentum gegenüber aufgeschlossen; „es sollte nicht zu spät sein, dass die Kirche das auch merkt“. Das betonte die in Dresden lehrende Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz im Gespräch mit Radio Vatikan. Bei der Weltbischofssynode im Vatikan mahnte die als Hörerin Berufene, die derzeit stattfindende „zweite Aufklärung“ unter Intellektuellen zu nutzen. Das Gespräch von Vernunft und Glaube könne neuen Schwung bekommen. Philosophie könne auch die „theologischen Segel“ der Kirche wieder füllen, sagte die einzige deutsche Frau unter den Hörern und erhielt Applaus von den Synodenvätern.
Im Gespräch mit Birgit Pottler berichtet Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz von der Öffnung der Philosophie gegenüber dem Christentum, konkreten Erfahrungen aus dem säkularen Umfeld ihres Lehrorts und wiederholt die aus ihrer Sicht wichtigsten Fragen der Synode.


Frau Gerl-Falkovitz, Sie lehren als Religionsphilosophin und beobachten als solche hier die Synode. Am Mittwoch, gegen Ende der Runde der Wortmeldungen, haben sie einen Redebeitrag an die Synodenväter und die Laien unter den Teilnehmern gehalten. Es ging Ihnen vor allen Dingen um die Verbindung von Christentum und Philosophie. Sie sprachen von einer zweiten Aufklärung, die die Gesellschaft derzeit erlebt. Was sind ihre Hauptpunkte?

„Mit der Aufklärung war ja vor 250 Jahren eigentlich gemeint, dass die Vernunft der eigentliche Maßstab des Menschlichen sei. Das ist per se auch richtig. Wir haben aber im Hinblick auf das zwanzigste Jahrhundert zwei mörderische Ideologien hinter uns, die auch beide unter dem Anspruch der Vernünftigkeit aufgetreten sind: Die rote Ideologie und die braune Ideologie. Die waren ja durchaus nicht unvernünftig im bestimmten Sinne. Es gibt ja auch Untersuchungen, sie hätten niemals ein System so lange und so effektiv führen können, wenn sie nicht zum Beispiel auch Vernunft und Technik und im gewissen Sinne die Grundüberzeugung der Menschen erfasst hätten und versucht hätten, diese auch „quasi vernünftig“ zu begründen. Man ist nicht einfach „für“ das Böse. Man muss schon eine Begründung dafür finden, wenn man Menschen umbringt. Und die klingt dann auf den ersten Blick irgendwie vernünftig. Ich sag es einmal ein bisschen provokativ! Und daraufhin hat sich heute eine sehr starke Vernunftkritik entwickelt - schon nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der Philosoph Dieter Henrich aus München hat gesagt: Wir wissen heute, dass die Vernunft selbst auch eine Täuschung ist. Es ist keineswegs so, dass uns die Vernunft über die Täuschungen aufklärt. Es gibt eine Täuschung, die heißt selber „Vernunft“. Weil sie von sich her noch keine Orientierung hat; sie ist ein Werkzeug. Man muss sich ein riesiges Schiff vorstellen, dass von einem sehr kleinen Steuerruder geführt wird. Aber das Steuerruder selber, die Vernunft, muss natürlich eine Orientierung haben, sonst weiß sie nicht, wohin sie das Schiff lenkt. Und in dem Sinne gibt es heute auf eine merkwürdige Weise eine Vernunftkritik, zusammen mit der Frage: Wo liegt die Erstorientierung? Und diese ist bei einigen sehr wichtigen Vordenkern durchaus nahe am Christlichen. Wenn nicht sogar wieder im Rückgriff auf christliche Themen. Oder besser gesagt, auf biblische Themen.“

Nun standen lange Jahre Josef Ratzinger und Jürgen Habermas für diesen Dialog „Christentum-Philosophie-Glaube-Vernunft“. Es geht aber inzwischen über diese beiden Namen hinaus.

„Habermas hat vor ungefähr zehn Jahren das Tor aufgestoßen. Man hat sich damals sehr gewundert, weil er sich immer als religiös-unmusikalisch bezeichnet hat. Das tut er auch heute noch. Aber ein richtiger Paukenschlag war dann die Rede von 2001, kurz nach dem Septemberangriff in New York, in der er natürlich auch zögernd gesagt hat: „Es gibt eigentlich keine Theorie der Gerechtigkeit“ - er ist Sozialphilosoph - „wenn man unentwegt die Toten ausspart. Die haben Pech gehabt, die sind verschwunden, jetzt müssen wir wieder für die nächste Generation sorgen.“ Und da kam dann dieser berühmte Satz: „Ohne Hoffnung auf Wiederauferstehung, werden wir leer zurückgelassen.“ Und ich weiß, dass damals die ganze politische Riege, das war noch die Regierung Schröder, wie erstarrt in der Frankfurter Paulskirche saß. Die haben ihren Ohren kaum getraut. Dass eine Gerechtigkeit ohne eine Nachwirkung auch nach dem Tode, ohne eine Allgerechtigkeit, auch im Sinne eines Finales der Geschichte, überhaupt nicht sinnvoll ist. Das hat er wirklich sehr deutlich in die Mitte gestellt. Aber Habermas hat damit ein Tor geöffnet.
Und ich würde gerne noch ein paar Namen nennen: den Franzosen, eigentlich einen ungläubigen, agnostischen Juden Jacques Derrida. Ich weiß wohl, dass er ein Chamäleon ist. Er hat in der Mitte seiner Laufbahn auch viele Dinge gesagt, die ich selber auch kritisieren würde. Zum Beispiel den Zweifel an der Wirklichkeit: wir konstruieren Wirklichkeit, wir bauen sie wieder ab, wir können sie wieder aufbauen. Aber der späte Derrida kommt im gewissen Sinne auf seine biblischen Wurzeln zurück. Er hat im Jahr 2000 ein wunderbares Interview gegeben, noch einmal im Blick auf die Opfer und die Henker. Dort spricht er als französischer Jude auch die Frage an: Können wir ein Europa bauen, wenn wir die Opfer über den Gräbern mit dem Händeschütteln der Enkel, begraben sein lassen? Und er sagt ausdrücklich: Das ist ein Harmoniebedürfnis, das wir haben.
Aber die europäische Kultur kennt noch etwas ganz anderes, nämlich die Verzeihung für die Henker. Und die geht nicht von den Enkeln aus. Die können das gar nicht. Sondern da gibt es eine Adresse, „den Absoluten, den Namen“, wie er das sagt. Er bringt wirklich unmittelbar Gott ins Spiel. Als ganz alter Mann hat er gesagt: „Es gibt nur eine Absolution im Absoluten, nicht im Relativen.“ Das ist ein unglaublicher Satz. Und ich denk, gerade für uns ist das Bußsakrament, die Absolution, ein fast verschwundenes Sakrament. Da muss irgendein alter Jude kommen und sagen: „Ihr wisst überhaupt nicht was ihr im Kasten habt, welcher Schatz da schlummert.“
Ich möchte noch kurz ein anderes Beispiel anfügen. Gianni Vattimo, auch ein Chamäleon. Das sind alles nicht Leute die man auf ein Podest stellen und sagen kann: „Wir neuen Katholiken“. Das stimmt ja nicht. Ich glaube Vattimo ist schon viel früher aus der Kirche ausgetreten. Er ist, wie viele Italiener ein Nietzscheaner. Sein Halbgott heißt Friedrich Nietzsche. Aber Vattimo hat eine schwierige Wendung, auch so um das Jahr 2000, gemacht. Die Aussage „Gott ist tot“ von Friedrich Nietzsche ist für Vattimo zu einer gewaltigen Frage geworden. Er sagt, er habe zufällig noch einmal die Passionsgeschichten gelesen, die ihn überhaupt nicht mehr interessiert haben. Und er sagt: „Stimmt doch, das ist doch immer schon gesagt worden: Gott ist gestorben.“ Aber nicht im Sinne Nietzsches. Sondern für Vattimo war es nun erstaunlich, dass es eben nicht der weit entfernte, unberührte und leidensunfähige Gott der Metaphysik ist, sondern dass in Jesus selber eigentlich der gequälte Mensch auftritt. Und seit dem sagt er, könne er die Bibel wieder lesen. Er habe wieder begriffen, was er immer wusste, aber er habe es nie richtig zugeordnet. Und das sind solche, ich möchte nicht sagen, Eintagsfliegen. Das sind Schwalben, die einen Sommer anzeigen. Ich lese mit meinen Agnostikern solche Texte.“

 
Die Philosophie öffnet sich offensichtlich. Das heißt, es wäre doch jetzt einmal an der Kirche sich zu öffnen. Sie haben bei den Synodenvätern gesagt: „Auch die Segel der Kirche wieder mit neuem Wind füllen lassen.“ Wie kann das funktionieren?

„Es gibt eine sehr eingefahrene Meinung, die lange Zeit richtig war, dass die Philosophie gegen die Theologie arbeitet. Das ist richtig. Es gibt einen Zweig der Aufklärung, vor allem die französische Aufklärung, die ganz klar atheistisch war. Die deutsche Aufklärung war das gar nicht. Im Zeitalter der Vernunft, der Aufklärung ging es immer gegen die Finsterlinge. Nun hat sich die Überzeugung ausgebildet, dass die Kirche immer auf der Seite des Angegriffenen steht, der sich so mühsam verteidigt und irgendwelche Gebiete abschirmt, in die die Vernunft nicht hinein könne. In diesem Sinne gibt es heute einen klaren Umschwung. Ich bin überzeugt, dass das eine zweite Möglichkeit ist, wenn sich nicht nur die Kirche, sondern auch die Theologen dieser philosophischen Strömung öffnen.
Denn für uns alle ergibt sich derzeit eine gemeinsame Bedrohung. Wir sind heute im menschlichen, bioethischen Bereich enorm bedroht. Vor allem die Fragen: „Anfang und Ende des Lebens“, „Was ist der Mensch?“ Es gibt ja gerade auch Theologen, die sagen: „Der Mensch ist nichts anderes als ein Säugetier und fertig.“ Und für viele ist das viel zu wenig. Ich denke, dass für die Theologie, für die Kirche, für das Christentum selber, diese wunderbare Tradition der Würde des Menschen beibehalten werden soll; dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, was ja ein Glaubenssatz ist, aber doch auch philosophisch ausbuchstabiert werden kann.
Der Wind fühlt die Segel wieder, insofern gerade bestimmte Vordenker, wie ich sie versucht habe zu nennen, dem Christentum gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Und es sollte nicht zu spät sein, dass die Theologie und die Kirche das auch merken. Meiner Meinung nach, ist die Defensive vorbei.“

Nun lehren Sie ja auch in einem Kontext, der alles andere als streng katholisch ist. Er ist noch nicht einmal streng protestantisch. 80 Prozent der Menschen in Sachsen - Sie lehren in Dresden – sind nicht getauft. Was bekommen Sie bei ihrer Arbeit an der Universität an konkreten Impulsen, an konkreten Beispielen für die Frage mit: Wie kann Christentum in einer nicht christlichen Gesellschaft lehren, leben aber auch wirken und positive Akzente setzen?

„Ein Vorteil an meiner Stelle in Dresden ist, dass ich keine Hörer habe, die gezwungen wären, zu mir kommen. Das würde mich etwas unsicherer machen. Aber es kommen offensichtlich die, die etwas hören wollen. Die Studenten haben oft gar keine Voraussetzungen, die wenigsten kennen die Bibel. Kirchenbesuch will ich gar nicht erwähnen, viele sind noch nie in einer Kirche gewesen. Für die hat das natürlich den Charme des Neuen. Dennoch kann man sie dafür nicht nur in ein, zwei Semestern gewinnen, das geht nicht. Es geht schon darum, dass man genau die anthropologischen, menschlichen Themen anspricht.
Ich habe die meisten Besucher verzeichnet bei dem Thema: „Schuld und Vergebung“. Da musste ich den Hörsaal wechseln, weil einfach zu viele Leute kamen. Die Schuld ist ein so tiefes Problem für viele, das kann man in einem agnostischen Raum nicht bearbeiten. Ein anderes riesiges Thema ist natürlich „Liebe“. Also alles, was sich um das Thema Eros dreht. Und Liebe misslingt ja heute so vielfach.
Da gibt es Themen, die ich zunächst einmal rein säkular und weltlich bezeichnen würde. Aber ich verknüpfe das mit dieser 3000 Jahre alten Tradition. Ich merke über die Mailrückmeldungen die ich erbitte: Vieles zündet. Viele weitere Fragen kommen, und ich versuche diese aufzuarbeiten. Manche haben gesagt: „Das ist ja alles ganz interessant und schön, aber ich habe ja keine Beziehung zu Gott. Und in die Kirche gehen wir gar nicht.“ Eine frühere Assistentin von mir hat einen Gebetskreis für Atheisten gegründet. Das klingt so skurril, aber das war der absolute Erfolg. Wenn man „Gebetskreis“ schreibt, kommt kein Mensch. Wer soll das denn sein? Die, die beten, gehen nicht hin, und die, die nicht beten, sind nicht eingeladen. Deswegen ist meine wirkliche Empfehlung: Wenn man so etwas macht, muss man die Adressaten hinschreiben. Also: „Für die die nicht beten können, oder nicht glauben wollen“. Und für mich war das absolut Verblüffende: Die Teilnehmer in dem Gebetskreis haben eigentlich immer nur das Evangelium gelesen. Und Gebet heißt auch: sie haben gedankt. Man kann danken, ohne dass man noch weiß, dass man dankt. Einfach mal das Empfinden, dass es etwas gibt, wofür man dankbar sein kann. Und dann wurde ein Evangeliumstext besprochen. Und das Erstaunliche ist: Ich glaube, wir trauen dem Evangelium zu wenig zu! Das Wort hat anscheinend doch eine Kraft. Das hat dazu geführt, dass es nach dem ersten Semester schon die erste Taufbewerberin gab. Fast nach jedem Semester gab es sogar eine Taufbewerbergruppe. Und das ist für mich eine ungeheure Belehrung. Manchmal genügt in bestimmten Hintergründen einfach nur das Evangelium. Diese Kraft dieses Wortes, die wir ständig unterschätzen. Wir glauben sie schon zu kennen. Das stimmt nicht!“

Damit haben Sie den Kreis geschlossen und sind auf das Thema dieser Synode zurückgekommen. „Wort Gottes in Leben und Sendung“. Die Synode geht jetzt in die zweite große Runde. Nach den Wortmeldungen von Bischöfen und Hörern geht es jetzt in die Diskussion der Vorschläge und der abschließenden Botschaft. Was glauben Sie, sind die Hauptpunkte, die in diesen Sprachzirkel mitgenommen werden?

„Auf jeden Fall ist herausgekommen, dass die Bibel zwar das meistgedruckte Buch der Welt ist, aber lange nicht das meist gelesene. Und es gibt ja sehr viele Länder in der Dritten Welt, in denen die Menschen überhaupt nicht lesen können. Nach wie vor besteht das Problem, nicht nur in der Sonntagspredigt und in den kurzen Lesungen, die man nicht versteht, einigermaßen etwas rüberzubringen. Es wird sicher einen Vorschlag geben, erst einmal die Bibel in alle Sprachen der Welt zu übersetzen. Wir haben etwas über die Situation in Ozeanien gehört. Da gibt es 800 Dialekte und nur drei Bibelübersetzungen. Da scheint immer noch ein großes Loch zu sein.
Das Zweite, was sicher diskutiert werden muss, und da habe ich noch keinen richtigen Vorschlag gehört, sind die Pfingstkirchen. Diese sehr charismatischen Gruppen sahnen offensichtlich in Afrika, aber auch in Südamerika, unglaublich viele Katholiken ab. Der eine Bischof sprach von 15 Prozent seiner Gläubigen, die ihm verloren gegangen sind. Und das sind die Aufgeschlossenen! Was ist das Erfolgsrezept dieser pfingstlichen, charismatischen Gruppen, die die Kirche als völlig schläfrig empfinden? Da habe ich bis jetzt noch gar keine Vorschläge gehört. Das halte ich für ein großes Fragezeichen!. Ich hoffe, dass da einige vernünftige Vorschläge kommen. Ein afrikanischer Bischof sprach natürlich von „Tanz, Gesang, Drama“. Das finde ich gut. Das müsste man aber genauer ausarbeiten. Was die charismatischen Pfingstkirchen können, müsste die alte Catholica sowieso schon können. Da braucht es einfach Bewegung. Und ich denke, das wird ein ganz gewaltiges Thema sein. Man kann nicht die besten Leute an Randgruppen verlieren.“

(rv 16.10.2008 bp/jl)







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