Synode: Gerl-Falkovitz über die „zweite Aufklärung“
Vordenker der Philosophie
seien dem Christentum gegenüber aufgeschlossen; „es sollte nicht zu spät sein, dass
die Kirche das auch merkt“. Das betonte die in Dresden lehrende Religionsphilosophin
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz im Gespräch mit Radio Vatikan. Bei der Weltbischofssynode
im Vatikan mahnte die als Hörerin Berufene, die derzeit stattfindende „zweite Aufklärung“
unter Intellektuellen zu nutzen. Das Gespräch von Vernunft und Glaube könne neuen
Schwung bekommen. Philosophie könne auch die „theologischen Segel“ der Kirche wieder
füllen, sagte die einzige deutsche Frau unter den Hörern und erhielt Applaus von den
Synodenvätern. Im Gespräch mit Birgit Pottler berichtet Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
von der Öffnung der Philosophie gegenüber dem Christentum, konkreten Erfahrungen aus
dem säkularen Umfeld ihres Lehrorts und wiederholt die aus ihrer Sicht wichtigsten
Fragen der Synode.
Frau Gerl-Falkovitz, Sie lehren als Religionsphilosophin
und beobachten als solche hier die Synode. Am Mittwoch, gegen Ende der Runde der Wortmeldungen,
haben sie einen Redebeitrag an die Synodenväter und die Laien unter den Teilnehmern
gehalten. Es ging Ihnen vor allen Dingen um die Verbindung von Christentum und Philosophie.
Sie sprachen von einer zweiten Aufklärung, die die Gesellschaft derzeit erlebt. Was
sind ihre Hauptpunkte?
„Mit der Aufklärung war ja vor 250 Jahren eigentlich
gemeint, dass die Vernunft der eigentliche Maßstab des Menschlichen sei. Das ist per
se auch richtig. Wir haben aber im Hinblick auf das zwanzigste Jahrhundert zwei mörderische
Ideologien hinter uns, die auch beide unter dem Anspruch der Vernünftigkeit aufgetreten
sind: Die rote Ideologie und die braune Ideologie. Die waren ja durchaus nicht unvernünftig
im bestimmten Sinne. Es gibt ja auch Untersuchungen, sie hätten niemals ein System
so lange und so effektiv führen können, wenn sie nicht zum Beispiel auch Vernunft
und Technik und im gewissen Sinne die Grundüberzeugung der Menschen erfasst hätten
und versucht hätten, diese auch „quasi vernünftig“ zu begründen. Man ist nicht einfach
„für“ das Böse. Man muss schon eine Begründung dafür finden, wenn man Menschen umbringt.
Und die klingt dann auf den ersten Blick irgendwie vernünftig. Ich sag es einmal ein
bisschen provokativ! Und daraufhin hat sich heute eine sehr starke Vernunftkritik
entwickelt - schon nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Philosoph Dieter Henrich
aus München hat gesagt: Wir wissen heute, dass die Vernunft selbst auch eine Täuschung
ist. Es ist keineswegs so, dass uns die Vernunft über die Täuschungen aufklärt. Es
gibt eine Täuschung, die heißt selber „Vernunft“. Weil sie von sich her noch keine
Orientierung hat; sie ist ein Werkzeug. Man muss sich ein riesiges Schiff vorstellen,
dass von einem sehr kleinen Steuerruder geführt wird. Aber das Steuerruder selber,
die Vernunft, muss natürlich eine Orientierung haben, sonst weiß sie nicht, wohin
sie das Schiff lenkt. Und in dem Sinne gibt es heute auf eine merkwürdige Weise eine
Vernunftkritik, zusammen mit der Frage: Wo liegt die Erstorientierung? Und diese ist
bei einigen sehr wichtigen Vordenkern durchaus nahe am Christlichen. Wenn nicht sogar
wieder im Rückgriff auf christliche Themen. Oder besser gesagt, auf biblische Themen.“
Nun standen lange Jahre Josef Ratzinger und Jürgen Habermas für diesen
Dialog „Christentum-Philosophie-Glaube-Vernunft“. Es geht aber inzwischen über diese
beiden Namen hinaus.
„Habermas hat vor ungefähr zehn Jahren das Tor aufgestoßen.
Man hat sich damals sehr gewundert, weil er sich immer als religiös-unmusikalisch
bezeichnet hat. Das tut er auch heute noch. Aber ein richtiger Paukenschlag war dann
die Rede von 2001, kurz nach dem Septemberangriff in New York, in der er natürlich
auch zögernd gesagt hat: „Es gibt eigentlich keine Theorie der Gerechtigkeit“ - er
ist Sozialphilosoph - „wenn man unentwegt die Toten ausspart. Die haben Pech gehabt,
die sind verschwunden, jetzt müssen wir wieder für die nächste Generation sorgen.“
Und da kam dann dieser berühmte Satz: „Ohne Hoffnung auf Wiederauferstehung, werden
wir leer zurückgelassen.“ Und ich weiß, dass damals die ganze politische Riege, das
war noch die Regierung Schröder, wie erstarrt in der Frankfurter Paulskirche saß.
Die haben ihren Ohren kaum getraut. Dass eine Gerechtigkeit ohne eine Nachwirkung
auch nach dem Tode, ohne eine Allgerechtigkeit, auch im Sinne eines Finales der Geschichte,
überhaupt nicht sinnvoll ist. Das hat er wirklich sehr deutlich in die Mitte gestellt.
Aber Habermas hat damit ein Tor geöffnet. Und ich würde gerne noch ein
paar Namen nennen: den Franzosen, eigentlich einen ungläubigen, agnostischen Juden
Jacques Derrida. Ich weiß wohl, dass er ein Chamäleon ist. Er hat in der Mitte seiner
Laufbahn auch viele Dinge gesagt, die ich selber auch kritisieren würde. Zum Beispiel
den Zweifel an der Wirklichkeit: wir konstruieren Wirklichkeit, wir bauen sie wieder
ab, wir können sie wieder aufbauen. Aber der späte Derrida kommt im gewissen Sinne
auf seine biblischen Wurzeln zurück. Er hat im Jahr 2000 ein wunderbares Interview
gegeben, noch einmal im Blick auf die Opfer und die Henker. Dort spricht er als französischer
Jude auch die Frage an: Können wir ein Europa bauen, wenn wir die Opfer über den Gräbern
mit dem Händeschütteln der Enkel, begraben sein lassen? Und er sagt ausdrücklich:
Das ist ein Harmoniebedürfnis, das wir haben. Aber die europäische Kultur
kennt noch etwas ganz anderes, nämlich die Verzeihung für die Henker. Und die geht
nicht von den Enkeln aus. Die können das gar nicht. Sondern da gibt es eine Adresse,
„den Absoluten, den Namen“, wie er das sagt. Er bringt wirklich unmittelbar Gott ins
Spiel. Als ganz alter Mann hat er gesagt: „Es gibt nur eine Absolution im Absoluten,
nicht im Relativen.“ Das ist ein unglaublicher Satz. Und ich denk, gerade für uns
ist das Bußsakrament, die Absolution, ein fast verschwundenes Sakrament. Da muss irgendein
alter Jude kommen und sagen: „Ihr wisst überhaupt nicht was ihr im Kasten habt, welcher
Schatz da schlummert.“ Ich möchte noch kurz ein anderes Beispiel anfügen.
Gianni Vattimo, auch ein Chamäleon. Das sind alles nicht Leute die man auf ein Podest
stellen und sagen kann: „Wir neuen Katholiken“. Das stimmt ja nicht. Ich glaube Vattimo
ist schon viel früher aus der Kirche ausgetreten. Er ist, wie viele Italiener ein
Nietzscheaner. Sein Halbgott heißt Friedrich Nietzsche. Aber Vattimo hat eine schwierige
Wendung, auch so um das Jahr 2000, gemacht. Die Aussage „Gott ist tot“ von Friedrich
Nietzsche ist für Vattimo zu einer gewaltigen Frage geworden. Er sagt, er habe zufällig
noch einmal die Passionsgeschichten gelesen, die ihn überhaupt nicht mehr interessiert
haben. Und er sagt: „Stimmt doch, das ist doch immer schon gesagt worden: Gott ist
gestorben.“ Aber nicht im Sinne Nietzsches. Sondern für Vattimo war es nun erstaunlich,
dass es eben nicht der weit entfernte, unberührte und leidensunfähige Gott der Metaphysik
ist, sondern dass in Jesus selber eigentlich der gequälte Mensch auftritt. Und seit
dem sagt er, könne er die Bibel wieder lesen. Er habe wieder begriffen, was er immer
wusste, aber er habe es nie richtig zugeordnet. Und das sind solche, ich möchte nicht
sagen, Eintagsfliegen. Das sind Schwalben, die einen Sommer anzeigen. Ich lese mit
meinen Agnostikern solche Texte.“
Die Philosophie öffnet
sich offensichtlich. Das heißt, es wäre doch jetzt einmal an der Kirche sich zu öffnen.
Sie haben bei den Synodenvätern gesagt: „Auch die Segel der Kirche wieder mit neuem
Wind füllen lassen.“ Wie kann das funktionieren?
„Es gibt eine sehr eingefahrene
Meinung, die lange Zeit richtig war, dass die Philosophie gegen die Theologie arbeitet.
Das ist richtig. Es gibt einen Zweig der Aufklärung, vor allem die französische Aufklärung,
die ganz klar atheistisch war. Die deutsche Aufklärung war das gar nicht. Im Zeitalter
der Vernunft, der Aufklärung ging es immer gegen die Finsterlinge. Nun hat sich die
Überzeugung ausgebildet, dass die Kirche immer auf der Seite des Angegriffenen steht,
der sich so mühsam verteidigt und irgendwelche Gebiete abschirmt, in die die Vernunft
nicht hinein könne. In diesem Sinne gibt es heute einen klaren Umschwung. Ich bin
überzeugt, dass das eine zweite Möglichkeit ist, wenn sich nicht nur die Kirche, sondern
auch die Theologen dieser philosophischen Strömung öffnen. Denn für uns
alle ergibt sich derzeit eine gemeinsame Bedrohung. Wir sind heute im menschlichen,
bioethischen Bereich enorm bedroht. Vor allem die Fragen: „Anfang und Ende des Lebens“,
„Was ist der Mensch?“ Es gibt ja gerade auch Theologen, die sagen: „Der Mensch ist
nichts anderes als ein Säugetier und fertig.“ Und für viele ist das viel zu wenig.
Ich denke, dass für die Theologie, für die Kirche, für das Christentum selber, diese
wunderbare Tradition der Würde des Menschen beibehalten werden soll; dass der Mensch
ein Ebenbild Gottes ist, was ja ein Glaubenssatz ist, aber doch auch philosophisch
ausbuchstabiert werden kann. Der Wind fühlt die Segel wieder, insofern
gerade bestimmte Vordenker, wie ich sie versucht habe zu nennen, dem Christentum gegenüber
sehr aufgeschlossen sind. Und es sollte nicht zu spät sein, dass die Theologie und
die Kirche das auch merken. Meiner Meinung nach, ist die Defensive vorbei.“
Nun lehren Sie ja auch in einem Kontext, der alles andere als streng katholisch
ist. Er ist noch nicht einmal streng protestantisch. 80 Prozent der Menschen in Sachsen
- Sie lehren in Dresden – sind nicht getauft. Was bekommen Sie bei ihrer Arbeit an
der Universität an konkreten Impulsen, an konkreten Beispielen für die Frage mit:
Wie kann Christentum in einer nicht christlichen Gesellschaft lehren, leben aber auch
wirken und positive Akzente setzen?
„Ein Vorteil an meiner Stelle in Dresden
ist, dass ich keine Hörer habe, die gezwungen wären, zu mir kommen. Das würde mich
etwas unsicherer machen. Aber es kommen offensichtlich die, die etwas hören wollen.
Die Studenten haben oft gar keine Voraussetzungen, die wenigsten kennen die Bibel.
Kirchenbesuch will ich gar nicht erwähnen, viele sind noch nie in einer Kirche gewesen.
Für die hat das natürlich den Charme des Neuen. Dennoch kann man sie dafür nicht nur
in ein, zwei Semestern gewinnen, das geht nicht. Es geht schon darum, dass man genau
die anthropologischen, menschlichen Themen anspricht. Ich habe die meisten
Besucher verzeichnet bei dem Thema: „Schuld und Vergebung“. Da musste ich den Hörsaal
wechseln, weil einfach zu viele Leute kamen. Die Schuld ist ein so tiefes Problem
für viele, das kann man in einem agnostischen Raum nicht bearbeiten. Ein anderes riesiges
Thema ist natürlich „Liebe“. Also alles, was sich um das Thema Eros dreht. Und Liebe
misslingt ja heute so vielfach. Da gibt es Themen, die ich zunächst einmal
rein säkular und weltlich bezeichnen würde. Aber ich verknüpfe das mit dieser 3000
Jahre alten Tradition. Ich merke über die Mailrückmeldungen die ich erbitte: Vieles
zündet. Viele weitere Fragen kommen, und ich versuche diese aufzuarbeiten. Manche
haben gesagt: „Das ist ja alles ganz interessant und schön, aber ich habe ja keine
Beziehung zu Gott. Und in die Kirche gehen wir gar nicht.“ Eine frühere Assistentin
von mir hat einen Gebetskreis für Atheisten gegründet. Das klingt so skurril, aber
das war der absolute Erfolg. Wenn man „Gebetskreis“ schreibt, kommt kein Mensch. Wer
soll das denn sein? Die, die beten, gehen nicht hin, und die, die nicht beten, sind
nicht eingeladen. Deswegen ist meine wirkliche Empfehlung: Wenn man so etwas macht,
muss man die Adressaten hinschreiben. Also: „Für die die nicht beten können, oder
nicht glauben wollen“. Und für mich war das absolut Verblüffende: Die Teilnehmer in
dem Gebetskreis haben eigentlich immer nur das Evangelium gelesen. Und Gebet heißt
auch: sie haben gedankt. Man kann danken, ohne dass man noch weiß, dass man dankt.
Einfach mal das Empfinden, dass es etwas gibt, wofür man dankbar sein kann. Und dann
wurde ein Evangeliumstext besprochen. Und das Erstaunliche ist: Ich glaube, wir trauen
dem Evangelium zu wenig zu! Das Wort hat anscheinend doch eine Kraft. Das hat dazu
geführt, dass es nach dem ersten Semester schon die erste Taufbewerberin gab. Fast
nach jedem Semester gab es sogar eine Taufbewerbergruppe. Und das ist für mich eine
ungeheure Belehrung. Manchmal genügt in bestimmten Hintergründen einfach nur das Evangelium.
Diese Kraft dieses Wortes, die wir ständig unterschätzen. Wir glauben sie schon zu
kennen. Das stimmt nicht!“
Damit haben Sie den Kreis geschlossen und sind
auf das Thema dieser Synode zurückgekommen. „Wort Gottes in Leben und Sendung“. Die
Synode geht jetzt in die zweite große Runde. Nach den Wortmeldungen von Bischöfen
und Hörern geht es jetzt in die Diskussion der Vorschläge und der abschließenden Botschaft.
Was glauben Sie, sind die Hauptpunkte, die in diesen Sprachzirkel mitgenommen werden?
„Auf
jeden Fall ist herausgekommen, dass die Bibel zwar das meistgedruckte Buch der Welt
ist, aber lange nicht das meist gelesene. Und es gibt ja sehr viele Länder in der
Dritten Welt, in denen die Menschen überhaupt nicht lesen können. Nach wie vor besteht
das Problem, nicht nur in der Sonntagspredigt und in den kurzen Lesungen, die man
nicht versteht, einigermaßen etwas rüberzubringen. Es wird sicher einen Vorschlag
geben, erst einmal die Bibel in alle Sprachen der Welt zu übersetzen. Wir haben etwas
über die Situation in Ozeanien gehört. Da gibt es 800 Dialekte und nur drei Bibelübersetzungen.
Da scheint immer noch ein großes Loch zu sein. Das Zweite, was sicher diskutiert
werden muss, und da habe ich noch keinen richtigen Vorschlag gehört, sind die Pfingstkirchen.
Diese sehr charismatischen Gruppen sahnen offensichtlich in Afrika, aber auch in Südamerika,
unglaublich viele Katholiken ab. Der eine Bischof sprach von 15 Prozent seiner Gläubigen,
die ihm verloren gegangen sind. Und das sind die Aufgeschlossenen! Was ist das Erfolgsrezept
dieser pfingstlichen, charismatischen Gruppen, die die Kirche als völlig schläfrig
empfinden? Da habe ich bis jetzt noch gar keine Vorschläge gehört. Das halte ich für
ein großes Fragezeichen!. Ich hoffe, dass da einige vernünftige Vorschläge kommen.
Ein afrikanischer Bischof sprach natürlich von „Tanz, Gesang, Drama“. Das finde ich
gut. Das müsste man aber genauer ausarbeiten. Was die charismatischen Pfingstkirchen
können, müsste die alte Catholica sowieso schon können. Da braucht es einfach Bewegung.
Und ich denke, das wird ein ganz gewaltiges Thema sein. Man kann nicht die besten
Leute an Randgruppen verlieren.“