„Die Unkultur der
schnellen Schuldzuweisung führt nicht zu neuen Erkenntnissen.“ Das betont Iwan Rickenbacher
in seinem Kommentar der Woche bei Radio Vatikan. Der Schweizer Kommunikationsberater
und ehemaliger Generalsekretär der Christdemokratischen Volkspartei mahnt vielmehr
zur Einsicht, dass alles Wissen, Glauben und Hoffnung nicht ersetzen kann. Wir
dokumentieren hier den Kommentar von Iwan Rickenbacher im Wortlaut:
Am Mont
Blanc sind am Wochenende mehrere Bergsteiger von einer Schnee- und Eislawine verschüttet
worden. Für acht von ihnen, aus Deutschland, aus Oesterreich, aus der Schweiz besteht
keine Hoffnung auf Überleben mehr. Meterdick liegen sie in den Schneemassen begraben
und weitere Abstürze würden jene gefährden, die sie zu bergen versuchten. Wenige
Stunden nach dem Ereignis bewegt viele Menschen die Frage, wie dies geschehen konnte
und nicht wenige versuchen, Schuldige für das tragische Unglück zu finden.
War
die Route gut gewählt? Kannten die Bergführer den Berg und seine Tücken? Wurden allfällige
Warnungen in den Wind geschlagen? Waren die Bergsteiger richtig ausgerüstet? Erste
Aussagen von Experten scheinen zu belegen, dass die von erfahrenen Berggängern geführten
Gruppen auf einem viel begangenem Aufstieg bei normalem Bergwetter vom Unglück betroffen
worden sind, von einem unvorhergesehenen Schicksal betroffen. Schicksal, unvorhersagbares
Ereignis, dies sind Begriffe, mit denen sich viele in unserer Zeit, in der so vieles
machbar erscheint, schwer tun. Krankheiten, an denen unsere Grosseltern mit hoher
Wahrscheinlichkeit starben, werden erfolgreich bekämpft. Wissenschaftliche Instrumente
lassen gefährliche Naturereignisse voraussagen und der Gentest erlaubt die Auslegeordnung
der persönlichen Schwächen und Risiken und ermöglicht die präventiven Massnahmen,
die den plötzlichen Zusammenbruch verhindern. Und dann dies, eine Eislawine, die
nicht der Regel folgt, ein Tornado mitten in Frankreich, wo es seit Jahrzehnten keinen
todbringenden Wirbelsturm mehr gegeben hatte, und dies trotz aller Risikoberechnungen
und Wahrscheinlichkeitskurven. Waren die Häuser, welche ihre Bewohner begruben, liderlich
gebaut und welche Schuld trifft die Wettervorhersage, die nicht drastisch von der
zerstörerischen Gewalt des angesagten Unwetters gewarnt hatte?
Dass Menschen
verstehen wollen, warum solche Ereignisse eintreten, ist verständlich. Aus dem Verstehen
können präventive Massnahmen entwickelt werden. Verstehen zu können braucht aber meistens
Zeit und akribische Analyse. Diese Zeit wird nur dann eingeräumt, wenn akzeptiert
wird, dass es Dinge gibt, die ohne persönliche Schuld von Einzelnen und von Institutionen
vorerst unerklärbar bleiben. Für viele ist diese Haltung in einer Zeit, in der
man den Dingen in der Nanodimension auf den Grund zu gehen scheint, fast unvorstellbar.
Die Antwort muss schnell her und am schnellsten geht es, wenn ein Schuldiger festgemacht
werden kann. Vor einigen Monaten starben in der Schweiz einige Gebirgsrekruten
an einem andern Berg. Sie hatten ihre Tour nicht unter den besten Wetterbedingungen
unternommen und der Weg führte an sehr kritischen Stellen vorbei, die schon andern
Bergsteigern das Leben gekostet hatten. Noch ist nicht geklärt, was die jungen Männer
und ihre auch noch jungen Führer, alles berggewohnte Menschen, bewogen hatte, an diesem
Morgen den Berg zu besteigen. Ein vermeintlich Schuldiger ist von einem Teil der Öffentlichkeit
schnell ausgemacht worden. Es war für einige der Verteidigungsminister, der es nach
Meinung dieser Kritiker nicht verstehe, der Armee richtige Aufgaben zuzuweisen, damit
junge Männer ihr Leben nicht auf militärisch unnötigen Touren aufs Spiel setzten. Nein,
die Unkultur der schnellen Schuldzuweisung führt nicht zu neuen Erkenntnissen. Sie
verstellt im Gegenteil die Suche nach den wahren Gründen eines Geschehens und weckt
Scheinhoffnungen in die Abwendung künftiger Schadensfälle. Vielleicht braucht es die
bescheidene Einsicht, dass den Menschen viele Dinge verstellt bleiben, dass vieles
unerklärbar bleibt und dass das immense Wissen, das wir uns angeeignet haben, den
Glauben und die Hoffnung nicht ersetzen. Mit diesem Beitrag verabschiede ich mich,
liebe Hörerinnen und Hörer und wünsche Ihnen die Musse, die ich mir wegen dieser Sendung
nehmen musste, wieder etwas hinter die Tagesereignisse zu gucken. Mir die Zeit zu
nehmen, zu verstehen, bevor ich urteile und skeptisch zu bleiben, wenn zu schnelle
Erklärungen angeboten werden, für die Kämpfe im Kaukasus, für die Regierungsbildung
in Pakistan oder das Schicksal Tibets. Einiges werden wir nie ganz verstehen.