2008-08-14 17:09:15

Lebend, sterbend oder tot: Zum Streit um Wachkoma-Patienten


RealAudioMP3 Wie viel Leben ist in Wachkoma-Patienten? Sind sie Sterbende oder gar Tote? Wie viel Fürsorge brauchen sie und darf man künstliche Ernährung und medizinische Behandlung beenden? Der Streit um Wachkoma-Patienten - ein kontroverses Thema. Kreuzfeuer fragt nach der Position der katholischen Kirche und hört, was Seelsorger, Angehörige und Ärzte sagen. Eine Sendung von Michael Hermann, der über Jahre seine Mutter im Wachkoma gepflegt hat.

"Un uomo, anche se gravemente malato od impedito nell’esercizio sue funzioni piu alte, è a sarà un uomo, mai diventerà un “vegetale” o un “animale”.”
"Ein Mensch, der ernsthaft krank ist und in seinen geistigen Funktionen eingeschränkt ist, wird immer ein Mensch bleiben, nie eine Pflanze oder ein Tier."

Das ist ein Ausschnitt aus einer Ansprache des bereits von seiner Krankheit schwer gezeichneten Johannes Paul im Jahr 2004 an katholische Ärzte zum Thema Wachkoma. Die Position des Vatikans ist eindeutig. Wachkoma-Patienten müssen dauerhaft ernährt werden, stellte die Glaubenskongregation fest. Dies gilt selbst dann, wenn es keinerlei Hoffnung auf eine Besserung des Zustandes gibt. Nur wenn Wasser und Nahrung vom Körper des Wachkomapatienten nicht mehr verarbeitet werden können, sei ein Abbruch künstlicher Ernährung zu rechtfertigen. Die künstliche Ernährung sei keine medizinische Therapie im engeren Sinne, sondern - so heißt es in einem Papier der Glaubenskongregation - ein natürliches Mittel der Lebensverlängerung.

Die Geschichte von Wachkoma-Patienten beschäftigt immer wieder die Öffentlichkeit. Zum Beispiel der Fall von Terry Shiavo, die am 31. März 2005 starb.

„Pinellas Park. Die 41-jährige Terry Shiavo ist heute in Florida verstorben. Die Frau befand sich nach einem Herzstillstand seit 15 Jahren in einem Wachkoma. Ihr Mann hatte vor Gericht durchgesetzt, dass die künstliche Ernährung abgebrochen werden durfte. Nach 13 Tagen ohne Flüssigkeitszufuhr starb Shiavo.“

Oder auch die Geschichte von Eluana Englaro, der aktuell Italien beschäftigt.

„Mailand. Der Generalstaatsanwaltschaft hat überraschend das Abschalten von Ernährungs- und Beatmungsgeräten verhindert. Kurz zuvor hatte ein Gericht auf Antrag des Vaters der 34-jährigen entschieden, dass die Therapien beendet werden dürfen. Englaro ist nach einem Autounfall seit 15 Jahren im Wachkoma. Kardinal Camillo Ruini zeigte sich über den ersten Beschluss des Mailänder Gerichts empört und sagte: Bald wird es auch möglich sein, behinderte Menschen per Gerichtsbeschluss töten zu lassen.“

Mein Tagebucheintrag vom 15.4.2002: Das Computertomogramm meiner Mutter zeigt ein weiteres Wachstum des Tumors. Er ist jetzt 5 cm groß, sitzt direkt am Hirnstamm und hat die großen Hirngefäße ummauert. Der Radiologe in der sterilen Hightechpraxis schaut mich mitleidig an und spricht von infauster Prognose. Hoffnungslos, aussichtslos, sinnlos. Mechtild sitzt derweil in ihrem großen Behandlungsrollstuhl und blickt starr zur Decke. Der Radiologe nimmt sie gar nicht wahr.

Wachkoma hat viele Begriffe und viele Gesichter. Koma vigile, apallisches Syndrom, chronisch vegetativer Zustand, PVS. Der Neurologe Dietmar Bengel kennt alle Formen dieser furchtbaren Krankheit. Der Chefarzt arbeitet im Elisabethenkrankenhaus in Ravensburg. Unzählige Male war meine Mutter dort, immer wieder Hoffen und Bangen, Hilflosigkeit und Angst. Wachkoma, so erklärt er, entsteht nach einer schweren akuten Hirnschädigung.
„Es kommt dann irgendwann dazu, dass sie die Augen öffnen, die Augen bewegen sich. Meistens sind die Patienten an allen Extremitäten, an Armen und Beinen, gelähmt. Blickkontakt ist nur sporadisch möglich. Die vegetativen Funktionen dagegen sind intakt. Die Patienten liegen in aller Regel vollpflegebedürftig im Bett. Viele Dinge werden nicht bewusst wahrgenommen. Es fehlt das Tor zum Bewusstsein.“

Die Angehörigen von Wachkoma-Patienten kennen dieses Gefühl nur zu gut. Es vergeht Monat für Monat, Jahr für Jahr. Aber die Hoffnung bleibt immer, dass der Ehemann, die Ehefrau, der Sohn, die Tochter plötzlich wieder aufwacht und alles wieder so ist, wie es einmal war. Diese Hoffnungen sind unberechtigt, sagt Neurologe Dietmar Bengel.
„Ich kenne solche Berichte, dass ein Patient nach länger bestehendem Wachkoma wieder aufwacht, nur als anekdotische Einzelfallberichte aus der Presse, die es sicher gibt. Ich persönlich habe es aber noch nie erlebt.“

Ortswechsel. Ein paar Kilometer weiter in Ravensburgs Nachbarstadt Weingarten befindet sich die St. Lukas Klinik, ein kleines Krankenhaus für Wachkoma-Patienten in Trägerschaft der katholischen Stiftung Liebenau. Im Wohnzimmer liegt ein junger Mann auf einem Wasserbett, ein kleiner Springbrunnen plätschert neben ihm, kleine Mobile bewegen sich über dem Bett. Unsere Blicke kreuzen sich für einen kurzen Moment, bevor eine Schwester den federleichten jungen Mann geschickt in einen Rollstuhl bucksiert. Am Küchentisch sitzt Werner Klinger, der Geschäftsführer der Klinik und selbst Krankenpfleger. Viele der rund zehn Wachkomapatienten kennt er schon seit Jahren, auch deren Angehörige, die einen schwierigen Weg gehen.
"Grundsätzlich haben wir die Erfahrung gemacht, dass zu den allermeisten unserer Bewohner eine sehr lange, eine qualitativ hochwertige Beziehung aufrecht erhalten wird von den Angehörigen.“

In einem Zimmer weiter liegt eine Frau in ihrem Bett. Ein Sondomat pumpt rhythmisch die Nährlösung durch eine sogenannte PEG-Sonde in den Magen. Die Frau habe kürzlich geweint, erzählt Werner Klinger. Die Schwestern seien überrascht gewesen. Jetzt wolle man erneut eine neurologische Abklärung machen.

Aus meinem Tagebucheintrag vom 20.8.2003: Heute haben wir meinen Vater beerdigt. Dass er vor meiner Mutter, die nun schon so lange schwerkrank und im Wachkoma ist, sterben würde, hatte ich nie erwartet. Meine Mutter habe ich in ihrem großen Liegerollstuhl mit zum Friedhof genommen. Der Pfarrer hat eine weitere Trauerfeier nur für mich und meine Mutter gemacht, damit wir ungestört sind. Aus den Augen meiner Mutter, der Wachkoma-Patientin, quillt eine Träne.

Der Pfarrer aus dieser Szene ist Hermann Dippon, evangelischer Krankenhausseelsorger am Ravensburger Elisabethenkrankenhaus. In den Jahren der Krankheit hatte ich manche kontroverse Diskussion mit ihm. Ist es Zeit, meine Mutter gehen zu lassen? Halte ich sie in einem Leben, das für sie selbst abgeschlossen ist? Habe ich mich dabei vergessen? Manches, so hat er später gesagt, habe er bewundert, anderes befremdlich gefunden. Hermann Dippon:
„Befremdlich, dass Du solange Zeit in so viel Aufmerksamkeit und Treue, in Liebe ihr beistehen konntest. Ich weiß nicht von mir, ob ich dazu in der Lage gewesen wäre. Und das habe ich dann auch gelernt, dass eben die Beurteilung einer Beziehung von außen nur sehr schwer möglich ist. Es kommt immer auf die Beziehung eines Menschen, in dem Fall eine Sohnes zu seiner Mutter, an. Und ich habe gelernt, dass das wahrzunehmen ist. Die Kommunikationsfähigkeit, die Beziehungsfähigkeit zwischen Patient und seinen Angehörigen ist auch für mich ursächlich für die Beurteilung, ob da Lebenskraft ist, Lebensfreude, Schönheit des Lebens bestehen oder ob die Kräfte erschöpft sind und damit auch das Leben erschöpft ist.“

Aus meinen Tagebuch, geschrieben am 10. Oktober 2004: Es war eine unruhige Nacht. Meine Mutter hustet und atmet schwer. Gegen drei Uhr morgens packe ich sie ins Auto und fahre in die Klinik. Ein junger Assistenzarzt hat Dienst. Er mustert meine Mutter kurz und sagt zu mir: In Pflegestufe 3 gibt es keine große Diagnostik mehr. Ich beginne mit ihm zu streiten, will dass er Antibiotika verordnet. Am Ende setzte ich mich durch und falle erschöpft ins Bett.

Wie viel medizinische Hilfe sollen Wachkoma-Patienten bekommen? Ernährt und gepflegt werden müssen sie in jedem Fall, sagt Johannes Paul II, sagt die Glaubenskongregation, sagt die katholische Kirche. Aber wie ist es mit teuren Medikamenten, mit Antibiotika, einem Luftröhrenschnitt? Professor Eberhard Schockenhoff ist katholischer Moraltheologe und lehrt in Freiburg.
„Es ist dann etwas anderes, wenn zum Wachkoma hinzu Folgekrankheiten treten. Dann darf man das als Fortschreiten der Grunderkrankung interpretieren und muss dann nicht jede einzelne dieser zusätzlichen Erkrankungen mit allen medizinischen an sich gegebenen Möglichkeiten bekämpfen. Und wenn es sich dann um ein Endstadium, wenn es sich als um einen Sterbeprozess handelt, der durch die künstliche Ernährung dann noch verlängert wird, dann ist auch darüber nachzudenken, ob es vertretbar ist, in dieser letzten Phase darauf zu verzichten.“

Tagebucheintrag vom 3. September 2004: Meiner Mutter geht es schlechter. Immer wieder erbricht sie und aspiriert Erbrochenes. Mehrfach muss der Notarzt kommen. Ein Arzt nimmt mich zur Seite und meint: Denken Sie, dass es jetzt nicht genug ist? Er schlägt mir vor, die Ernährung meiner Mutter zu beenden. Oder noch besser sie eintrocknen zu lassen. Die Pumpe, die im Sekundentakt die Nährlösung und Wasser ihr in den Magen pumpt, soll aus bleiben. Ich reagiere empört.

Wieder zurück in der St. Lukas Klinik, wo 10 Wachkomapatienten betreut werden. Die Schwestern kümmern sich gerade um einen Mann, der nach einem Badeunfall schon seit sieben Jahren ohne Bewusstsein ist. Helmut Schädler ist Theologe, Arzt und Psychologe und war bis vor kurzem Chef dieser Klinik. Kommt es für ihn prinzipiell in Frage, die Ernährung eines Wachkomapatienten einzustellen oder diesen - noch mal diese grausame Wort - eintrocknen zu lassen? Er sagt:
"Nein. Und zwar deshalb, weil wir nicht die Verfügungsgewalt haben zu entscheiden, ob jemand leben kann und darf oder nicht. Essen und Trinken sind vitale Bedürfnisse, und die stehen jedem Menschen zu, egal ob er partiell bewusstlos ist oder komplett bewusstlos ist oder nicht.“

Wie sehen die Menschen diese Frage? Stimmen aus der Kölner Innenstadt:
"Ich bin der Meinung, dass die Ernährung von Wachkoma-Patienten nicht eingestellt werden sollte, da ich der Auffassung bin, dass niemand über das Leben eines anderen entscheiden kann. - Ich denke, dass das jeder Mensch selber entscheiden soll. Ich weiß nur nicht, wie man das durchsetzen kann. Generell überlasse ich diese Frage lieber Experten. - Das würde ein Stück weit der Menschenwürde nicht entsprechen, wenn man das einstellt. - Wenn ich jetzt in dieser Situation wäre oder meine Mutter wäre in dieser Situation, dass sie Wachkomapatientin wäre, wüsste ich nicht, was ich machen würde. Ich bin da ehrlich. - Ich bin der Meinung, dass Wachkoma-Patienten auch weiterhin ernährt werden sollten. Ich finde das richtig."

Tagebucheintrag vom 23. Januar 2002: Meine Mutter ist seit heute für drei Wochen in einer Reha-Einrichtung. Ihre Schluckstörung soll behandelt werden, damit es weniger häufig zu Lungenentzündungen kommt. Ein Arzt passt mich ab und fragt mich ziemlich vorwurfsvoll: Haben Sie schon mal überlegt, was Sie der Solidargemeinschaft finanziell zumuten? Ich reagiere aggressiv und es entwickelt sich ein handfester Streit.

Die Versorgung von Wachkoma-Patienten wie die Behandlung Schwerkranker überhaupt hat auch seine finanzielle Seite. Sondennahrung, Überleitgeräte, Medikamente, Pflegedienst, dann kommen im Monat schnell sechs, sieben Tausend Euro zusammen. Welche Rolle spielt die ökonomische Situation des Gesundheitswesens? Mischt sich finanzielles Kalkül unbemerkt in die ethische Debatte ein? Krankenhauspfarrer Hermann Dippon:
„Mir ist sehr daran gelegen, dass es sich nicht einmischt und dass es aufmerksam betrachtet wird. Als wir hier das Ethikkonsil gegründet haben vor über einem Jahr, da war mir daran gelegen, dass auch die ökonomischen Fragen miteinbezogen werden und nicht nur die ethisch-theologische Seite, christliche Seite isoliert betrachtet wird. Und deshalb müssen wir auch schauen, was kostet was. Und wem kommt das, was hier investieren, zugute und wer muss dann vielleicht an anderem Ort Mangel leiden. Und da gilt es meiner Ansicht nach nicht nur, die Aufmerksamkeit auf das Leben hier im Elisabethenkrankenhaus zu richten, sondern das geht über Deutschland und unser Wohlstandseuropa hinaus in die armen Ländern. Global denken und lokal handeln, da gibt es einen Zusammenhang.“

Für den katholischen Theologen und Ethiker Professor Bruno Schmid ist derzeit völlig unvorstellbar, dass Behandlungen von Wachkoma- und anderen schwerkranken Patienten aus finanziellen Gründen abgebrochen werden.
"Also ich meine, selbst angesichts rasant steigender Kosten im Gesundheitswesen plädiert niemand dafür, sozusagen eine Geldbeuteleuthanasie durchzuführen. Das heißt niemand plädiert dafür, die medizinische Versorgung von PVS-Patienten aus Kostengründen abzulehnen. Ich denke, die wirtschaftlichen Überlegungen kommen eher durch die Hintergründe ins Spiel, zum Beispiel bei der Frage, bis zu welchem Kostenaufwand medizinische Maßnahmen bei solchen Patienten noch angemessen sein.“

Tagebucheintrag: 10. August 2004: Ein Kollege sagt zu mir, er wünsche mir so sehr, dass meine Mutter bald sterben möge. Das Leben mit ihr sei für mich ja ein Zumutung. Ich bin erschüttert und flüstere meiner Mutter abends ins Ohr: Bitte halte noch etwas durch.

Ein Lehrsatz der Pflegewissenschaft heißt: Aus einem Pflegefall werden meistens zwei, weil die Angehörigen irgendwann unter der Last zusammenbrechen. Ulrike Korth ist Oberärztin im Elisabethenkrankenhaus. Sie kommt regelmäßig in die Familien von Schwerkranken. Mit der vatikanischen Position, das Leben unter allen Bedingungen zu erhalten ist, hat sie Schwierigkeiten.
„Manchmal kommt man ja mehrfach in die selben Familien und sieht, wie die mit der Situation leiden und einem auch schildern können, dass der Patient das vorher gar nicht gewollt hat. Ich finde nicht, dass man immer eindeutig sagen kann: das ist richtig und das ist falsch. Also ich kann so ein Dogma für mich nicht akzeptieren.“

Auch Hermann Dippon will, dass die Angehörigen in die Betrachtung miteinbezogen werden, wie intensiv schwer kranke Menschen therapiert werden sollen:
„Für mich ist geboten, dass Jesus sagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, dass es einen Dreiklang gibt aus Gottesliebe, Menschenliebe, Liebe zum Nächsten und zu sich selber. Ich kann nicht den einen Menschen, den Kranken, den Wachkoma-Patienten isoliert betrachten, sondern ich muss wahrnehmen, wie die Ressourcen der Familie sind, wie das Umfeld ist und sie auch bei den ethischen Entscheiden mitberücksichtigen."

Tagebucheintrag vom 14.12.2004: Die Schwestern rufen mich zu meiner Mutter. Es gehe ihr schlecht, sie wollen den Notarzt rufen. Ich schaue ihr lange und intensiv in die Augen. Sie sagen mir, dass sie an diesem Tag keine medizinische Hilfe mehr will. Die Schwestern ziehen sich zurück. Um 16 Uhr verlässt meine Mutter diese Welt.








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