Lebend, sterbend oder tot: Zum Streit um Wachkoma-Patienten
Wie viel Leben ist
in Wachkoma-Patienten? Sind sie Sterbende oder gar Tote? Wie viel Fürsorge brauchen
sie und darf man künstliche Ernährung und medizinische Behandlung beenden? Der Streit
um Wachkoma-Patienten - ein kontroverses Thema. Kreuzfeuer fragt nach der Position
der katholischen Kirche und hört, was Seelsorger, Angehörige und Ärzte sagen. Eine
Sendung von Michael Hermann, der über Jahre seine Mutter im Wachkoma gepflegt hat.
"Un uomo, anche se gravemente malato od impedito nell’esercizio sue funzioni
piu alte, è a sarà un uomo, mai diventerà un “vegetale” o un “animale”.” "Ein
Mensch, der ernsthaft krank ist und in seinen geistigen Funktionen eingeschränkt ist,
wird immer ein Mensch bleiben, nie eine Pflanze oder ein Tier."
Das ist
ein Ausschnitt aus einer Ansprache des bereits von seiner Krankheit schwer gezeichneten
Johannes Paul im Jahr 2004 an katholische Ärzte zum Thema Wachkoma. Die Position des
Vatikans ist eindeutig. Wachkoma-Patienten müssen dauerhaft ernährt werden, stellte
die Glaubenskongregation fest. Dies gilt selbst dann, wenn es keinerlei Hoffnung auf
eine Besserung des Zustandes gibt. Nur wenn Wasser und Nahrung vom Körper des Wachkomapatienten
nicht mehr verarbeitet werden können, sei ein Abbruch künstlicher Ernährung zu rechtfertigen.
Die künstliche Ernährung sei keine medizinische Therapie im engeren Sinne, sondern
- so heißt es in einem Papier der Glaubenskongregation - ein natürliches Mittel der
Lebensverlängerung.
Die Geschichte von Wachkoma-Patienten beschäftigt immer
wieder die Öffentlichkeit. Zum Beispiel der Fall von Terry Shiavo, die am 31. März
2005 starb.
„Pinellas Park. Die 41-jährige Terry Shiavo ist heute in Florida
verstorben. Die Frau befand sich nach einem Herzstillstand seit 15 Jahren in einem
Wachkoma. Ihr Mann hatte vor Gericht durchgesetzt, dass die künstliche Ernährung abgebrochen
werden durfte. Nach 13 Tagen ohne Flüssigkeitszufuhr starb Shiavo.“
Oder
auch die Geschichte von Eluana Englaro, der aktuell Italien beschäftigt.
„Mailand.
Der Generalstaatsanwaltschaft hat überraschend das Abschalten von Ernährungs- und
Beatmungsgeräten verhindert. Kurz zuvor hatte ein Gericht auf Antrag des Vaters der
34-jährigen entschieden, dass die Therapien beendet werden dürfen. Englaro ist nach
einem Autounfall seit 15 Jahren im Wachkoma. Kardinal Camillo Ruini zeigte sich über
den ersten Beschluss des Mailänder Gerichts empört und sagte: Bald wird es auch möglich
sein, behinderte Menschen per Gerichtsbeschluss töten zu lassen.“
Mein
Tagebucheintrag vom 15.4.2002: Das Computertomogramm meiner Mutter zeigt ein weiteres
Wachstum des Tumors. Er ist jetzt 5 cm groß, sitzt direkt am Hirnstamm und hat die
großen Hirngefäße ummauert. Der Radiologe in der sterilen Hightechpraxis schaut mich
mitleidig an und spricht von infauster Prognose. Hoffnungslos, aussichtslos, sinnlos.
Mechtild sitzt derweil in ihrem großen Behandlungsrollstuhl und blickt starr zur Decke.
Der Radiologe nimmt sie gar nicht wahr.
Wachkoma hat viele Begriffe und viele
Gesichter. Koma vigile, apallisches Syndrom, chronisch vegetativer Zustand, PVS. Der
Neurologe Dietmar Bengel kennt alle Formen dieser furchtbaren Krankheit. Der Chefarzt
arbeitet im Elisabethenkrankenhaus in Ravensburg. Unzählige Male war meine Mutter
dort, immer wieder Hoffen und Bangen, Hilflosigkeit und Angst. Wachkoma, so erklärt
er, entsteht nach einer schweren akuten Hirnschädigung. „Es kommt dann irgendwann
dazu, dass sie die Augen öffnen, die Augen bewegen sich. Meistens sind die Patienten
an allen Extremitäten, an Armen und Beinen, gelähmt. Blickkontakt ist nur sporadisch
möglich. Die vegetativen Funktionen dagegen sind intakt. Die Patienten liegen in aller
Regel vollpflegebedürftig im Bett. Viele Dinge werden nicht bewusst wahrgenommen.
Es fehlt das Tor zum Bewusstsein.“
Die Angehörigen von Wachkoma-Patienten
kennen dieses Gefühl nur zu gut. Es vergeht Monat für Monat, Jahr für Jahr. Aber die
Hoffnung bleibt immer, dass der Ehemann, die Ehefrau, der Sohn, die Tochter plötzlich
wieder aufwacht und alles wieder so ist, wie es einmal war. Diese Hoffnungen sind
unberechtigt, sagt Neurologe Dietmar Bengel. „Ich kenne solche Berichte, dass
ein Patient nach länger bestehendem Wachkoma wieder aufwacht, nur als anekdotische
Einzelfallberichte aus der Presse, die es sicher gibt. Ich persönlich habe es aber
noch nie erlebt.“
Ortswechsel. Ein paar Kilometer weiter in Ravensburgs
Nachbarstadt Weingarten befindet sich die St. Lukas Klinik, ein kleines Krankenhaus
für Wachkoma-Patienten in Trägerschaft der katholischen Stiftung Liebenau. Im Wohnzimmer
liegt ein junger Mann auf einem Wasserbett, ein kleiner Springbrunnen plätschert neben
ihm, kleine Mobile bewegen sich über dem Bett. Unsere Blicke kreuzen sich für einen
kurzen Moment, bevor eine Schwester den federleichten jungen Mann geschickt in einen
Rollstuhl bucksiert. Am Küchentisch sitzt Werner Klinger, der Geschäftsführer der
Klinik und selbst Krankenpfleger. Viele der rund zehn Wachkomapatienten kennt er schon
seit Jahren, auch deren Angehörige, die einen schwierigen Weg gehen. "Grundsätzlich
haben wir die Erfahrung gemacht, dass zu den allermeisten unserer Bewohner eine sehr
lange, eine qualitativ hochwertige Beziehung aufrecht erhalten wird von den Angehörigen.“
In einem Zimmer weiter liegt eine Frau in ihrem Bett. Ein Sondomat pumpt
rhythmisch die Nährlösung durch eine sogenannte PEG-Sonde in den Magen. Die Frau habe
kürzlich geweint, erzählt Werner Klinger. Die Schwestern seien überrascht gewesen.
Jetzt wolle man erneut eine neurologische Abklärung machen.
Aus meinem Tagebucheintrag
vom 20.8.2003: Heute haben wir meinen Vater beerdigt. Dass er vor meiner Mutter, die
nun schon so lange schwerkrank und im Wachkoma ist, sterben würde, hatte ich nie erwartet.
Meine Mutter habe ich in ihrem großen Liegerollstuhl mit zum Friedhof genommen. Der
Pfarrer hat eine weitere Trauerfeier nur für mich und meine Mutter gemacht, damit
wir ungestört sind. Aus den Augen meiner Mutter, der Wachkoma-Patientin, quillt eine
Träne.
Der Pfarrer aus dieser Szene ist Hermann Dippon, evangelischer Krankenhausseelsorger
am Ravensburger Elisabethenkrankenhaus. In den Jahren der Krankheit hatte ich manche
kontroverse Diskussion mit ihm. Ist es Zeit, meine Mutter gehen zu lassen? Halte ich
sie in einem Leben, das für sie selbst abgeschlossen ist? Habe ich mich dabei vergessen?
Manches, so hat er später gesagt, habe er bewundert, anderes befremdlich gefunden.
Hermann Dippon: „Befremdlich, dass Du solange Zeit in so viel Aufmerksamkeit
und Treue, in Liebe ihr beistehen konntest. Ich weiß nicht von mir, ob ich dazu in
der Lage gewesen wäre. Und das habe ich dann auch gelernt, dass eben die Beurteilung
einer Beziehung von außen nur sehr schwer möglich ist. Es kommt immer auf die Beziehung
eines Menschen, in dem Fall eine Sohnes zu seiner Mutter, an. Und ich habe gelernt,
dass das wahrzunehmen ist. Die Kommunikationsfähigkeit, die Beziehungsfähigkeit zwischen
Patient und seinen Angehörigen ist auch für mich ursächlich für die Beurteilung, ob
da Lebenskraft ist, Lebensfreude, Schönheit des Lebens bestehen oder ob die Kräfte
erschöpft sind und damit auch das Leben erschöpft ist.“
Aus meinen Tagebuch,
geschrieben am 10. Oktober 2004: Es war eine unruhige Nacht. Meine Mutter hustet und
atmet schwer. Gegen drei Uhr morgens packe ich sie ins Auto und fahre in die Klinik.
Ein junger Assistenzarzt hat Dienst. Er mustert meine Mutter kurz und sagt zu mir:
In Pflegestufe 3 gibt es keine große Diagnostik mehr. Ich beginne mit ihm zu streiten,
will dass er Antibiotika verordnet. Am Ende setzte ich mich durch und falle erschöpft
ins Bett.
Wie viel medizinische Hilfe sollen Wachkoma-Patienten bekommen? Ernährt
und gepflegt werden müssen sie in jedem Fall, sagt Johannes Paul II, sagt die Glaubenskongregation,
sagt die katholische Kirche. Aber wie ist es mit teuren Medikamenten, mit Antibiotika,
einem Luftröhrenschnitt? Professor Eberhard Schockenhoff ist katholischer Moraltheologe
und lehrt in Freiburg. „Es ist dann etwas anderes, wenn zum Wachkoma hinzu Folgekrankheiten
treten. Dann darf man das als Fortschreiten der Grunderkrankung interpretieren und
muss dann nicht jede einzelne dieser zusätzlichen Erkrankungen mit allen medizinischen
an sich gegebenen Möglichkeiten bekämpfen. Und wenn es sich dann um ein Endstadium,
wenn es sich als um einen Sterbeprozess handelt, der durch die künstliche Ernährung
dann noch verlängert wird, dann ist auch darüber nachzudenken, ob es vertretbar ist,
in dieser letzten Phase darauf zu verzichten.“
Tagebucheintrag vom 3. September
2004: Meiner Mutter geht es schlechter. Immer wieder erbricht sie und aspiriert Erbrochenes.
Mehrfach muss der Notarzt kommen. Ein Arzt nimmt mich zur Seite und meint: Denken
Sie, dass es jetzt nicht genug ist? Er schlägt mir vor, die Ernährung meiner Mutter
zu beenden. Oder noch besser sie eintrocknen zu lassen. Die Pumpe, die im Sekundentakt
die Nährlösung und Wasser ihr in den Magen pumpt, soll aus bleiben. Ich reagiere empört.
Wieder
zurück in der St. Lukas Klinik, wo 10 Wachkomapatienten betreut werden. Die Schwestern
kümmern sich gerade um einen Mann, der nach einem Badeunfall schon seit sieben Jahren
ohne Bewusstsein ist. Helmut Schädler ist Theologe, Arzt und Psychologe und war bis
vor kurzem Chef dieser Klinik. Kommt es für ihn prinzipiell in Frage, die Ernährung
eines Wachkomapatienten einzustellen oder diesen - noch mal diese grausame Wort -
eintrocknen zu lassen? Er sagt: "Nein. Und zwar deshalb, weil wir nicht die
Verfügungsgewalt haben zu entscheiden, ob jemand leben kann und darf oder nicht. Essen
und Trinken sind vitale Bedürfnisse, und die stehen jedem Menschen zu, egal ob er
partiell bewusstlos ist oder komplett bewusstlos ist oder nicht.“
Wie
sehen die Menschen diese Frage? Stimmen aus der Kölner Innenstadt: "Ich bin
der Meinung, dass die Ernährung von Wachkoma-Patienten nicht eingestellt werden sollte,
da ich der Auffassung bin, dass niemand über das Leben eines anderen entscheiden kann.
- Ich denke, dass das jeder Mensch selber entscheiden soll. Ich weiß nur nicht, wie
man das durchsetzen kann. Generell überlasse ich diese Frage lieber Experten. - Das
würde ein Stück weit der Menschenwürde nicht entsprechen, wenn man das einstellt.
- Wenn ich jetzt in dieser Situation wäre oder meine Mutter wäre in dieser Situation,
dass sie Wachkomapatientin wäre, wüsste ich nicht, was ich machen würde. Ich bin da
ehrlich. - Ich bin der Meinung, dass Wachkoma-Patienten auch weiterhin ernährt werden
sollten. Ich finde das richtig."
Tagebucheintrag vom 23. Januar 2002: Meine
Mutter ist seit heute für drei Wochen in einer Reha-Einrichtung. Ihre Schluckstörung
soll behandelt werden, damit es weniger häufig zu Lungenentzündungen kommt. Ein Arzt
passt mich ab und fragt mich ziemlich vorwurfsvoll: Haben Sie schon mal überlegt,
was Sie der Solidargemeinschaft finanziell zumuten? Ich reagiere aggressiv und es
entwickelt sich ein handfester Streit.
Die Versorgung von Wachkoma-Patienten
wie die Behandlung Schwerkranker überhaupt hat auch seine finanzielle Seite. Sondennahrung,
Überleitgeräte, Medikamente, Pflegedienst, dann kommen im Monat schnell sechs, sieben
Tausend Euro zusammen. Welche Rolle spielt die ökonomische Situation des Gesundheitswesens?
Mischt sich finanzielles Kalkül unbemerkt in die ethische Debatte ein? Krankenhauspfarrer
Hermann Dippon: „Mir ist sehr daran gelegen, dass es sich nicht einmischt und
dass es aufmerksam betrachtet wird. Als wir hier das Ethikkonsil gegründet haben
vor über einem Jahr, da war mir daran gelegen, dass auch die ökonomischen Fragen miteinbezogen
werden und nicht nur die ethisch-theologische Seite, christliche Seite isoliert betrachtet
wird. Und deshalb müssen wir auch schauen, was kostet was. Und wem kommt das, was
hier investieren, zugute und wer muss dann vielleicht an anderem Ort Mangel leiden.
Und da gilt es meiner Ansicht nach nicht nur, die Aufmerksamkeit auf das Leben hier
im Elisabethenkrankenhaus zu richten, sondern das geht über Deutschland und unser
Wohlstandseuropa hinaus in die armen Ländern. Global denken und lokal handeln, da
gibt es einen Zusammenhang.“
Für den katholischen Theologen und Ethiker
Professor Bruno Schmid ist derzeit völlig unvorstellbar, dass Behandlungen von Wachkoma-
und anderen schwerkranken Patienten aus finanziellen Gründen abgebrochen werden. "Also
ich meine, selbst angesichts rasant steigender Kosten im Gesundheitswesen plädiert
niemand dafür, sozusagen eine Geldbeuteleuthanasie durchzuführen. Das heißt niemand
plädiert dafür, die medizinische Versorgung von PVS-Patienten aus Kostengründen abzulehnen.
Ich denke, die wirtschaftlichen Überlegungen kommen eher durch die Hintergründe ins
Spiel, zum Beispiel bei der Frage, bis zu welchem Kostenaufwand medizinische Maßnahmen
bei solchen Patienten noch angemessen sein.“
Tagebucheintrag: 10. August
2004: Ein Kollege sagt zu mir, er wünsche mir so sehr, dass meine Mutter bald sterben
möge. Das Leben mit ihr sei für mich ja ein Zumutung. Ich bin erschüttert und flüstere
meiner Mutter abends ins Ohr: Bitte halte noch etwas durch.
Ein Lehrsatz der
Pflegewissenschaft heißt: Aus einem Pflegefall werden meistens zwei, weil die Angehörigen
irgendwann unter der Last zusammenbrechen. Ulrike Korth ist Oberärztin im Elisabethenkrankenhaus.
Sie kommt regelmäßig in die Familien von Schwerkranken. Mit der vatikanischen Position,
das Leben unter allen Bedingungen zu erhalten ist, hat sie Schwierigkeiten. „Manchmal
kommt man ja mehrfach in die selben Familien und sieht, wie die mit der Situation
leiden und einem auch schildern können, dass der Patient das vorher gar nicht gewollt
hat. Ich finde nicht, dass man immer eindeutig sagen kann: das ist richtig und das
ist falsch. Also ich kann so ein Dogma für mich nicht akzeptieren.“
Auch
Hermann Dippon will, dass die Angehörigen in die Betrachtung miteinbezogen werden,
wie intensiv schwer kranke Menschen therapiert werden sollen: „Für mich ist
geboten, dass Jesus sagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, dass es einen Dreiklang
gibt aus Gottesliebe, Menschenliebe, Liebe zum Nächsten und zu sich selber. Ich kann
nicht den einen Menschen, den Kranken, den Wachkoma-Patienten isoliert betrachten,
sondern ich muss wahrnehmen, wie die Ressourcen der Familie sind, wie das Umfeld ist
und sie auch bei den ethischen Entscheiden mitberücksichtigen."
Tagebucheintrag
vom 14.12.2004: Die Schwestern rufen mich zu meiner Mutter. Es gehe ihr schlecht,
sie wollen den Notarzt rufen. Ich schaue ihr lange und intensiv in die Augen. Sie
sagen mir, dass sie an diesem Tag keine medizinische Hilfe mehr will. Die Schwestern
ziehen sich zurück. Um 16 Uhr verlässt meine Mutter diese Welt.