Predigt in der Vesper zur Eröffnung des Paulusjahres in Sankt Paul vor den Mauern
Eure Heiligkeit und sehr geehrte Mitglieder der brüderlichen Delegation, meine Herren
Kardinäle, verehrte Mitbrüder im bischöflichen und im priesterlichen Dienst, liebe
Schwestern und Brüder! Wir sind am Grab des heiligen Paulus versammelt, der vor
2.000 Jahren in Tarsus in Kilikien, in der heutigen Türkei geboren wurde. Wer war
Paulus? Vor der aufgeregten Menschenmenge im Tempel zu Jerusalem, die ihn hatte töten
wollen, stellt er sich selber mit diesen Worten vor: „Ich bin ein Jude, geboren in
Tarsus in Kilikien, hier in dieser Stadt (Jerusalem) erzogen, zu Füßen Gamaliëls genau
nach dem Gesetz der Väter ausgebildet, ein Eiferer für Gott…“ (Apg 22, 3). Am Ende
seiner Wege sagt er über sich: „Ich wurde eingesetzt… als Lehrer der Völker im Glauben
und in der Wahrheit“ (1 Tim 2, 7; vgl. 2 Tim 1, 11). Lehrer der Völker – Apostel und
Verkünder Jesu Christi nennt er sich im Rückblick auf seinen Lebensweg. Aber der Blick
geht dabei nicht nur in die Vergangenheit. Lehrer der Völker – dieses Wort öffnet
sich in die Zukunft hinein auf alle Völker und Generationen hin. Paulus ist für uns
nicht eine Gestalt der Vergangenheit, derer wir achtungsvoll gedenken. Er ist auch
unser Lehrer, auch für uns Apostel und Verkünder Jesu Christi.
Wir sind also
versammelt, nicht um über vergangene Geschichte nachzudenken, die unwiderruflich vorbei
ist. Paulus will mit uns reden – heute. Dazu habe ich dieses besondere „Paulusjahr“
ausgerufen: damit wir ihm zuhören und von ihm als unserem Lehrer jetzt „den Glauben
und die Wahrheit“ erlernen, in denen die Gründe für die Einheit unter den Jüngern
Christi verwurzelt sind. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich anläßlich des 2000-Jahr-Jubiläums
der Geburt des Apostels eine besondere „Paulus-Flamme“ entzündet, die während des
ganzen Jahres in einem speziellen Kohlenbecken im Atrium der Basilika brennen wird.
Zur Feier dieses Gedenktages habe ich auch die sogenannte „Paulus-Tür“ eingeweiht,
durch die ich in Begleitung des Patriarchen von Konstantinopel, des Kardinal-Erzpriesters
und anderer kirchlicher Autoritäten eingezogen bin. Es ist mir eine tief empfundene
Freude, daß die Eröffnung des „Paulusjahres“ durch die Anwesenheit zahlreicher Delegierter
und Vertreter anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, die ich mit offenem
Herzen empfange, auch einen besonderen ökumenischen Charakter trägt. An erster Stelle
begrüße ich Seine Heiligkeit, den Patriarchen Bartholomäus I. und die Mitglieder der
ihn begleitenden Delegation sowie die große Gruppe von Laien, die aus verschiedenen
Teilen der Erde nach Rom gekommen sind, um mit ihm und mit uns allen diese Momente
des Gebetes und der Reflexion zu erleben. Ich begrüße die brüderlichen Delegierten
der Kirchen, die eine besondere Verbindung zum Apostel Paulus haben – Jerusalem, Antiochien,
Zypern, Griechenland – und die das geographische Umfeld des Lebens des Apostels vor
seinem Eintreffen in Rom bilden. Herzlich begrüße ich auch die Brüder der verschiedenen
Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften aus Ost und West, zusammen mit Ihnen allen,
die Sie gekommen sind, um an dieser feierlichen Eröffnung des „Jahres“ teilzunehmen,
das dem Völkerapostel gewidmet ist.
Fragen wir also nicht nur: Wer war Paulus?
Fragen wir vor allem: Wer ist Paulus? Was sagt er mir? Ich möchte in dieser Stunde,
am Anfang des „Paulusjahres“, das wir hier eröffnen, drei Texte aus dem reichen Zeugnis
des Neuen Testaments herausgreifen, in denen seine innere Physiognomie, das Eigentliche
seines Wesens erscheint. Im Brief an die Galater hat er uns ein ganz persönliches
Glaubensbekenntnis geschenkt, in dem er vor den Lesern aller Zeiten sein Herz auftut
– sagt, was die innerste Triebkraft seines Lebens ist. „… Ich lebe im Glauben an den
Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (2, 20). Alles, was
Paulus tut, geschieht von dieser Mitte her. Sein Glaube ist die Erfahrung des ganz
persönlichen Geliebtseins von Jesus Christus; er ist Wissen darum, daß Christus nicht
irgendwie ins Allgemeine hinein gestorben ist, sondern ihn – Paulus – geliebt hat
und als Auferstandener ihn heute liebt; daß er für ihn sich gegeben hat. Sein Glaube
ist das Getroffensein von der Liebe Jesu Christi, die ihn bis ins Innerste erschüttert
und umwandelt. Sein Glaube ist nicht eine Theorie, nicht eine Meinung über Gott und
die Welt. Sein Glaube ist das Auftreffen der Liebe Gottes in seinem Herzen. Und so
ist dieser Glaube selbst Liebe zu Jesus Christus.
Paulus wird von vielen vor
allem als streitbarer Mann hingestellt, der das Schwert des Wortes zu führen weiß.
In der Tat, an Auseinandersetzungen hat es auf seinem Weg als Apostel nicht gefehlt.
Er hat nicht nach oberflächlicher Harmonie gesucht. In dem ersten seiner Briefe, der
an die Thessalonicher ging, sagt er selber: „Wir haben… das Evangelium Gottes trotz
harter Kämpfe freimütig und furchtlos bei euch verkündet… Nie haben wir mit unseren
Worten zu schmeicheln versucht, das wißt ihr“ (1 Thess 2, 2. 5). Die Wahrheit war
ihm zu groß, als daß er bereit gewesen wäre, sie für den äußeren Erfolg zu opfern.
Die Wahrheit, die er in der Begegnung mit dem Auferstandenen erfahren hatte, war ihm
des Streites, der Verfolgung, des Leidens wert. Aber was ihn zuinnerst trieb, war
das Geliebtsein von Jesus Christus und das Weitergeben dieser Liebe. Paulus war ein
Liebender, und all sein Wirken und Leiden erklärt sich nur von dieser Mitte her. Die
tragenden Grundbegriffe seiner Verkündigung sind einzig von da aus zu verstehen. Nehmen
wir uns nur eines seiner Herzworte vor: die Freiheit. Die Erfahrung des radikalen
Geliebtseins von Christus hatte ihm die Wahrheit und den Weg der menschlichen Existenz
sichtbar gemacht – alles war darin enthalten. Paulus war frei als ein von Gott Geliebter
und von ihm her Mitliebender. Diese Liebe ist nun das „Gesetz“ seines Lebens und eben
so die Freiheit seines Lebens. Er spricht und handelt aus der Verantwortung der Liebe
heraus. Freiheit und Verantwortung sind hier untrennbar eins. Weil er in der Verantwortung
der Liebe steht, ist er frei; weil er ein Liebender ist, lebt er ganz in der Verantwortung
dieser Liebe und nimmt Freiheit nicht als Deckmantel für Willkür und Egoismus. Aus
dem gleichen Geist heraus hat der heilige Augustinus das berühmt gewordene Wort formuliert:
Dilige et quod vis fac (Tract 1 Joa 7, 7 - 8) – liebe und tue, was du willst. Wer
Christus wie Paulus liebt, kann in der Tat tun, was er will, weil seine Liebe dem
Willen Christi und so dem Willen Gottes geeint ist – weil sein Wille festgemacht ist
in der Wahrheit und weil sein Wille nicht mehr der bloße Eigenwille, die Willkür des
autonomen Ich ist, sondern hineingenommen ist in die Freiheit Gottes und von ihr her
den Weg empfängt.
Auf der Suche nach der inneren Physiognomie des heiligen
Paulus möchte ich an zweiter Stelle an das Wort erinnern, das der auferstandene Christus
auf dem Weg nach Damaskus an ihn gerichtet hat. Der Herr ruft ihm zuerst zu: „Saulus,
Saulus, warum verfolgst du mich?“ Auf die Frage hin: „Wer bist du, Herr?" erfolgt
die Antwort: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“ (Apg 9, 4f). Indem Saulus die Kirche
verfolgt, verfolgt er Jesus selbst. „Du verfolgst mich.“ Jesus identifiziert sich
mit der Kirche in einem einzigen Subjekt. In diesem Ruf des Auferstandenen, der das
Leben des Saulus umwandelte, ist im Grund schon die ganze Lehre von der Kirche als
Leib Christi enthalten. Christus hat sich nicht in den Himmel zurückgezogen und auf
Erden eine Schar von Anhängern zurückgelassen, die „seine Sache“ weiter betreiben.
Die Kirche ist nicht ein Verein, der eine bestimmte Sache voranbringen will. In ihr
geht es nicht um eine Sache. In ihr geht es um die Person Jesu Christi, der auch als
Auferstandener Fleisch geblieben ist. Er hat „Fleisch und Knochen“ (Lk 24, 39), so
sagt es der Auferstandene bei Lukas zu den Jüngern, die ihn für einen Geist gehalten
hatten. Er hat Leib. Er ist selbst da in seiner Kirche, „Haupt und Leib“ ein einziges
Subjekt, wird Augustinus sagen. „Wißt ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind?“
schreibt Paulus an die Korinther (1 Kor 6, 15). Er fügt hinzu: Wie Mann und Frau nach
der Genesis miteinander ein Fleisch werden, so wird Christus mit den Seinen ein Geist,
das heißt ein einziges Subjekt in der neuen Welt der Auferstehung (1 Kor 6, 16ff).
In alledem scheint das eucharistische Geheimnis durch, in dem Christus immerfort seinen
Leib schenkt und uns zu seinem Leib macht: „Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe
am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben
teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10, 16f). Mit diesem Wort redet uns in dieser Stunde
nicht nur Paulus, sondern der Herr selber an: Wie konntet ihr meinen Leib zerreißen?
Vor dem Angesicht Christi wird dieses Wort zugleich zur dringlichen Bitte: Führe uns
zusammen aus allen Trennungen. Laß es heute neu Wirklichkeit werden: Ein Brot ist
es. Darum sind wir viele ein Leib. Das Wort von der Kirche als Leib Christi ist für
Paulus nicht irgendein beliebiger Vergleich. Es geht weit über einen Vergleich hinaus.
„Warum verfolgst du mich?“ Immerfort zieht uns Christus in seinen Leib hinein, baut
seinen Leib von der eucharistischen Mitte her auf, die für Paulus Zentrum christlicher
Existenz ist, von der aus alle und jeder einzelne ganz persönlich erfahren darf: Er
hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben.
Ans Ende möchte ich ein spätes
Wort des heiligen Paulus stellen, einen Zuruf an Timotheus vom Gefängnis her im Angesicht
des Todes. „Leide mit mir für das Evangelium“, sagt der Apostel zu seinem Schüler
(2 Tim 1, 8). Dieses Wort, das wie ein Testament am Ende der Wege des Apostels steht,
weist zurück auf den Anfang seiner Sendung. Während Saulus nach der Begegnung mit
dem Auferstandenen blind in seiner Wohnung in Damaskus weilte, erhielt Hananias den
Auftrag, zu dem gefürchteten Verfolger zu gehen und ihm die Hände aufzulegen, damit
er wieder sehe. Auf den Einwand des Hananias hin, daß dieser Saulus ein gefährlicher
Christenverfolger sei, ergeht die Antwort: „Dieser Mann... soll meinen Namen vor Völker
und Könige... tragen. Ich werde ihm auch zeigen, wieviel er für meinen Namen leiden
muß...“ (Apg 9, 15f). Der Auftrag zur Verkündigung und die Berufung zum Leiden für
Christus gehören untrennbar zusammen. Die Berufung zum Lehrer der Völker ist zugleich
und in sich selbst eine Berufung zum Leiden in der Gemeinschaft mit Christus, der
uns durch sein Leiden erlöst hat. Die Wahrheit kostet Leiden in einer Welt, in der
die Lüge Macht hat. Wer dem Leiden ausweichen, es von sich fernhalten will, der weicht
dem Leben und seiner Größe selber aus; er kann nicht Diener der Wahrheit und so des
Glaubens sein. Liebe gibt es nicht ohne Leid – ohne das Leid des Verzichts auf sich
selbst, der Umwandlung und Reinigung des Ich in die wahre Freiheit hinein. Wo nichts
ist, das des Leidens wert wäre, da verliert auch das Leben selbst seinen Wert. Die
Eucharistie – die Mitte unseres Christseins – beruht auf der Hingabe Jesu Christi
für uns, sie ist aus der Passion der Liebe geboren, die im Kreuz ihren Höhepunkt fand.
Von dieser sich schenkenden Liebe leben wir. Sie gibt uns den Mut und die Kraft, mit
Christus und für ihn in dieser Welt zu leiden, wissend, daß gerade so unser Leben
groß und reif und wahr wird. Aus allen Briefen des heiligen Paulus sehen wir, wie
sich in seinem Weg als Lehrer der Völker die Vorhersage erfüllt hat, die in der Stunde
seiner Berufung an Hananias ergangen war: „Ich werde ihm zeigen, wieviel er für meinen
Namen leiden muß.“ Sein Leiden beglaubigt ihn als Lehrer der Wahrheit, der nicht seinen
Gewinn, seinen Ruhm, seine eigene Erfüllung sucht, sondern für den einsteht, der uns
alle geliebt und sich für uns hingegeben hat.
In dieser Stunde danken wir dem
Herrn dafür, daß er Paulus gerufen und ihn zum Licht für die Völker, zum Lehrer für
uns alle gemacht hat und bitten ihn: Schenke uns auch heute Zeugen der Auferstehung,
die von deiner Liebe getroffen sind und das Licht des Evangeliums in unsere Zeit hineinzutragen
vermögen. Heiliger Paulus, bitte für uns. Amen.