In Italien sorgt ein 25 Jahre zurück liegender Kriminalfall für Schlagzeilen - das
bis heute unaufgeklärte Verschwinden der Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi am 22.
Juni 1983. In dem Fall, hinter dem abwechselnd die Mafia, die türkischen Grauen Wölfe
oder ein internationales Komplott zur Freipressung von Papst-Attentäter Ali Agca vermutet
wurden, ist angeblich eine neue Zeugin aufgetaucht. Bemerkenswert ist, dass Vatikansprecher
Federico Lombardi SJ mit einer ungewöhnlich scharf formulierten Note zu der mutmaßlichen
Zeugenaussage und der Berichterstattung Stellung nahm. Der Grund: Die angebliche Zeugin
Sabrina Minardi hat laut einem Bericht der römischen Tageszeitung „Il Messaggero“
vor der Polizei erklärt, ihr damaliger Lebensgefährte - kein Geringerer als der US-amerikanische
Kurienerzbischof und frühere Chef der Vatikanbank, Paul C. Marcinkus (1922-2006) -
könnte möglicherweise hinter der Entführung gestanden haben. Ferner soll Minardi
laut „Messaggero“ ausgesagt haben, die damals 15-jährige Emanuela Orlandi sei von
der römischen Mafiagruppierung Magliana-Bande entführt, kurz darauf ermordet und in
einer Neubausiedlung im Südosten Roms einbetoniert worden. Sie selbst, so die Frau,
habe das Mädchen damals in ihr Auto gelockt und der Bande übergeben, die den Vatikan
habe erpressen wollen. Ihr Detailwissen hat Minardi, weil nach ihren Angaben auch
der Unterweltboss Enrico de Pedis einst zum Kreis ihrer Liebhaber zählte. Bereits
1983, erklärt der „Messaggero“, sei die Polizei Minardi als Halterin des Tatfahrzeugs
auf der Spur gewesen. Vorgesetzte hätten jedoch den vernehmenden Beamten zurückgepfiffen;
die Frau stehe unter dem Schutz einer hochgestellten Persönlichkeit. Italiens
Öffentlichkeit reagiert mit Verwirrung auf diese Enthüllungen, der Vatikansprecher
mit Verärgerung. In seiner Erklärung vom Dienstag verwahrte sich Lombardi gegen diese
Art von Journalismus und die ehrenrührigen Beschuldigungen einer „äußerst zweifelhaften
Zeugenaussage“ zu Lasten von Marcinkus. Dieser Sensationsjournalismus gehe auf Kosten
der Seriosität und der Ethik - und zu Lasten der Familie Orlandi. Die Familie hält
Minardis Aussage für unglaubwürdig. Sie ist weiterhin davon überzeugt, dass Emanuela
noch lebt, und hofft auf die Aufklärung ihres Verschwindens. Der Fall Orlandi
hat wie kaum ein anderer die Italiener in den vergangenen 25 Jahren beschäftigt. Erste
Schlagzeilen gab es, als Papst Johannes Paul II. in einem öffentlichen Appell die
Freilassung des Mädchens forderte. Zum Politikum wurde die Entführung, als sie mit
dem Papst-Attentat in Verbindung gebracht wurde und eine „antichristliche türkische
Befreiungsfront“ die Freilassung Agcas verlangte. Dann verschwand der Fall aus den
Medien, um seither etwa alle sechs Monate mit neuen Enthüllungen wieder aufzutauchen.
So verriet Agca 1989 in seinen Memoiren, Orlandi sei nach Liechtenstein verschleppt
worden. In späteren Verhören erklärte er, sie lebe in der Türkei bzw. im Nahen Osten.
Der „Messaggero“ meldete 1995, sie lebe mit einem fünfjährigen Kind in Süditalien.
Auch nach der angeblichen Enthüllung von Sabrina Minardi bleibt der Fall mysteriös.
So mysteriös wie das Ende von de Pedis, der 1990 auf offener Straße in Rom erschossen
wurde. Seine letzte Ruhestätte fand er in einem Marmor-Sarkophag in einer römischen
Altstadtkirche.