D: Prozessauftakt in München - Integrationsproblem
Die Caritas in Bayern
warnt vor Verallgemeinerungen, wenn es um Jugendkriminalität geht. Statistisch gesehen,
seien straffällige Jugendliche keineswegs auf dem Vormarsch, betonte ein Caritas-Mitarbeiter
anlässlich des Verhandlungsauftakts im so genannten Münchner „U-Bahn-Schläger-Prozess“.
Zwei junge Männer türkischer bzw. griechischer Herkunft hatten vor einem halben Jahr
einen Rentner brutal überfallen. Den beiden 18 und 21 Jahre alten Angeklagten droht
eine Verurteilung wegen versuchten Mordes. Im Gespräch mit Radio Vatikan betont
der Verantwortliche für Jugendsozialarbeit der Caritas Bayern, Michael Kroll, dass
Jugendkriminalität entgegen anders lautender Darstellungen „nicht in bemerkenswertem
Umfang“ zunimmt. „Man kann feststellen, dass Jugendkriminalität mehr angezeigt
und mehr öffentlich wahrgenommen wird. Insbesondere ist statistisch überhaupt nicht
nachweisbar, dass die Ausländerkriminalität, von der immer gesprochen wird, steigen
würde. Was stimmt ist, dass die Kriminalität junger Männer steigt, die 18- bis 21-Jährigen
sind eine Problemgruppe insbesondere im Bereich der Gewaltdelikte. D.h. man kann von
Jungenkriminalität reden, und die Gründe hierfür sind vielfältig. Junge Männer, die
keine Perspektive auf einen Ausbildungsplatz haben, bei denen die Familien zusammenbrechen,
die nicht wertorientiert erzogen wurden, das sind die Jugendlichen, die tatsächlich
auch dazu neigen, einmal zu viel und vor allen Dingen auch einmal zu stark zuzuschlagen.
Da hat sich die Art der Delikte sicherlich auch verändert. Die Hemmschwelle ist gesunken,
auch zuzutreten und auch gegen den Kopf zu treten. Da hat sich etwas geändert, aber
statistisch kann man nicht sagen, Jugendkriminalität ist dramatisch am Steigen.“ Die
beiden Münchner Täter haben Migrationshintergrund. Doch es wäre populistisch, den
Fall unter die Sammelüberschrift „gewaltlustige Ausländer“ zu fassen. „Wenn
Sie danach fragen, ob das Problem tiefer liegt, muss man sagen, dass die Debatte über
ausländerrechtliche Maßnahmen, über Abschiebungen uns so weiter letztlich eine Scheindebatte
ist. Wir müssen darüber sprechen, dass ausländische Jugendliche von den angesprochenen
Problemen wie Jugendarbeitslosigkeit, kein Ausbildungsplatz, dem In-der-Luft-Hängen
zwischen verschiedenen Kulturen, stärker betroffen sind als deutsche Jugendliche,
dass da mangelnde Integration das Thema ist. Wir sind sicher, dass Jugendkriminalität
noch weiter sinken wird, wenn man darauf sensibel reagiert und die Probleme angeht.
Aber ausländische Jugendliche sind nicht diejenigen, die das Problem verschärfen.“ Die
Tat hatte eine bundesweite Debatte über kriminelle ausländische Jugendliche und eine
Verschärfung des Jugendstrafrechts ausgelöst. Das Thema dominierte den hessischen
Landtagswahlkampf, in dem Ministerpräsident Roland Koch (CDU) mit Forderungen nach
schärferen Gesetzen polarisierte. Michael Kroll vom Caritasverband: „Wirklich
etwas bewirken können Erziehung, Prävention und Hilfen. Es ist in der Fachwelt unbestritten,
dass ins Gefängnis sperren oder der so genannte Warnschussarrest überhaupt nichts
bringen. Im Gegenteil: Die Rückfallquoten von Jugendlichen, die im Gefängnis gelandet
sind, sind exorbitant hoch. Wo Jugendliche in der Jugendhilfe auch in teilgeschlossenen
oder geschlossenen Einrichtungen intensiv begleitet werden und intensive Eingliederung
in Gesellschaft erfahren, ist das keine Kuschelpädagogik, sondern ernsthafte Erziehung.
Solche Einrichtungen müssen ausgebaut werden. Wir müssen außerdem präventive Angebote
stärken, zum Beispiel durch schulische sozialpädagogische Arbeit; ganz konkret auch
Kooperationsprojekte, wie beispielsweise in Schwaben, zwischen Polizei, Jugendhilfe,
Jugendämtern und Schule. Wo dort zusammengearbeitet wird und man möglichst frühzeitig
versucht, Jugendliche auf den richtigen Weg zu bringen, da sinkt auch die Jugendkriminalität.“ Der
brutale Überfall der beiden jungen Männer auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn
vier Tage vor Weihnachten vergangenen Jahres entzündete sich an einer Zigarette. Der
zur Tatzeit 17-jährige Spyridon L. sagte vor dem Landgericht München I, er sei bei
der Tat volltrunken gewesen. Deshalb sei er aggressiv geworden, als ihn der 76-Jährige
Pensionist aufgefordert hatte, in der U-Bahn seine Zigarette auszumachen. Der aus
der Türkei stammende, zur Tatzeit 20-jährige Serkan A. gab an, von dem späteren Opfer
ausländerfeindlich beschimpft worden zu sein und den Mann deshalb angegriffen zu haben.
Zum Prozessauftakt haben die Täter ein Geständnis abgelegt. Einer der beiden sagte:
„Es tut mir sehr leid, ich schäme mich.“ Für die Verhandlungen sind elf Tage angesetzt.
Am Dienstag soll das Opfer als Zeuge aussagen. (rv/reuters/afp 23.06.2008 bp)