Vierzig Jahre ist
es her, dass weltweite Studentenproteste die westlichen Gesellschaften erschütterten.
Am bekanntesten sind die Mai-Unruhen in Paris, aber auch in Deutschland, Italien und
den USA griff eine Protest-Welle um sich, die ihresgleichen sucht. Wir haben über
die Ereignisse der „68er“ mit dem Kurienkardinal Paul Poupard gesprochen. Er war bis
letztes Jahr Präsident des Päpstlichen Kulturrats…
„Ich war damals Mitarbeiter
von Paul VI. im Staatssekretariat. Ich kann mich erinnern, dass wir damals vor dem
Fernseher saßen und kaum glauben konnten, was wir sahen. Wir waren völlig durcheinander
angesichts von Bäumen, die gefällt wurden, von brennenden Autos, von Polizisten, die
beleidigt wurden, angesichts der besetztem Sorbonne! Rote und schwarze Fahnen wurden
gehißt – auch auf konfessionellen Schulen… die Barrikaden, die Protestbewegungen auf
allen Gebieten: Universität, Regierung, die Justiz… es war ein andauerndes Wortgefecht,
könnte man sagen. Sitzungen ohne Ende, ein Kampf mit revolutionären Schlagworten….
Es war eigenartige Tage, die uns befremdeten und immer mehr beunruhigten. Das kann
ich von meiner Sicht aus sagen, vom Staatssekretariat: Anfängliches Unverständnis
wandelte sich in Hilflosigkeit und Sorge.“
Ihre stärksten Erinnerungen
an diese Zeit?
„Am stärksten erinnere ich mich an die Gespräche mit dem
Substituten und dem Kardinalstaatssekretär, die mich nach einer Erklärung für die
Geschehnisse fragten, aber ich konnte ihnen keine bieten. Was die Kirche angeht, kann
ich sagen, dass der Erzbischof von Paris, Kardinal Marty, völlig erschüttert war;
er wusste nicht, was er tun sollte auch mit Blick darauf, was mit dem Klerus passierte.
Ich weiß nicht, ob es jemals einen Erzbischof in Paris gab, der in engerem Kontakt
stand mit seinen Priestern als er. Und ausgerechnet er erhielt Briefe mit radikalen
Angriffen von Priestern, die er gerade erst zuvor besucht hatte. Das konnte er nicht
verstehen und das ließ ihn leiden. Er bat mich daraufhin, ob Paul VI. ihn empfangen
könnte, was dann auch unverzüglich geschah.“
Eminenz, könnten Sie in groben
Zügen die negativen Aspekte jener Ereignisse skizzieren und – wenn es sie denn gibt
– die positiven?
„Ich würde sagen, dass die 68er-Unruhen wie ein Abszess
waren an einem kranken Körper, der geplatzt ist. Das spektakulärste Ereignis war die
sexuelle Revolution, die an der Universität in Nanterre begann mit der Forderung,
dass die Männer in den Frauenbereich dürfen und so weiter. Letztlich also der Anspruch,
das Leben zügellos zu genießen und der Angriff auf die Autoritäten. Was die Kirche
angeht, ist die tragischste Folge gewesen, dass allein im Jahr 1968 1.500 Priester
ihr Amt aufgegeben haben; von 40 Seminaristen einer Diözese, die alle bereit waren
für die Weihe, sind dann nur sechs tatsächlich gekommen. In einer Diözese im Departement
Vendée war gerade ein Seminar neu gebaut worden, weil es so viele Berufungen gab.
Von heute auf morgen stand es praktisch leer. Und der Rektor hat geheiratet, wie so
viele. Also, es ist wie ein Lawine gewesen, wie ein Dammbruch. De Gaulle sagte damals
bei einer Begegnung mit Kardinal Marty – damals war ein echter Damm in Fréjus gebrochen:
„Eminenz, auch Sie haben einen Dammbruch in Fréjus“.
Also ein tragischer
Augenblick für die Kirche?
„Ein tragischer Augenblick mit Folgen bis heute…
In meiner Diözese gab es jedes Jahr ungefähr 30 Weihekandidaten. In jenem Jahr ist
nicht ein einziger ins Priesterseminar eingetreten. Viele Ordensgemeinschaften und
Noviziate haben sich in Altersheime verwandelt. Was die positiven Aspekte angeht:
Ich würde sagen, es war eine große Depression, die eine Reaktion herausgefordert hat,
einen Aufschwung. Nach der Auflösung eines Jahrtausende alten Rahmens ist etwas neues
entstanden: Nämlich die neuen geistlichen Bewegungen. Nach diesem großen sozio-politischen
und kulturellen Chaos hat man sich wieder auf das Wesentliche besonnen und hat das
geistliche Leben wiederentdeckt. Und so sind diese Bewegungen entstanden wie Emmanuel,
die Gemeinschaft vom Heiligen Johannes, die monastische Gemeinschaft von Jerusalem,
Communione e Liberazione, die Fokolare, die charismatische Erneuerung, der Chémin
Neuf, die Seligpreisungen usw.… alles neue Bewegungen, die am Anfang natürlich nicht
spektakulär sind: Das ist der Heilige Geist, der in der Kirche am Werk ist!“
Nach
vierzig Jahren: Kann man nach diesen turbulenten Jahren da von einem Erbe der 68er
sprechen?
„Das Erbe besteht vor allem in der Infragestellung oder sogar
in der Preisgabe der Säulen unserer Jahrtausende alten Kultur. Der offensichtlichste
Aspekt ist die Ablehnung von Autorität, auch innerhalb der Kirche. Die Kirche ist
meines Erachtens am stärksten von den 68ern betroffen gewesen. Und wie hat die Kirche
reagiert? Ich kann mich gut erinnern, dass Paul VI. auf Einladung der UNO-Organisation
für die Arbeit am 10. Juni 1969 in Genf gesprochen hat und niemanden verurteilt hat,
sondern die Geschehnisse analysierte als ein Symptom für die tiefe Unzufriedenheit
der Jugendlichen mit der Gesellschaft. Wörtlich sagte er damals: „In der aktuellen
Situation in der Welt ist ihr Protest wie ein Trompetensignal, ein Zeichen für ihr
Leiden und ihr Einsatz für die Gerechtigkeit. Inmitten dieser Krise, die die Gesellschaft
erschüttert, sind die Erwartungen der jungen Menschen ungeduldig und drängend. Wir
müssen – so der Papst damals – ihnen Wege in die Zukunft eröffnen, ihnen Aufgaben
anbieten und sie darauf vorbereiten, sie zu erfüllen.“