Im Interview: Günter Grass zu Papst, Beichte, Sinn des Lebens...
Günter Grass erhielt
den Literatur-Nobelpreis 1999 auch dafür, dass er seine Stimme immer wieder für die
Schwächeren und jene Menschen erhoben hat, die am Rande der Gesellschaft leben. Seine
Gedanken und Worte haben freilich in der Gesellschaft nicht nur breite Resonanz, sondern
auch Kritik gefunden. Für unsere Sendung "Menschen in der Zeit" führte Aldo Parmeggiani
ein ausführliches Interview mit Günter Grass.
Herr Grass, wie gehen Sie mit
Kritik um?
Wenn die Kritik sich auf den Gegenstand bezieht, kann ich damit
leben. Das ist für mich selbstverständlich, das gehört mit zum Handwerk. Wenn allerdings
Kritik ideologisch vorbelastet ist, wenn Vorurteile wirksam werden, wenn es in Verleumdung
und Häme umschlägt, dann ist das schwierig. Ich habe lernen müssen, damit zu leben.
Was Sie angesprochen haben: ich will keine Postulate aufstellen, aber ein Schriftsteller
- so verstehe ich jedenfalls meine Aufgabe - sitzt auf der Bank der Verlierer. Diejenigen,
die in den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Prozessen an den Rand gedrängt
werden, das sind oftmals Minderheiten, das sind sozial Ausgesteuerte, das sind eine
wachsende Zahl von Menschen - da hat der Schriftsteller seinen Ort. Die Sieger in
der Geschichte haben immer schon ihre Lobrede gehabt, da braucht es keine Zusprache.
*Eine
Frage, die uns alle brennend interessiert: Sie bringen Sprache zum kongenialen Ausdruck.
Was geht in Ihnen vor, wenn der Formulierungsprozess, der Prozess der Wortsuche in
Ihrem Inneren abläuft? Was würden Sie als Ihre Quelle der Inspiration, Ihres Einfallreichtums
bezeichnen?
Mir kam es immer darauf an - Realist und Skeptiker, der ich
bin und von der europäischen Aufklärung herkommend - die Vernunft nicht nur als ein
nur nüchternes Instrument zu sehen. Zu sehen, dass das sogenannte Irrationale auch
zu unserer Realität gehört. Dass die Bedürfnisse der Menschen nach dem Märchenhaften,
nach dem Phantastischen, nach dem Überrealen, vorhanden sind und als Realität wahrgenommen
werden. Und so muss auch die Sprache, diese Vielschichtigkeit der Wirklichkeiten -
ich rede bewusst im Plural - die verschiedenen Wirklichkeiten miteinander zum Ausdruck
kommen. Das ist sicher bei mir die Antriebskraft.
Die Bedürfnisse der meisten
Menschen gehen also über das Reale hinaus. Herr Grass: es ist bekannt, dass Sie Agnostiker
sind. Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind, sagt ja Goethe. Sie sagen, dass das
Irrationale, das Überreale, also das Metaphysische auch zu unserer Realität gehören.
Schließt die Vernunft also den Glauben nicht aus?
Das muss jeder für sich
selbst entscheiden, wiefern er auf Glauben angewiesen ist. Ich habe schon früh den
Kindheitsglauben verloren und habe lernen müssen, dass ich hier nicht im Jenseits,
sondern hier im Diesseits verantwortlich bin, für das, was ich getan habe und was
ich tue. Und das ist Last genug. Und schwierig genugin den Widersprüchen unserer
Zeit. Und diese Art von Verantwortung macht meinen Glauben auch aus, meinen Glauben
an Veränderbarkeit, trotz all der Rückschläge. Wenn ich das ironisch formulieren darf:
ich habe nur einen einzigen Heiligen. Das ist Sisyphos. Der kommt nicht aus der katholischen,
auch nicht aus der christlichen Mythologie, sondern aus der griechischen und ist von
Camus wunderbar interpretiert worden. Er lästert die Götter und bekommt die Strafe
dafür. Er muss den Stein wälzen, der da oben nicht liegen bleibt. Und er sagt, ich
lästere euch weiter, ihr Götter, ich habe nur eine Bitte: lasst mir meinen Stein.
Und Camus sagt am Ende, wir dürfen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Also er weiß, dass der Stein oben nie liegen bleibt. Um es ins Praktische zu übersetzen:
wenn eine Reform mühsam durchgesetzt worden ist, Ungerechtigkeiten beseitigt hat,
stellt sich heraus, dass mit der neuen Gerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten neu geschaffen
worden sind. Also ist der Stein schon wieder unten und muss neu gewälzt werden. Das
ist meine Richtlinie für mein Handeln. Ob ich mich gesellschaftlich und politisch
bewege oder vor einem Manuskript sitze, vor dem ich weiß, dass es mich Jahre beschäftigt
und der Stein auch dort immer wieder neu gewälzt werden muss.
*In gewisser
Hinsicht sind Schriftsteller ja auch immer Existenzanalytiker. Frage an Günter Grass:
Kann Religiosität in Ihren Augen auch Ausdruck menschlicher Sinnsuche sein?
Bei
mir ist das - wenn ich zwischen meinem Schreibhaus in den Wald gehe und alte Buchenstämme
zeichne. Da stehe ich jedes Mal vor einem Wunder. Weil jede Buche anders ist. Also,
was der Natur alles einfällt, da reicht keine Phantasie, selbst meine nicht heran.
Was da alles geschieht und immer wieder neu geschieht. Selbst dort wo die Natur durch
Menschenwerk beschädigt ist. Ich war einige Jahre lang unterwegs und habe auf den
Kammlagen im Harz oder damals noch in der DDR die zerstörten Wälder gezeichnet. Selbst
der absterbende Wald hat noch etwas, was einem in Erstaunen setzt und was uns als
Menschen klein macht.
*Der Philosoph Habermas vertritt die Überzeugung,
dass Religionen nicht verschwinden werden und fügt hinzu: sie sind der einzige kulturelle
Grundbaustein unserer Zivilisation.
Wenn ich nur den Vergleich anstelle,
was an bildender Kunst in Verbindung mit der katholischen Kirche oder im Bereich der
Musik mit der protestantischen Kirche entstanden ist, ist das, was in der Gegenwart
künstlerisch zum Ausdruck kommt, jämmerlich und lächerlich. Und man kann nicht sagen,
dass das an der Kunst liegt. Die Kunst hat sich anderen Themen zugewandt, weil die
Kirchen in ihrer nach wie vor spürbaren Dogmatik nicht inspirierend genug sind. Ich
wüsste nicht, wo ich da ansetzen könnte. Das letzte Mal, dass ich ein Golgathabild
gemalt habe, war in der Phase, als ich den toten Wald gezeichnet habe. Das Bild hängt
in der Lübecker Marienkirche, ein Triptychon, eine Kohlezeichnung, Großformat - drei
zerstörte Bäume in der Mitte, die als Rümpfe eine angedeutete Kreuzform haben. Da
ist kein Mensch drauf, nur zerstörte Natur.
*Um nochmals Habermas zu zitieren
- er nennt diese kulturellen Bausteine: Abrüstung, Sterbehilfe, Stammzellen, Klimawechsel.
Das sind allesamt auch Paradigmen der katholischen Kirche, Herr Grass.
Ja,
aber das reicht nicht aus. Wenn jetzt der Papst - um ein Beispiel zu nennen, mit den
Schwierigkeiten in Amerika - und das gibt es ja nicht nur in Amerika - Übergriffe
auf Kinder von Priestern verurteilt und dankenswerter Weise dieses Problem angeht,
sich entschuldigt und auch die Opfer besucht, ist das ein erster Schritt. Der zweite
Schritt wäre natürlich zu fragen: Wie kommt es dazu? Ist das Zölibat noch aufrecht
zu erhalten? Da fehlt die offene Diskussion, die Infragestellung von Postulaten, die
aus dem Mittelalter herrühren und nicht mehr zeitgemäß sind. Da fehlt mir ein radikaler
Reformwille und die Rückbesinnung auf das, was am Christentum so umwerfend revolutionär
ist, dass es aus diesem Palästinastreifen heraus sich zu einer Weltreligion hat entwickeln
können.
*Sie sprechen selten über Kirche und Religion. Und wenn Sie darüber
sprechen, üben Sie meist Kritik an der Institution Kirche und Klerus. Gibt es etwas,
was Ihnen an der Kirche gefällt?
Ja, ich finde die Einrichtung der Beichte
etwas sehr Menschliches. Weil die Gegenseite ans Schweigegebot gebunden ist, und der
Mensch sich erleichtern kann, von dem was ihn bedrückt. Eine sehr menschliche Geste.
Keine öffentliche Anklage, man macht das in dem Beichtstuhl aus. Die Beichte ist etwas
sehr Gutes.
Also, dass Günter Grass für die Beichte oder eine Wiederbelebung
der Beichte ist, das ist schon mal eine Aussage! Die katholische Herkunft gehört zu
Ihnen genauso wie - wie Sie selber sagen-, die Ablösung aus den Engen des Kinderglaubens.
Wo aber liegen bei Ihnen heute jene Grenzen der Wahrheitssuche, die einen Künstler
von einem Theologen unterscheidet? Oder anders gefragt, worin besteht die wahre Abgründigkeit
des Menschen, angesichts unserer aller Endlichkeit?
Also, ich glaube nicht,
dass der einzelne Mensch in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen. Wie ich beim Schreiben
mit verschiedenen Wirklichkeiten zu tun habe, die im Widerspruch zueinander stehen,
so gibt es auch Wahrheiten im Plural. Der Respekt vor der Pluralität dieser Wahrheiten,
der Wirklichkeiten, das würde ich ein humanes Verhalten nennen. Ganz gleich, was man
tut: als Künstler, als Politiker, wie immer auch. Auch als Wirtschaftsmann - da fehlt
es ja weitgehend. Wir leben in einer Welt, die derartig ökonomisiert ist, das für
all die Dinge, die wir hier besprechen, ja kaum noch Platz ist.
*Jeder
Mensch entdeckt im Rückblick auf seine bisherige Existenz Zäsuren, die ihm besonders
wichtig erscheinen. Sie waren 16 Jahre alt, als Sie für ein paar Monate der SS angehörten.
Dass Sie erst spät von dieser jugendlichen Zugehörigkeit gesprochen haben, wird von
manchen kritisiert. Können Sie diese Kritik verstehen?
Dass man fragt, warum
ich dies so spät getan habe, das ist verständlich. Das habe ich mich selber auch fragen
müssen. Ich habe immer gewusst, dass ich darüber schreiben werde. Das hat Zeit gebraucht.
Ich musste in ein Alter kommen, dass ich überhaupt in der Lage war, über mein Leben
zu berichten. Das macht man normalerweise, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht
hat. Die Reaktion darauf, war bei vielen Verständnis, aber auch ein ungeheure Häme,
Angriffe und regelrechte Kampagne, die ich erlebt habe und überleben musste. Das war
nicht einfach. Übrigens: eine der tolerantesten Worte dazu kam von Seiten des Kardinal
Lehmann. Ja, seine Äußerung hat mir sehr gut getan.
Stichwort Papst: Eines
haben sie ja gemeinsam. Sowohl Joseph Ratzinger als auch Günter Grass standen lange
Zeit auf Platz Nr.1 der 500 führenden Intellektuellen in Deutschland. Allerdings ist
jetzt der Literatur Nobelpreisträger von Papst Benedikt XVI. eingeholt worden. Und
da gibt es noch etwas, was die beiden großen Persönlichkeiten möglicherweise verbindet:
In seinem Buch 'Beim Häuten der Zwiebel' trifft der junge Günter Grass in amerikanischer
Kriegsgefangenschaft in Bad Aibling auf einen jungen Mann, den er Joseph nennt. Beide
eben erst siebzehn Jahre alt. Er beschreibt ihn als katholisch bis ins Mark, sanfte
Stimme mit Berufswahl Bischof. Realität oder Fiktion?
Ich glaube mich zu
erinnern an einen Joseph, der sehr leise sprach, sehr eindringlich sprach, sehr gebildet
war, der sein Latein kannte, während meines aus der Schulzeit schon längst verflogen
war. Es war ein gemeinsames Hausen unter freiem Himmel. Es waren 100.000 Kriegsgefangene
dort im Massenlager. Es regnete oft und wir saßen unter einer Zeltplane und haben
Zukunftspläne geschmiedet. Und ich erinnere mich, dass dieser Joseph - von dem ich
nicht ausschließen kann, dass es der spätere Kardinal Ratzinger und heutige Papst
Benedikt ist - Pläne im Bereich der kirchlichen Hierarchie hatte. Nicht nur Priester,
das war klar, er wollte höher hinaus. Und auch ich wollte ein berühmter Künstler werden.
*Gewisse
Untertöne in Ihren Gedanken lassen Sie nicht selten als Pessimist erscheinen. Durch
die Ausbeutung der Schöpfung wird sich die Menschheit selbst auslöschen, sagen Sie
und bedienen Sie sich bei dieser Negativutopie der Apokalypse.
Ich bin,
wenn Sie so wollen, ein lebenslustiger Pessimist. Ich lebe gerne und genieße das Leben.
Aber ich bin mir bewusst, dass der Aufenthalt der Menschen auf diesem Planeten ein
begrenzter ist. Wir sind relativ spät auf diesen Planeten gekommen, es gab hier Leben,
lange, lange vor uns und es wird nach dem Ausscheiden der menschlichen Spezies auch
wieder Leben geben. Wenn all der Unrat, all die Schäden, die wir verursacht haben,
abgeklungen sind. Dieses Begreifen, dass wir hier nur Gast sind, und zwar ein Gast,
der das, was ihm gegeben wird, ausbeutet, ans Ende führt. Der Mensch nutzt die Gaben,
Verstand und Vernunft zu gebrauchen, Maß zu halten, nicht. In seiner Vermessenheit
tut er Dinge, die nicht mehr zurückzunehmen sind, angefangen von der Atombombe bis
zu den genetischen Eingriffen.