2008-03-27 11:56:05

Russland: Osterpost vom Bischof


Ein österlicher Rundbrief von Bischof Clemens Pickel von Saratov.

Liebe Freunde, einschließlich der mir unbekannten!

Eine seltsame Anrede, nicht wahr? Es tut mir leid, und wahrscheinlich noch genauer gesagt: es beschämt mich, dass ich nicht alle kenne, die meinem Bistum und mir so wohlgesonnen sind, wie ich es manchmal sehr unerwartet erleben darf. Allen möchte ich danken. Alle möchte ich grüßen, gerade jetzt, wo wir die Auferstehung unseres Herrn feiern und uns (hoffentlich) ein bißchen näher an die Geheimnisse unseres Schöpfers herantasten durften.

Zum zehnten Mal weihte ich die drei heiligen Öle - am Montag in der Karwoche mit den Priestern der Süddekanate des Bistums - und am Dienstag mit denen aus dem nördlichen Teil. Hier und da waren je 18 Priester zusammengekommen. Wir nutzten die Begegnungen dann auch zum aktuellen Erfahrungsaustauch. „Thema und Sorge Nr. 1“ sind immer noch die für uns unerwarteten Änderungen russischer Visabestimmungen, denen zu Folge Jahresvisa nur noch für 90 Tage pro Halbjahr benutzt werden dürfen. Im Klartext heißt das für die Pfarrer und Kapläne, aber auch für die meisten unserer Ordensschwestern im Bistum: drei Monate hier sein – drei Monate draußen. Es gibt die Möglichkeit, eine ständige Aufenthaltsgenehmigung zu erwerben, aber das ist sehr schwer und mancherorts unmöglich. Unmöglich, weil Ausländer in Krisengebieten nicht gern gesehen sind, andererorts weil die örtlichen Behörden das neue Gesetz selbst nicht ganz verstehen, oder in Bezug auf Kirche eigenmächtig zu eng auslegen usw. usf. Das fordert einen enormen Zeit- und Nervenaufwand, viel Papier und manchmal einen nahezu bodenlosen Optimismus. Der heilige Franz von Sales würde es einfach Demut nennen.

Es war schon eine ganze Zeit her, dass ich mich mit den Seelsorgern getroffen hatte. Für mich selber war es eine wirkliche Freude, sie wieder zu sehen, schon eine Art Einläuten der drei großen österlichen Tage. Der Gesundheitszustand eines Priesters und die sichtbare Müdigkeit so mancher, hat mich besorgt gemacht. Es ist hier aber nicht der Platz, auf alle Einzelheiten einzugehen.

Wie immer, waren meine Seminaristen aus dem Priesterseminar in Sankt Petersburg gekommen, um die Heilige Woche mit ihrem Bischof zu feiern. Parallel hatte ich junge Leute aus dem Bistum eingeladen, um über Berufung zum priesterlichen Dienst nachzudenken. Zwei waren gekommen. Für manchen vielleicht interessant zu hören, woher die beiden kamen: der eine aus Alexejewka, dem weit, weit abgelegenen katholischen Dorf, das wir einst „gefunden“ hatten, nachdem 63 Jahre lang kein Priester mehr dort gewesen war. Der andere kam aus Vladikavkas, also aus der Pfarrei, zu der auch Beslan gehört, dessen „Schule Nr. 1“ am 3. September 2004 durch den hundertfachen Kindermord so traurig berühmt geworden war. Es war gut, dass die beiden dieser Tage hier waren. Sie haben sich vor ihrer Heimreise mehrfach und sehr aufrichtig bedankt. Rodion aus Alexejewka brauchte 18 Stunden mit dem Zug, bevor er vom Pfarrer die letzten 100 km mit dem Auto in sein Dorf gebracht wurde. Zum Glück macht seine Schule gerade Frühjahrsferien. Albert ist zwei Tage mit dem Zug unterwegs nach Hause. (Dreimal umsteigen.) Morgen abend wird er in Vladikavkas ankommen. Übermorgen früh geht er wieder zur Uni. Abends arbeitet er bis Mitternacht als Kellner, um sein Studium bezahlen zu können und seiner alleinstenden Mutter und seinem Brüderchen ein wenig zu helfen.

Es war gut, dass die beiden Jugendlichen unseren vier Seminaristen begegnet sind. Das war mehr wert, als alles Erzählen und Erklären: Vier verschiedene junger Männer von hier, aus Südrussland, die Priester werden möchten…!

Während wir die Heilige Woche mit allen bis zur Feier der Osternacht in Saratow verbrachten, war für Sonntag früh ein Ausflug in die naheliegende Pfarrgemeinde nach Marx geplant. Noch vor dem Aufstehen kam am Sonntag Morgen der erste „Fröhliche Ostern!“-Anruf, und zwar von einer der Omas aus den Marxer Nachbardörfern. Einst war ich der Pfarrer für ihr Dorf und habe eine Gruppe älterer Leute auf den Empfang der Sakramente vorbereitet. Seitdem die Enkelkinder ihre Omas mit Handys ausgestattet haben, rufen sie von Zeit zu Zeit an. Sie haben und geben das Gefühl, dass man zu einer Familie gehört, erkundigen sich nach dem Wohlbefinden und der Arbeit, grüßen fröhlich im Namen aller und legen wieder auf. Als wir eines Tages vor einer sehr feierlichen Messe in der Kirche darauf hinwiesen, dass doch alle Handys ausgeschaltet sein mögen, gingen jene Omas an ihre Handtaschen, zogen Plastiktüten heraus, falteten das darinliegende Taschentuch nach allen vier Seiten auf und fragten die Nachbarn, wie man so ein Telefon ausmacht…

Jetzt möchte ich noch von zwei zufälligen Begegnungen am Tag zuvor erzählen. Als ich am Karsamstag vormittags mit den Seminaristen zur Kirche kam, um die Osternachtslitugie vor Ort zu besprechen, war die Kirche noch zugeschlossen, und eine junge Frau, Mitte 30, ging gerade weg. Sie hatte die Gottesdienstzeiten am Aushang gelesen. Nach 10 Metern drehte sie sich um, und als sie sah, dass wir beim Pfarrer klingelten, kehrte sie um und fragte, wie lange die Osternacht denn dauere. Sie wohne 25 km vom Stadtrand entfernt. (Bis zum Standrand sind es auch 20 km.) Da gibt es nachts keinen Bus mehr. „Warten Sie mal! Wir fragen den Pfarrer. Vielleicht wohnt dort draussen jemand von unseren Leuten, der sie mitnehmen kann“, schlug ich ihr vor. Das war der Anfang vom Gespräch. Sie war gekommen, weil es Zeit wäre, nun endlich zu glauben und zur Kirche zu gehen. „Wir sind hier die katholische Kirche“, erklärte ich vorsichtig, um keine Mißverständnisse zu programmieren. „Ich weiß“, war die Anwort, „mein Vater war deutsch, und meine Mutter stammt aus der Ukraine. Sie wohnt in Milliarator.“ Der Ortsname weckte Erinnerungen in mir: „Anfang der 90-er sind wir zweimal im Monat dorthin gefahren. Da waren viele Deutsche, … 35 km von Marx.“ Das wiederum ließ die junge Frau aufhorchen. „Wie ist denn Ihr Name, Pater? ... Pater Clemens! Meine Mutter hat manchmal von Ihnen erzählt! Ich möchte mit meinen beiden Töchtern kommen und uns taufen lassen.“ – „Das geht nicht so schnell. Wir machen lange Vorbereitungskurse, damit die Leute verstehen, worauf sie sich einlassen.“ – „Ich weiß. An etwas anderes habe ich auch nicht gedacht.“ ... Ich könnte das weitere Gespräch noch in vielen Einzelheiten wiedergeben. Schließlich machten wir aus, dass Schwester Irina die Katechese übernimmt und den Zeitplan mit der jungen Frau abstimmen wird, die übrigens auch Irina heißt. Ich habe später gehört, dass sich die beiden am Ostersonntag nach der Messe schon das erste Mal getroffen haben.

Eine zweite, ebenso ungeplante Begegnung löste im ersten Augenblick mehr Schmerz als Freude aus. Erst später verstand ich den möglichen Hintergrund der Situation. Direkt nach der höchst feierlichen Osternacht in der gut gefüllten Kathedrale, stand ich im Vorraum der Kirche und unterhielt mich mit den Herauskommenden. Eins unserer sehr armen Ehepaare in Saratow kam mit seinem kleinen, schwerkranken Sohn auf dem Arm der Mutter aus der Kirche und begrüßte mich. Ich glaube, die beiden haben sich vor etwa drei Jahren taufen lassen. Selber also noch nicht lange zur Kirche gehörend, hatten sie Gäste mitgebracht. Ein ungefähr elfjähriges Mädchen stand neben ihnen. Ihr hatte es sehr in der Kirche gefallen. „Ich komme wieder“, war das erste, was sie mir unbefangen sagte. Während die Vorbeigehenden, wie hier zu Ostern üblich, mit „Christus ist auferstanden!“ grüßten, trat plötzlich die Mutter des Mädchens heran, reicht mir die Hand über den Kopf der Tochter hinweg und sagte mit strenger Stimme: „Guten Abend. Ich war heute das erstemal hier.“ Sie fühlte sich unwohl. Das sah ich gut. Und als sie ihre Freunde aufforderten, ihre Eindrücke zu beschreiben, sie sich aber innerlich zu wehren schien, wollte ich ihr vor dem ersten Wort helfen, das Erlebte erst einmal in Ruhe zu verarbeiten. Aber das arme Ehepaar gab nicht nach: „Sag schon!“ Und sie begann: „Für mich war das ganze ein Theater.“ Sie ließ dann alles heraus, was sich in den letzten zwei Stunden in ihr angestaut hatte. Jeden Antwortversuch brach sie nach zwei bis drei Worten mit neuen, trockenen Emozionen ab. „Theater. Und den Leute gefällt’s! Das habe ich in ihren Augen gesehen. Ich wundere mich. Nein, das ist nicht unsere Kirche. Sie sind nicht vor hier. Sie sprechen so anders. Warum sind sie überhaupt hier? Die Leute waren wirklich froh, und entspannt. Das gibt es bei uns natürlich nicht. Wie machen Sie das? Nein. Das ist nicht richtig....“ Ganz zum Schluß ließ sie mir ein wenig Zeit zum Sprechen. Alle Leute um uns herum hatten sich inzwischen entfernt oder waren schon ganz nach Hause gegangen. Es war doch (Oster-)Nacht! Die junge Frau hatte mich, für die Situation ungewöhlich, kein einziges Mal beschimpft und verabschiedete sich dann mit ihrer Tochter an der Hand, formell höflich auf nimmer Wiedersehen. Mir hatte sich jeder Satz ungewollt tief eingeprägt. Ich war müde und, ehrlich gesagt, traurig. Erst während des Abendbrots mit meinen Gästen, die schon gewartet hatten, und später, vor dem Schlafengehen, begann ich zu verstehen, dass die Frau mit sich selbst gekämpft hatte. Unser Pfarrer, der auch zum „österlichen Nachtmahl“ kam, nachdem er die Kirche zugeschlossen hatte, erzählten von einer Frau mit Tochter, die als letzte aus der Kirche ging und vor sich her murmelte „Unglaublich, unglaublich!“ Er fragte zurück: „...daß Christus auferstaden ist?“ – „Nein“, sagte sie sehr ruhig. „Wie hier mit Menschen umgegangen wird...“

Liebe Freunde, diesen Brief habe ich geschrieben, weil ich, ähnlich jener Oma, die am Ostermorgen anrief, das Gefühl habe, dass wir zu einer Familie gehören. Es war alles nichts besonderes „für die Zeitung“, was ich geschrieben habe, sondern Alltägliches. Es möge Anteil geben an unserer Freude, die nicht gemacht ist und die immer wieder durchscheint, die uns hoffen läßt und die wir gern weiterschenken möchten.

Ich möchte Sie alle ganz herzlich grüßen und es nie vergessen, dankbar zu sein für die vielen, vielfältigen Zeichen der Verbundenheit mit den Menschen in meinem Bistum, auch wenn ich sie heute nicht aufgezählt habe.

Der Herr ist wahrhaft auferstanden! Das Geheimnis des Bösen hat nicht das letzte Wort. Frohe Ostern Ihnen allen!

Ihr
+ Clemens Pickel
Saratow, in der Osteroktav 2008







All the contents on this site are copyrighted ©.