Was ist Wahrheit? Diese Grundfrage stellt Benedikt XVI. in dem nicht gehaltenen Vortrag
an der römischen Sapienza-Universität und betont gleichzeitig den laizistischen Charakter
der Universität. Er fragt auch: Was kann und soll der Papst in der Universität sagen?
Die geplante Ansprache wurde nach den Protesten gegen die Einladung des Papstes zur
Eröffnung des Akademischen Jahres an der Sapienza und der Absage Benedikts auf dessen
Wunsch dem Rektor der Universität übermittelt. Am späten Mittwoch Nachmittag veröffentlichte
der Vatikan den Text.
Wir dokumentieren hier den Volltext in deutscher Fassung: Magnifizenz, verehrte
Vertreter des politischen und gesellschaftlichen Lebens, sehr geehrte Dozenten
und Verwaltungsangestellte, liebe Studenten!
Es ist für mich ein Grund zu
großer Freude, anlässlich der Eröffnung des akademischen Jahres die Gemeinschaft der
Römischen Universität „Sapienza“ zu besuchen. Schon seit Jahrhunderten prägt diese
Universität den Weg und das Leben der Stadt Rom, indem sie in allen Wissensgebieten
die besten intellektuellen Kräfte Früchte tragen lässt. Sowohl in der Zeit, als die
Einrichtung nach der von Papst Bonifatius VIII. gewollten Gründung unmittelbar der
kirchlichen Autorität unterstand, als auch später, als das Studium Urbis sich
zu einer Institution des italienischen Staates entwickelte, hat Ihre akademische Gemeinschaft
ein hohes wissenschaftliches und kulturelles Niveau bewahrt, das sie unter die renommiertesten
Universitäten der Welt einreiht. Von jeher betrachtet die Kirche von Rom dieses Universitätszentrum
mit Sympathie und Bewunderung und zollt ihm Anerkennung für seine bisweilen schwierige
und mühevolle Aufgabe der Forschung und der Ausbildung der jungen Generationen. So
hat es auch in den letzten Jahren nicht an bedeutsamen Momenten der Zusammenarbeit
und des Dialogs gefehlt. Besonders möchte ich an das weltweite Rektoren-Treffen anlässlich
des Jubiläums für die Universitäten erinnern, bei dem Ihre Gemeinschaft nicht nur
die Aufnahme und die Organisation übernommen, sondern vor allem den prophetischen
und umfassenden Vorschlag der Erarbeitung eines „neuen Humanismus für das dritte Jahrtausend“
vorgelegt hat. Gerne möchte ich bei dieser Gelegenheit meine Dankbarkeit
darüber ausdrücken, dass Ihre Universität mich zu Besuch und Vortrag eingeladen hat.
Im Hinblick darauf habe ich mir zuallererst die Frage gestellt: Was kann und soll
ein Papst bei einer solchen Gelegenheit sagen? Bei meiner Vorlesung in Regensburg
habe ich, gewiss als Papst, aber vor allem auch als ehemaliger Hochschullehrer an
meiner eigenen Universität gesprochen und dabei Erinnerungen und Gegenwart miteinander
zu verknüpfen versucht. Aber an der „Sapienza“, der alten Universität von Rom, bin
ich gerade als Bischof von Rom eingeladen und muss daher als solcher sprechen. Gewiss,
die „Sapienza“ war einmal Universität des Papstes, aber heute ist sie eine säkulare
Universität mit der Autonomie, welche von ihrer Gründungsidee her immer zum Wesen
der Universität gehörte, die allein der Autorität der Wahrheit verpflichtet sein soll.
In ihrer Freiheit von politischen und kirchlichen Autoritäten kommt der Universität
ihre besondere Funktion gerade auch für die moderne Gesellschaft zu, die einer solchen
Institution bedarf.
Ich komme auf meine Ausgangsfrage zurück: Was kann und
soll der Papst bei der Begegnung mit der Universität seiner Stadt sagen? Beim Bedenken
dieser Frage schien mir, sie schließe zwei andere Fragen ein, deren Klärung von selbst
zur Antwort führen müsste. Es ist nämlich zu fragen: Was ist Wesen und Auftrag des
Papsttums? Und: Was ist Wesen und Auftrag der Universität? Ich möchte Sie und mich
an dieser Stelle nicht mit langen Erörterungen über das Wesen des Papsttums hinhalten.
Ein kurzer Hinweis mag genügen. Der Papst ist zuallererst Bischof von Rom und als
solcher in der Nachfolge des heiligen Petrus mit einer bischöflichen Verantwortung
für die ganze katholische Kirche ausgestattet. Das Wort Bischof – Episkopos,
das zunächst so viel wie Aufseher bedeutet, ist schon im Neuen Testament mit dem biblischen
Begriff des Hirten verschmolzen worden: Er ist der, der von einem Übersichtspunkt
aus aufs Ganze sieht, sich um den rechten Weg und den Zusammenhalt des Ganzen müht.
Insofern ist mit dieser Berufsbezeichnung zunächst der Blick aufs Innere der gläubigen
Gemeinschaft gerichtet. Der Bischof – der Hirte – ist der Mann, der sich um diese
Gemeinschaft kümmert; der sie dadurch beieinanderhält, dass er sie auf dem Weg zu
Gott hält, wie ihn dem christlichen Glauben gemäß Christus gezeigt hat - und nicht
nur gezeigt hat; Er ist selbst für uns der Weg. Aber diese Gemeinschaft, um die sich
der Bischof sorgt, lebt – ob sie nun groß oder klein ist – in der Welt; ihr Zustand,
ihr Weg, ihr Beispiel und ihr Wort wirkt sich unweigerlich aufs Ganze der übrigen
menschlichen Gemeinschaft aus. Je größer sie ist, desto mehr wird ihr rechter Zustand
oder ihr eventueller Verfall sich aufs Ganze der Menschheit auswirken. Wir sehen es
heute sehr deutlich, wie der Zustand der Religionen und wie die Situation der Kirche,
ihre Krisen und ihre Erneuerungen aufs Ganze der Menschheit einwirken. So ist der
Papst gerade als Hirte seiner Gemeinschaft immer mehr auch zu einer Stimme der moralischen
Vernunft der Menschheit geworden.
Hier ergibt sich freilich sofort der
Einwand, dass der Papst eben doch nicht wirklich von der moralischen Vernunft her
spreche, sondern seine Urteile aus dem Glauben beziehe und daher keine Gültigkeit
für diejenigen beanspruchen könne, die diesen Glauben nicht teilen. Auf diese Frage
wird zurückzukommen sein, denn dabei ergibt sich die ganz grundsätzliche Frage: Was
ist Vernunft? Wie weist sich eine Aussage – vor allem eine moralische Norm – als „vernünftig“
aus? An dieser Stelle möchte ich vorerst nur ganz kurz darauf hinweisen, dass John
Rawls, obwohl er umfassenden religiösen Lehren den Charakter der „öffentlichen“ Vernunft
abspricht, in deren „nicht öffentlicher“ Vernunft immerhin Vernunft sieht, die ihren
Trägern nicht einfach im Namen einer säkularistisch verhärteten Rationalität abgesprochen
werden dürfe. Ein Kriterium dieser Vernünftigkeit sieht er unter anderem darin, dass
solche Lehren aus einer verantworteten und doktrinellen Tradition heraus stammen,
in der über lange Zeiträume hinweg hinreichend gute Gründe für die jeweilige Lehre
entwickelt wurden. An dieser Aussage erscheint mir wichtig, dass die Erfahrung und
Bewährung über Generationen hin – der historische Fundus menschlicher Weisheit – auch
ein Zeichen ihrer Vernünftigkeit und ihrer weiter reichenden Bedeutung ist. Gegenüber
einer a-historischen Vernunft, die sich nur in einer a-historischen Rationalität selber
zu konstruieren versucht, ist die Weisheit der Menschheit als solche – die Weisheit
der großen religiösen Traditionen – als Realität zur Geltung zu bringen, die man nicht
ungestraft in den Papierkorb der Ideengeschichte werfen kann.
Kehren wir
zurück zur Ausgangsfrage. Der Papst spricht als Vertreter einer gläubigen Gemeinschaft,
in welcher in den Jahrhunderten ihres Bestehens Weisheit des Lebens gereift ist; als
Vertreter einer Gemeinschaft, die zumindest einen Schatz an moralischer Erkenntnis
und Erfahrung in sich verwahrt, der für die ganze Menschheit von Bedeutung ist: Er
spricht in diesem Sinn als Vertreter moralischer Vernunft.
Aber nun ist
zu fragen: Und was ist die Universität? Was ist ihre Aufgabe? Eine gewaltige Frage,
zu der ich wiederum nur im Telegrammstil die ein oder andere Anmerkung versuchen kann.
Ich denke, man dürfe sagen, der eigentliche innere Ursprung der Universität liege
in dem Drang des Menschen nach Erkenntnis. Er will wissen, was das alles ist, was
ihn umgibt. Er will Wahrheit. In diesem Sinn kann man das Fragen des Sokrates als
den Impuls sehen, aus dem die abendländische Universität geboren wurde. Ich denke
etwa – um nur einen Text zu nennen – an das Streitgespräch mit Eutyphron, der dem
Sokrates gegenüber die mythische Religion und ihre Frömmigkeit verteidigt. Dem stellt
Sokrates die Frage entgegen: „Du glaubst, dass wirklich unter den Göttern gegenseitiger
Krieg bestehe und furchtbare Feindschaften und Schlachten... Sollen wir wirklich sagen,
Eutyphron, das alles sei wahr?“ (6 b – c). In dieser scheinbar unfrommen Frage, die
bei Sokrates freilich aus einer tieferen und reineren Frömmigkeit, aus der Suche nach
dem göttlichen Gott kam, haben die Christen der ersten Jahrhunderte sich und ihren
Weg wiedererkannt. Sie haben ihren Glauben nicht positivistisch aufgenommen, nicht
als Ausweg unerfüllter Wünsche, sondern als den Durchbruch aus dem Nebel der mythologischen
Religion zu dem Gott verstanden, der schöpferische Vernunft und zugleich Vernunft
als Liebe ist. Deswegen war das Fragen der Vernunft nach dem größeren Gott und nach
dem, was der Mensch wirklich ist und soll, für sie nicht eine bedenkliche Form von
Unfrömmigkeit, sondern gehörte zum Wesen ihrer Weise der Frömmigkeit. Sie brauchten
daher das sokratische Fragen nicht aufzulösen oder beiseite zu schieben, sondern durften,
ja mussten es aufnehmen und das Ringen der Vernunft um Erkenntnis der ganzen Wahrheit
als Teil ihrer eigenen Identität erkennen. So konnte, musste im Raum des christlichen
Glaubens, in der christlichen Welt die Universität entstehen.
Ein weiterer
Schritt ist nötig. Der Mensch will erkennen – er will Wahrheit. Wahrheit ist zunächst
eine Sache des Sehens, des Verstehens, der theoría, wie die griechische Tradition
es nennt. Aber Wahrheit ist nie bloß theoretisch. Augustinus hat in seiner Zuordnung
der Seligpreisungen der Bergpredigt und der Geistesgaben von Jes 11 scientia
und tristitia aufeinander bezogen: Bloßes Wissen, so meint er, macht traurig.
Und in der Tat – wer nur alles ansieht und erfährt, was in der Welt geschieht, wird
traurig werden. Aber Wahrheit meint mehr als Wissen: Die Erkenntnis der Wahrheit zielt
auf die Erkenntnis des Guten. Das ist auch der Sinn des sokratischen Fragens: Was
ist das Gute, das uns wahr macht? Die Wahrheit macht uns gut, und das Gute ist wahr:
Dies ist der Optimismus, der im christlichen Glauben lebt, weil er des Logos, der
schöpferischen Vernunft ansichtig geworden ist, die sich in der Menschwerdung Gottes
zugleich als das Gute, als die Güte selbst gezeigt hat.
In der mittelalterlichen
Theologie hat es einen eingehenden Disput über das Verhältnis von Theorie und Praxis,
über den rechten Zusammenhang von Erkennen und Tun gegeben, den wir hier nicht aufzurollen
brauchen. Faktisch stellt die mittelalterliche Universität mit ihren vier Fakultäten
diesen Zusammenhang dar. Beginnen wir mit der nach damaligem Verständnis vierten Fakultät,
derjenigen der Medizin. Sie wurde zwar mehr als „Kunst“ denn als Wissenschaft betrachtet,
aber ihre Einfügung in den Kosmos der Universitas bedeutete doch klar, dass
sie im Raum der Rationalität angesiedelt war, dass die Kunst des Heilens unter der
Leitung der Vernunft stand und dem Bereich des Magischen entzogen wurde. Heilen ist
eine Aufgabe, die immer mehr als den bloßen Verstand verlangt, aber gerade so die
Verbindung von Wissen und Können, die Zugehörigkeit zum Raum der Ratio braucht. Unvermeidlich
erscheint die Frage nach dem Zusammenhang von Praxis und Theorie, von Erkenntnis und
Handeln, in der juristischen Fakultät. Es geht um die rechte Gestaltung der menschlichen
Freiheit, die immer Freiheit im Miteinander ist: Das Recht ist Voraussetzung der Freiheit,
nicht ihr Gegenspieler. Aber hier erhebt sich sofort die Frage: Wie findet man die
Maßstäbe der Gerechtigkeit, die gemeinsam gelebte Freiheit ermöglichen und dem Gutsein
des Menschen dienen? An dieser Stelle drängt sich ein Sprung in die Gegenwart auf
- die Frage, wie eine Rechtsordnung, die eine Ordnung der Freiheit, der Menschenwürde
und der Menschenrechte darstellt, gefunden werden kann. Es ist die Frage, die uns
heute in den demokratischen Meinungsbildungen bewegt und die uns zugleich als Frage
für die Zukunft der Menschheit bedrängt. Jürgen Habermas drückt, wie mir scheint,
einen weitgehenden Konsens des heutigen Denkens aus, wenn er sagt, die Legitimität
einer Verfassung als Voraussetzung der Legalität gehe aus zwei Quellen hervor: aus
der gleichmäßigen politischen Beteiligung aller Bürger und aus der vernünftigen Form,
in der die politischen Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Zu dieser „vernünftigen
Form“ stellt er fest, dass sie nicht bloß ein Kampf um arithmetische Mehrheiten sein
könne, sondern als ein „wahrheitssensibles Argumentationsverfahren“ zu charakterisieren
sei. Das ist gut gesagt, aber sehr schwer in politische Praxis umzusetzen. Denn die
Vertreter dieses öffentlichen „Argumentationsverfahrens“ sind nun einmal überwiegend
die Parteien als Träger der politischen Willensbildung. Faktisch werden sie unausweichlich
vor allem auf das Gewinnen von Mehrheiten bedacht sein und damit fast unvermeidlich
auf Interessen achten, denen sie Befriedigung versprechen, die aber häufig partikulär
sind und nicht wirklich dem Ganzen dienen. Die Wahrheits-Sensibilität wird immer wieder
überlagert von der Interessen-Sensibilität. Ich finde es bedeutsam, dass Habermas
von der Sensibilität für die Wahrheit als notwendigem Element im politischen Argumentationsprozess
spricht und so den Begriff der Wahrheit wieder in die philosophische und in die politische
Debatte einführt.
Aber die Pilatus-Frage wird da unausweichlich: Was ist
Wahrheit? Und wie erkennt man sie? Wenn man dafür auf die „öffentliche Vernunft“ verweist,
wie Rawls es tut, dann folgt unausweichlich noch einmal die Frage: Was ist vernünftig?
Wie weist sich Vernunft als wirkliche Vernunft aus? Jedenfalls wird von da aus sichtbar,
dass andere Instanzen in der Suche nach dem Recht der Freiheit, nach der Wahrheit
des rechten Miteinander zu Gehör kommen müssen als Parteien und Interessengruppen,
deren Bedeutung damit nicht im mindesten bestritten werden soll. So kommen wir auf
die Struktur der mittelalterlichen Universität zurück. Neben der Rechtswissenschaft
standen da die Fakultäten für Philosophie und Theologie, denen die Suche nach dem
Ganzen des Menschseins und so das Wachhalten der Sensibilität für die Wahrheit aufgetragen
war. Man könnte geradezu sagen, dass dies der bleibende, wahre Sinn beider Fakultäten
ist: Hüter der Sensibilität für die Wahrheit zu sein, den Menschen nicht von der Suche
nach der Wahrheit abbringen zu lassen. Aber wie können sie dieser Aufgabe gerecht
werden? Das ist eine Frage, um die immer neu gerungen werden muss und die nie einfach
zu Ende gestellt und beantwortet ist. So kann auch ich an dieser Stelle nicht eigentlich
eine Antwort anbieten, sondern viel eher eine Einladung, mit dieser Frage unterwegs
zu bleiben – unterwegs mit den großen Ringenden und Suchenden der ganzen Geschichte,
mit ihren Antworten und ihrer über jede einzelne Antwort immer neu hinweisenden Unruhe
für die Wahrheit.
Theologie und Philosophie bilden dabei ein eigentümliches
Zwillingspaar, in dem keines vom anderen gänzlich zu lösen ist und doch jedes seinen
eigenen Auftrag und seine besondere Identität wahren muss. Es ist das geschichtliche
Verdienst des heiligen Thomas von Aquin, dass er gegenüber der von ihrem geschichtlichen
Kontext anders gearteten Antwort der Väter die Eigenständigkeit der Philosophie und
mit ihr das Eigenrecht und die Eigenverantwortung der von ihren Kräften her fragenden
Vernunft herausgestellt hat. Die Väter hatten gegenüber den neuplatonischen Philosophien,
in denen Religion und Philosophie untrennbar verflochten waren, den christlichen Glauben
als die wahre Philosophie dargestellt und dabei auch betont, dass dieser Glaube den
Ansprüchen der nach Wahrheit suchenden Vernunft entspricht; dass er das Ja zur Wahrheit
gegenüber den zu bloßer Gewohnheit gewordenen mythischen Religionen war. Aber nun,
im Zeitpunkt der Entstehung der Universität, gab es im Abendland diese Religionen
nicht mehr, sondern nur noch das Christentum, und so musste nun auf neue Weise die
Eigenverantwortung der Vernunft herausgestellt werden, die nicht vom Glauben absorbiert
wird. Thomas wirkte in einem privilegierten Zeitpunkt: Die philosophischen Schriften
des Aristoteles waren erstmals in ihrer Ganzheit zugänglich geworden; die jüdischen
und arabischen Philosophien als je eigene Anverwandlungen und Weiterführungen der
griechischen Philosophie standen im Raum. Das Christentum musste so in einem neuen
Dialog mit der ihr begegnenden Vernunft der anderen um seine eigene Vernünftigkeit
ringen. Die philosophische Fakultät, die als sogenannte Artisten-Fakultät bisher nur
eine Vorschule für die Theologie gewesen war, wurde zur eigentlichen Fakultät, zum
eigenständigen Partner der Theologie und des von ihr reflektierten Glaubens. Über
das spannende Ringen, das sich dabei ergab, kann hier nicht gehandelt werden. Ich
würde sagen, dass die Vorstellung des heiligen Thomas über das Verhältnis von Philosophie
und Theologie sich in der Formel ausdrücken lasse, die das Konzil von Chalzedon für
die Christologie gefunden hatte: Philosophie und Theologie müssen zueinander im Verhältnis
des „Unvermischt und Ungetrennt“ stehen. Unvermischt, das will sagen, dass jede der
beiden ihre eigene Identität bewahren muss. Die Philosophie muss wirklich Suche der
Vernunft in ihrer Freiheit und ihrer eigenen Verantwortung bleiben; sie muss ihre
Grenze und gerade so auch ihre eigene Größe und Weite sehen. Die Theologie muss dabei
bleiben, dass sie aus einem Schatz von Erkenntnis schöpft, den sie nicht selbst erfunden
hat und der ihr vorausbleibt, nie ganz von ihrem Bedenken eingeholt wird und gerade
so das Denken immer neu auf den Weg bringt. Mit diesem „Unvermischt“ gilt auch zugleich
das „Ungetrennt“: Die Philosophie beginnt nicht immer neu vom Nullpunkt des einsam
denkenden Subjekts her, sondern sie steht im großen Dialog der geschichtlichen Weisheit,
die sie kritisch und zugleich hörbereit immer neu aufnimmt und weiterführt; sie darf
sich aber auch nicht demgegenüber verschließen, was die Religionen und was besonders
der christliche Glaube empfangen und der Menschheit als Wegweisung geschenkt haben.
Manches, was von Theologen im Laufe der Geschichte gesagt oder auch von kirchlicher
Autorität praktiziert wurde, ist von der Geschichte falsifiziert worden und beschämt
uns heute. Aber zugleich gilt, dass die Geschichte der Heiligen, die Geschichte der
vom christlichen Glauben her gewachsenen Menschlichkeit diesen Glauben in seinem wesentlichen
Kern verifiziert und damit auch zu einer Instanz für die öffentliche Vernunft macht.
Gewiss, vieles von dem, was Theologie und Glaube sagen, kann nur im Inneren des Glaubens
angeeignet werden und darf daher nicht als Anspruch an diejenigen auftreten, denen
dieser Glaube unzugänglich bleibt. Aber zugleich gilt, dass die Botschaft des christlichen
Glaubens nie nur eine „comprehensive religious doctrine“ im Sinn von Rawls
ist, sondern eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst, die ihr hilft, mehr sie
selbst zu sein. Die christliche Botschaft sollte von ihrem Ursprung her immer Ermutigung
zur Wahrheit und so eine Kraft gegen den Druck von Macht und Interessen sein.
Nun,
ich habe bisher nur von der mittelalterlichen Universität gesprochen, dabei freilich
versucht, das bleibende Wesen der Universität und ihres Auftrags durchscheinen zu
lassen. In der Neuzeit haben sich neue Dimensionen des Wissens eröffnet, die in der
Universität vor allem in zwei großen Bereichen zur Geltung kommen: in der Naturwissenschaft,
die aus der Verbindung von Experiment und vorausgesetzter Rationalität der Materie
sich gebildet hat; in den Geschichts- und Humanwissenschaften, in denen der Mensch
sich im Spiegel seiner Geschichte und im Ausleuchten der Dimensionen seines Wesens
besser zu verstehen sucht. Bei dieser Entwicklung hat sich der Menschheit nicht nur
ein ungeheures Maß von Wissen und Können erschlossen; auch Erkenntnis und Anerkenntnis
von Menschenrechten und Menschenwürde sind gewachsen, und dafür können wir nur dankbar
sein. Aber der Weg des Menschen ist nie einfach zu Ende, und die Gefahr des Absturzes
in die Unmenschlichkeit nie einfach gebannt: Wie sehr erleben wir das im Panorama
der gegenwärtigen Geschichte: Die Gefahr der westlichen Welt – um nur davon zu sprechen
– ist es heute, dass der Mensch gerade angesichts der Größe seines Wissens und Könnens
vor der Wahrheitsfrage kapituliert. Und das bedeutet zugleich, dass die Vernunft sich
dann letztlich dem Druck der Interessen und der Frage der Nützlichkeit beugt, sie
als letztes Kriterium anerkennen muss. Von der Struktur der Universität her gesagt:
Die Gefahr ist, dass die Philosophie sich ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr zutraut
und in Positivismus abgleitet; dass die Theologie mit ihrer an die Vernunft gewandten
Botschaft ins Private einer mehr oder weniger großen Gruppe abgedrängt wird. Aber
wenn die Vernunft aus Sorge um ihre vermeintliche Reinheit taub wird für die große
Botschaft, die ihr aus dem christlichen Glauben und seiner Weisheit zukommt, dann
verdorrt sie wie ein Baum, dessen Wurzeln nicht mehr zu den Wassern hinunterreichen,
die ihm Leben geben. Sie verliert den Mut zur Wahrheit und wird so nicht größer, sondern
kleiner. Auf unsere europäische Kultur angewandt heißt dies: Wenn sie sich nur selbst
aus ihrem Argumentationszirkel und dem ihr jetzt Einleuchtenden konstruieren will
und sich aus Furcht um ihre Säkularität von den Wurzeln abschneidet, von denen sie
lebt, dann wird sie nicht vernünftiger und reiner, sondern zerfällt.
Damit
kehre ich zum Ausgangspunkt zurück. Was hat der Papst an der Universität zu tun oder
zu sagen? Er darf gewiss nicht versuchen, andere in autoritärer Weise zum Glauben
zu nötigen, der nur in Freiheit geschenkt werden kann. Über seinen Hirtendienst in
der Kirche hinaus und vom inneren Wesen dieses Hirtendienstes her ist es seine Aufgabe,
die Sensibilität für die Wahrheit wach zu halten; die Vernunft immer neu einzuladen,
sich auf die Suche nach dem Wahren, nach dem Guten, nach Gott zu machen und auf diesem
Weg die hilfreichen Lichter wahrzunehmen, die in der Geschichte des christlichen Glaubens
aufgegangen sind und dabei dann Jesus Christus wahrzunehmen als Licht, das die Geschichte
erhellt und den Weg in die Zukunft zu finden hilft.