Sonntagsbetrachtung zu "Erscheinung des Herrn" von Aurelia Spendel OP
In der alten Pilgerstadt
Autun in Burgund, deren Anfänge – wie könnte es anders sein in dieser Gegend? – in
römischer Vergangenheit zu suchen sind, – dominiert eine prächtige Kathedrale, hoch
über den Häusern das Stadtbild. Ihr bischöflicher Bauherr, Étienne Bâgé, wollte mit
seinem ehrgeizigen Projekt vor allem anderen einer theologisch-kirchenpolitischen
Idee von höchster Brisanz unmissverständlich Ausdruck verleihen. In Stein übersetzt
erstand vor den Augen des Betrachters sein Anspruch, der in den zurück liegenden Jahrhunderten
mehr und mehr der Anspruch fast der ganzen kirchlichen Leitungselite geworden war,
niemand anderem untertan sein zu müssen als Gott allein. Dem Gottes-Dienst war kein
Welt-Dienst vorzuziehen. Der ausschließlichen Gottzugehörigkeit widersprachen jede
Weltanhänglichkeit und jeder weltliche Herrschaftsanspruch.
Étienne Bâgé war
glühender Anhänger der zunächst monastisch, also auf das Klosterleben ausgerichteten
Reform der berühmten Benediktinerabtei von Cluny. Kirchliche Unabhängigkeit
war ein zentrales Wort ihrer Vision. Vorherrschaft der geistlichen vor der weltlichen
Macht ein anderes. Von ihrer dritten, 1088 (eintausendachtundachtzig) bis 1130 (eintausendeinhundertdreißig)
errichten Abteikirche, die vor dem Bau von St. Peter in Rom die größte Kirche der
Christenheit war, ließ sich der Bischof von Autun 1120 (eintausendeinhundertzwanzig)
inspirieren, als seine eigene Kathedrale in langer Baugeschichte Gestalt zu gewinnen
begann. Ausdrucksstarke, weite Räume sollten die Menschen beheimaten und erheben in
der Gegenwart Gottes, in der Frömmigkeit persönlichen Gebetes und im Glanz liturgischen
Feierns.
2. Wie aber führt man Menschen an die Geheimnisse des Glaubens heran,
Menschen, die weder lesen noch schreiben können und die – selbst, wenn sie es beherrschten
– kaum je eine Bibel zur Verfügung hätten? Man erzählt, erzählt Geschichten, erzählt
in Bildern. Theologie nicht auf Pergament und Papyrus, sondern in Stein und Form,
gemeißelte Verkündigung.
Die Steinmetzarbeiten der Kathedrale von Autun
zählen zu den herausragenden Werken romanischer Kunst in Burgund und darüber hinaus.
In Portalen und an Kapitellen ist zu bewundern, was auf dem Fundament des theologischen
Konzeptes ihres Gründerbischofs und durch die Kunstfertigkeit seiner Künstler entstanden
ist.
In der Vierung, jenem Punkt der Architektur, an der sich Langhaus
und Querhaus treffen, fallen der ausdrucksstarke Reichtum und die künstlerische Qualität
der biblischen Darstellungen auf den Sandsteinkapitellen besonders ins Auge.
3.
Und hier findet sich auch jene Szene, die das vielleicht bekannteste Werk der Kathedrale
zeigt. Das zweite Kapitel des Matthäusevangeliums beschreibt die Szene so: Weil
ihnen aber im Traum geboten wurde, nicht zu Herodes zurück zu kehren, zogen sie auf
einem anderen Weg heim in ihr Land. - Mt 2, 12 -
Die Rede ist von den Weisen
aus dem Morgenland, die dem Stern gefolgt waren, das Kind in der Krippe gefunden und
es angebetet hatten, und sich nun in der letzten Nacht vor dem Heimweg noch einmal
schlafend stärken.
Vielleicht kennen Sie dieses Relief: Drei Männer, ohne
Oberkleid, durch die unterschiedlich gestalteten Kronen auf ihren Häuptern als Könige
zu identifizieren, liegen eng aneinander geschmiegt auf einem gemeinsamen Bettgestell.
Eine einzige Decke bedeckt die drei; seine reich gefältete Form und der prächtige
Saum erinnern an einen herrscherlichen Mantel. Zwei der Männer schlafen, einer schaut
mit weit geöffneten Augen – wohin, enthüllt sich nicht. Über ihm leuchtet ein Stern.
Ein Engel berührt behutsam mit dem linken Zeigefinger seinen auf der Decke liegenden
nackten Arm, den seiner anderen Hand auf den blumenförmigen Stern gerichtet.
4.
Die Intimität der Darstellung kann dem Betrachter, der Betrachterin den Atem verschlagen.
Unwillkürlich verstummt das Reden vor diesem stillen Bild. Drei Menschen, vertrauensvoll
schlafend, schutzlos in ihrer fast nackten Wehrlosigkeit, drei Menschen, die über
Wissen, Macht und Einfluss verfügen, mehr als tausend andere und doch verletzlich
ihrem Traumbild ausgesetzt. In ihrer Dreiheit als unterschiedliche Personen sind sie
doch einander ergänzend, Repräsentanten verschiedener Phasen menschlicher Entwicklung.
Auch wenn belegt ist, dass unter mittelalterlichen Pilger- und Reiseverhältnissen
selbst vermögende Personen in einem Zimmer und sogar in einem Bett schlafen mussten,
nimmt dieses Moment dem autunschen Kapitell nichts an Zartheit und Einmaligkeit. Denn
hier geht es um mehr und um anderes als um die getreue Widergabe zeitbedingter Verhältnisse.
Hier
geht es um geteilten Glauben, um gemeinsame Hoffnung und um ein und dieselbe, verbindende
Liebe. Keiner der Weisen hätte isoliert, im Streit oder in der Gleichgültigkeit den
anderen gegenüber seinen Weg gehen können. Keiner von ihnen hätte alleine vor dem
Kind niedergefallen und es aus reinem Herzen anbeten können. Sie gehören zusammen.
Diese Zusammengehörigkeit geht so weit, dass sie heute ein gemeinsames Grab im Goldglanz
des Drei-Königen-Schreins von Köln gefunden haben.
5. Solch geteilter Glaube,
der andere Menschen nahe an den eigenen heran lässt, der sich aussetzt und sich traut,
wehrlos zu sein, der die Intimität der Gottesbeziehung nicht wie eine Beute verteidigt
und nicht wie einen Raub versteckt, ist ein starker, kreativer Glaube. Er beugt sich
nicht lächelndem Wellnessdruck, jagt keiner spirituellen Leichtigkeit nach. Solcher
Glaube ist wach, scheut nicht die Mühsal seiner Verantwortung vor der Vernunft. Solcher
Glaube entlarvt mit traumwandlerischer Sicherheit, das Gerede vom Untergang der Kirche
als Angst vor den notwendigen Niedergang überholter Formen und Vorstellungen. Gemeinsamer
Glaube in liebender Intimität hofft auf Gott, auf ihn allein, auf seine Barmherzigkeit,
seine Nähe und seine überraschende, fragende, ins Leben rufende Gegenwart.
6.
Die Kathedrale von Autun ist dem heiligen Lazarus geweiht, dem Bruder der Martha
und der Maria, die Jesus dienten, als er bei ihnen zu Gast war. Lazarus war der Todgeweihte,
der aus seinem Grab herauskam, als Jesus ihn rief. Nicht die Macht der Vernichtung
hatte das letzte Wort, nicht das Gefängnis ewiger Dunkelheit sollte Recht behalten.
Leben und Liebe in der Gestalt des Fleisch gewordenen, unter uns erschienen göttlichen
Wortes erwiesen sich als gültig und ewig. Für diese Überzeugung ist die Kathedrale
von Autun ein symbolischer Ort, der der Befreiung von allen Mächten in Stein gehauen
das Wort redet, wenn Menschen wie Herodes andere missbrauchen, sie verdrehen für ihre
üblen Machenschaften, die sie hineinziehen wollen in die eigene Angst vor dem Verlust
von Macht, Kontrolle, Dominanz.
7. Autun ist ein Verkehrsknotenpunkt.
Von hier aus führen uralte Wege nach Norden und Süden, nach Osten und Westen. Es sind
Wege, die stellvertretend stehen für alle Pfade, auf denen Pilgerinnen und Pilger
nach dem König des Friedens suchen. Ihnen soll die Erfahrung der Weisen aus dem Morgenland
zur Kraftquelle werden: Es bewahrt vor dem Irrweg, bringt ans Ziel und sicher wieder
heim, wenn der Glaube geteilt wird, wenn ihn eine gemeinsame Decke in der Kälte der
Nacht schützen darf.
So wünsche ich Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
auf dem Weg Ihres Lebens einen Stern, der sie zum Aufbruch animiert, einen Ort, an
dem Sie das Kind finden werden, leere Hände, damit Gott sie füllen kann mit seinem
Licht und einen Engel, die Sie neue Wege gehen heißt. Stecken Sie ohne Bedenken mit
Gott und allen Menschen guten Willens unter einer Decke.