Die Familie ist eine Agentur des Friedens, schreibt der Papst in seiner Botschaft
zum Weltfriedenstag am Neujahrstag. Wer die Familie bedroht, schadet langfristig der
ganzen Menschheitsfamilie, so die Grundthese. Wir dokumentieren hier den Friedensappel
Benedikts XVI. im Wortlaut:
DIE MENSCHHEITSFAMILIE, EINE
GEMEINSCHAFT DES FRIEDENS
1. ZU BEGINN DES NEUEN JAHRES möchte ich den
Menschen in aller Welt meinen innigen Friedenswunsch und zugleich eine herzliche Botschaft
der Hoffnung übermitteln. Das tue ich, indem ich zum gemeinsamen Nachdenken über das
Thema anrege, das ich an den Anfang dieser Botschaft gestellt habe und das mir besonders
am Herzen liegt: Die Menschheitsfamilie, eine Gemeinschaft des Friedens. Die
erste Form der Gemeinsamkeit zwischen Menschen ist die, welche aus der Liebe zwischen
einem Mann und einer Frau hervorgeht, die entschlossen sind, sich auf immer zusammenzuschließen,
um miteinander eine neue Familie aufzubauen. Doch auch die Völker der Erde
sind aufgerufen, untereinander Beziehungen der Solidarität und der Zusammenarbeit
zu schaffen, wie sie sich für Glieder der einen Menschheitsfamilie geziemen.
»Alle Völker sind eine einzige Gemeinschaft«, hat das Zweite Vatikanische Konzil gesagt,
»sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten
Erdkreis wohnen ließ (vgl. Apg 17,26); auch haben sie Gott als ein und dasselbe
letzte Ziel«.1 Familie, Gesellschaft und Frieden 2. Die auf
die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründete natürliche Familie als innige
Gemeinschaft des Lebens und der Liebe 2 ist der »erste Ort der ,,Humanisierung“
der Person und der Gesellschaft«,3 die »Wiege des Lebens und der
Liebe«4. Zu Recht wird darum die Familie als die erste natürliche Gesellschaft
bezeichnet, als »eine göttliche Einrichtung, die als Prototyp jeder sozialen Ordnung
das Fundament des Lebens der Personen bildet«5. 3. Tatsächlich macht
man in einem gesunden Familienleben die Erfahrung einiger grundsätzlicher Komponenten
des Friedens: Gerechtigkeit und Liebe unter den Geschwistern, die Funktion der Autorität,
die in den Eltern ihren Ausdruck findet, der liebevolle Dienst an den schwächsten
— weil kleinen oder kranken oder alten — Gliedern, die gegenseitige Hilfe in den Bedürfnissen
des Lebens, die Bereitschaft, den anderen anzunehmen und ihm nötigenfalls zu verzeihen.
Deswegen ist die Familie die erste und unersetzliche Erzieherin zum Frieden.
So ist es nicht verwunderlich, daß innerfamiliäre Gewalt als besonders untragbar empfunden
wird. Wenn also die Familie als »Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft« 6
bezeichnet wird, ist damit etwas Wesentliches ausgedrückt. Die Familie ist das Fundament
der Gesellschaft auchdeshalb, weil sie die Möglichkeit zu entscheidenden Erfahrungen
von Frieden bietet. Daraus folgt, daß die menschliche Gemeinschaft auf den Dienst,
den die Familie leistet, nicht verzichten kann. Wo könnte der Mensch in der Phase
seiner Prägung besser lernen, die unverfälschte Atmosphäre des Friedens zu ge- nießen,
als im ursprünglichen ,,Nest’’, das die Natur ihm vorbereitet? Der familiäre Wortschatz
ist ein Wortschatz des Friedens; aus ihm muß man immer wieder schöpfen, um das
Vokabular des Friedens nicht zu verlernen. In der Inflation der Sprache darf die Gesellschaft
den Bezug zu jener ,,Grammatik’’ nicht verlieren, die jedes Kleinkind aus den Gesten
und Blicken von Mutter und Vater aufnimmt, noch bevor es sie aus ihren Worten erlernt. 4.
Da der Familie die Aufgabe der Erziehung ihrer Glieder zukommt, hat sie spezifische
Rechte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die eine Errungenschaft
einer Rechtskultur von wirklich universellem Wert darstellt, bestätigt: »Die Familie
ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch
Gesellschaft und Staat«.7 Der Heilige Stuhl hat seinerseits der Familie
eine besondere rechtliche Würde zuerkannt, indem er die Charta der Familienrechte
veröffentlichte. In der Präambel heißt es: »Die Rechte der Person haben, auch wenn
sie als Rechte des Individuums formuliert sind, eine grundlegende gesellschaftliche
Dimension, die in der Familie ihren ureigentlichen und vitalen Ausdruck findet«.8
Die in der Charta aufgestellten Rechte sind Ausdruck und deutliche Darlegung
des Naturrechtes, das ins Herz des Menschen eingeschrieben ist und ihm durch die Vernunft
offenbar wird. Die Leugnung oder auch Einschränkung der Rechte der Familien bedroht,
indem sie die Wahrheit über den Menschen verdunkelt, die Grundlagen des Friedens
selbst. 5. Wer die Einrichtung der Familie behindert — und sei es auch unbewußt
—, macht also den Frieden in der gesamten nationalen und internationalen Gemeinschaft
brüchig, denn er schwächt das, was tatsächlich die wichtigste ,,Agentur’’ des Friedens
ist. Dies ist ein Punkt, der einer besonderen Überlegung wert ist: Alles, was dazu
beiträgt, die auf die Ehe eines Mannes und einer Frau gegründete Familie zu schwächen,
was direkt oder indirekt die Bereitschaft der Familie zur verantwortungsbewußten Annahme
eines neuen Lebens lähmt, was ihr Recht, die erste Verantwortliche für die Erziehung
der Kinder zu sein, hintertreibt, stellt ein objektives Hindernis auf dem Weg des
Friedens dar. Die Familie braucht ein Heim, sie braucht die Arbeit bzw. die gerechte
Anerkennung der häuslichen Tätigkeit der Eltern, eine Schule für die Kinder und eine
medizinische Grundversorgung für alle. Wenn Gesellschaft und Politik sich nicht dafür
einsetzen, der Familie auf diesen Gebieten zu helfen, bringen sie sich um eine wesentliche
Quelle im Dienst des Friedens. Besonders die Massenmedien haben wegen der erzieherischen
Möglichkeiten, über die sie verfügen, eine spezielle Verantwortung, die Achtung der
Familie zu fördern, ihre Erwartungen und Rechte darzulegen und ihre Schönheit herauszustellen. Die
Menschheit ist eine große Familie 6. Auch die soziale Gemeinschaft muß sich,
um im Frieden zu leben, an den Werten orientieren, auf die sich die familiäre Gemeinschaft
stützt. Das gilt für die örtlichen wie für die nationalen Gemeinschaften; es gilt
sogar für die Völkergemeinschaft, für die Menschheitsfamilie, die in jenem gemeinsamen
Haus wohnt, das die Erde ist. Unter diesem Gesichtspunkt darf man jedoch nicht
vergessen, daß die Familie aus dem verantwortungsvollen und definitiven Ja eines Mannes
und einer Frau hervorgeht und von dem bewußten Ja der Kinder lebt, die nach und nach
dazukommen. Um zu gedeihen, braucht die familiäre Gemeinschaft das großherzige Einvernehmen
aller ihrer Glieder. Es ist nötig, daß dieses Bewußtsein auch zur gemeinsamen Überzeugung
aller wird, die berufen sind, die allgemeine Menschheitsfamilie zu bilden.
Man muß fähig sein, persönlich Ja zu dieser Berufung zu sagen, die Gott eigens in
unsere Natur eingeschrieben hat. Wir leben nicht zufällig nebeneinander; als Menschen
sind wir alle auf demselben Weg und darum gehen wir ihn als Brüder und Schwestern.
Deshalb ist es wesentlich, daß jeder sich bemüht, sein Leben in einer Haltung der
Verantwortlichkeit vor Gott zu leben, indem er in Ihm den Urquell der eigenen Existenz
wie auch jener der anderen erkennt. In der Rückbesinnung auf diesen höchsten Ursprung
können der unbedingte Wert eines jeden Menschen wahrgenommen und so die Voraussetzungen
für den Aufbau einer versöhnten Menschheit geschaffen werden. Ohne dieses transzendente
Fundament ist die Gesellschaft nur eine Ansammlung von Nachbarn, nicht eine Gemeinschaft
von Brüdern und Schwestern, die berufen sind, eine große Familie zu bilden. Familie,
menschliche Gemeinschaft und Umwelt 7. Die Familie braucht ein Heim, eine ihr
angemes- sene Umgebung, in der sie ihre Beziehungen knüpfen kann. Für die Menschheitsfamilie
ist dieses Heim die Erde, die Umwelt, die Gott, der Schöpfer, uns gegeben hat,
damit wir sie mit Kreativität und Verantwortung bewohnen. Wir müssen für die Umwelt
Sorge tragen: Sie ist dem Menschen anvertraut, damit er sie in verantwortlicher Freiheit
bewahrt und kultiviert, wobei sein Orientierungsmaßstab immer das Wohl aller sein
muß. Natürlich besitzt der Mensch einen Wertvorrang gegenüber der gesamten Schöpfung.
Die Umwelt zu schonen heißt nicht, die Natur oder die Tierwelt wichtiger einzustufen
als den Menschen. Es bedeutet vielmehr, sie nicht in egoistischer Weise als völlig
verfügbar für die eigenen Interessen anzusehen, denn auch die kommenden Generationen
haben das Recht, aus der Schöpfung Nutzen zu ziehen, indem sie ihr gegenüber dieselbe
verantwortliche Freiheit zum Ausdruck bringen, die wir für uns beanspruchen. Ebenso
dürfen die Armen nicht vergessen werden, die in vielen Fällen von der allgemeinen
Bestimmung der Güter der Schöpfung ausgeschlossen sind. Heute bangt die Menschheit
um das künftige ökologische Gleichgewicht. Es ist gut, diesbezügliche Einschätzungen
mit Bedachtsamkeit, im Dialog zwischen Experten und Gelehrten, ohne ideologische Beschleunigungen
auf übereilte Schlußfolgerungen hin vorzunehmen; vor allem sollte dabei ein annehmbares
Entwicklungsmodell gemeinsam vereinbart werden, das unter Beachtung des ökologischen
Gleichgewichts das Wohlergehen aller gewährleistet. Wenn der Umweltschutz mit Kosten
verbunden ist, müssen diese gerecht verteilt werden, indem man die Unterschiede in
der Entwicklung der verschiedenen Länder und die Solidarität mit den kommenden Generationen
berücksichtigt. Bedachtsamkeit bedeutet nicht, keine eigene Verantwortung zu übernehmen
und Entscheidungen aufzuschieben; es bedeutet vielmehr, es sich zur Pflicht zu machen,
nach verantwortungsbewußter Abwägung gemeinsam zu entscheiden, welcher Weg einzuschlagen
ist, mit dem Ziel, jenen Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der ein Spiegel
der Schöpferliebe Gottes sein soll — des Gottes, in dem wir unseren Ursprung haben
und zu dem wir unterwegs sind. 8. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang, die Erde
als ,,unser gemeinsames Haus’’ zu ,,empfinden’’ und für ihre Nutzung im Dienste aller
eher den Weg des Dialogs zu wählen als den der einseitigen Entscheidungen. Falls nötig,
können die institutionellen Stellen auf internationaler Ebene vermehrt werden, um
gemeinsam die Leitung dieses unseres ,,Hauses’’ in Angriff zu nehmen; noch mehr kommt
es jedoch darauf an, im allgemeinen Bewußtsein die Überzeugung reifen zu lassen, daß
eine verantwortliche Zusammenarbeit notwendig ist. Die Probleme, die sich am Horizont
abzeichnen, sind komplex, und die Zeit drängt. Um der Situation wirksam entgegenzutreten,
bedarf es der Übereinstimmung im Handeln. Ein Bereich, in dem es besonders notwendig
wäre, den Dialog zwischen den Nationen zu intensivieren, ist jener der Verwaltung
der Energiequellen des Planeten. Eine zweifache Dringlichkeit stellt sich diesbezüglich
den technisch fortgeschrittenen Ländern: Einerseits müssen die durch das aktuelle
Entwicklungsmodell bedingten hohen Konsum-Standards überdacht warden, und andererseits
ist für geeignete Investitionen zur Differenzierung der Energiequellen und für die
Verbesserung der Energienutzung zu sorgen. Die Schwellenländer haben Energiebedarf,
doch manchmal wird dieser Bedarf zum Schaden der armen Länder gedeckt, die wegen ihrer
auch technisch ungenügenden Infrastrukturen gezwungen sind, die in ihrem Besitz befindlichen
Energie-Ressourcen unter Preis zu verschleudern. Manchmal wird sogar ihre politische
Freiheit in Frage gestellt durch Formen von Protektorat oder zumindest von Abhängigkeiten,
die sich eindeutig als demütigend erweisen. Familie, menschliche Gemeinschaft
und Wirtschaft 9. Eine wesentliche Voraussetzung für den Frieden in den einzelnen
Familien ist, daß sie sich auf ein solides Fundament gemeinsam anerkannter geistiger
und ethischer Werte stützen. Dazu ist aber ergänzend zu bemerken, daß die Familie
eine echte Erfahrung von Frieden macht, wenn keinem das Nötige fehlt und das familiäre
Vermögen — die Frucht der Arbeit einiger, des Sparens anderer und der aktiven Zusammenarbeit
aller — gut verwaltet wird in Solidarität, ohne Unmäßigkeiten und ohne Verschwendungen.
Für den familiären Frieden ist also einerseits die Öffnung auf ein transzendentes
Erbe an Werten notwendig, andererseits aber ist es zugleich nicht bedeutungslos,
sowohl die materiellen Güter klug zu verwalten als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen
mit Umsicht zu pflegen. Eine Vernachlässigung dieses Aspektes hat zur Folge, daß aufgrund
der unsicheren Aussichten, welche die Zukunft der Familie bedrohen, das gegenseitige
Vertrauen Schaden nimmt. 10. Ähnliches ist über jene andere große Familie zu sagen,
welche die Menschheit im ganzen ist. Auch die Menschheitsfamilie, die heute durch
das Phänomen der Globalisierung noch enger vereint ist, braucht außer einem Fundament
an gemeinsam anerkannten Werten eine Wirtschaft, die wirklich den Erfordernissen eines
Allgemeinwohls in weltweiten Dimensionen gerecht wird. Die Bezugnahme auf die natürliche
Familie erweist sich auch unter diesem Gesichtspunkt als besonders aufschlußreich.
Zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern müssen korrekte und ehrliche
Beziehungen gefördert werden, die allen die Möglichkeit geben, auf einer Basis der
Parität und der Gerechtigkeit zusammenzuarbeiten. Zugleich muß man sich um eine
kluge Nutzung der Ressourcen und um eine gerechte Verteilung der Güter
bemühen. Im besonderen müssen die den armen Ländern gewährten Hilfen den Kriterien
einer gesunden wirtschaftlichen Logik entsprechen, indem Verschwendungen vermieden
werden, die letztlich vor allem der Erhaltung kostspieliger bürokratischer Apparate
dienen. Ebenfalls gebührend zu berücksichtigen ist der moralische Anspruch, dafür
zu sorgen, daß die wirtschaftliche Organisation nicht nur den strengen Gesetzen des
schnellen Profits entspricht, die sich als unmenschlich erweisen können. Familie,
menschliche Gemeinschaft und Sittengesetz 11. Eine Familie lebt im Frieden,
wenn alle ihre Glieder sich einer gemeinsamen Richtlinie unterwerfen: Diese
muß dem egoistischen Individualismus wehren und die einzelnen zusammenhalten, indem
sie ihre harmonische Koexistenz und ihren zielgerichteten Fleiß fördert. Das in sich
schlüssige Prinzip gilt auch für die größeren Gemeinschaften, von den lokalen
über die nationalen bis hin zur internationalen Gemeinschaft. Um Frieden zu haben,
bedarf es eines gemeinsamen Gesetzes, das der Freiheit hilft, wirklich sie selbst
zu sein und nicht blinde Willkür, und das den Schwachen vor Übergriffen des Stärkeren
schützt. In der Völkerfamilie ist viel willkürliches Verhalten zu verzeichnen, sowohl
innerhalb der einzelnen Staaten als auch in den Beziehungen der Staaten untereinander.
Dazu gibt es zahlreiche Situationen, in denen der Schwache sich nicht etwa den Erfordernissen
der Gerechtigkeit beugen muß, sondern der unverhohlenen Kraft dessen, der über mehr
Mittel verfügt als er. Es ist nötig, dies noch einmal zu bekräftigen: Die Macht muß
immer durch das Gesetz gezügelt werden, und das hat auch in den Beziehungen zwischen
souveränen Staaten zu geschehen. 12. Über die Natur und die Funktion des Gesetzes
hat die Kirche sich viele Male geäußert: Die Rechtsnorm, welche die Beziehungen
der Menschen untereinander regelt, indem sie das äußere Verhalten diszipliniert und
auch Strafen für die Übertreter vorsieht, hat als Kriterium das auf der Natur der
Dinge beruhende Sittengesetz. Dieses kann im übrigen — zumindest in seinen
Grundforderungen — von der menschlichen Vernunft eingesehen werden, die so auf die
schöpferische Vernunft Gottes zurückgeht, die am Anfang aller Dinge steht. Dieses
Sittengesetz muß die Gewissensentscheidungen regeln und das gesamte Verhalten der
Menschen leiten. Gibt es Rechtsnormen für die Beziehungen zwischen den Nationen, welche
die Menschheitsfamilie bilden? Und wenn es sie gibt, sind sie wirksam? Die Antwort
lautet: Ja, die Gesetze existieren, doch um zu erreichen, daß sie tatsächlich wirksam
werden, muß man auf das natürliche Sittengesetz als Basis der Rechtsnorm zurückgehen,
andernfalls ist diese anfälligen und provisorischen Übereinkommen überlassen. 13.
Die Erkenntnis des natürlichen Sittengesetzes ist dem Menschen nicht verwehrt, wenn
er in sich geht und angesichts seiner Bestimmung sich nach der inneren Logik der tiefsten
in seinem Wesen vorhandenen Neigungen fragt. Er kann, wenn auch unter Unschlüssigkeiten
und Unsicherheiten, dahin gelangen, dieses allgemeine Sittengesetz zumindest
in seinen wesentlichen Zügen zu entdecken — ein Gesetz, das jenseits der kulturellen
Unterschiede den Menschen ermöglicht, sich untereinander über die wichtigsten Aspekte
von gut und böse, von gerecht und ungerecht zu verständigen. Es ist unverzichtbar,
auf dieses fundamentale Gesetz zurückzugehen und für diese Suche unsere besten intellektuellen
Energien einzusetzen, ohne uns durch mangelnde Eindeutigkeit und Mißverständnisse
entmutigen zu lassen. Tatsächlich finden sich, wenn auch bruchstückhaft und nicht
immer kohärent, im Naturgesetz verwurzelte Werte in den internationalen Abkommen,
in den weltweit anerkannten Formen von Autorität und in den Grundsätzen des humanitären
Rechts, das in die Gesetzgebungen der einzelnen Staaten oder in die Statuten der internationalen
Organismen aufgenommen ist. Die Menschheit ist nicht ,,gesetzlos’’. Trotzdem
ist es dringlich, den Dialog über diese Themen fortzusetzen und dabei Bestrebungen
zu unterstützen, auch die Gesetzgebungen der einzelnen Staaten für eine Anerkennung
der fundamentalen Menschenrechte zu öffnen. Die Entwicklung der Rechtskultur in der
Welt hängt unter anderem von dem Einsatz ab, die internationalen Normen immer mit
einem zutiefst menschlichen Gehalt zu erfüllen, um so zu vermeiden, daß sie sich auf
Prozeduren beschränken, die egoistischen oder ideologischen Motiven zuliebe leicht
zu umgehen sind. Überwindung der Konflikte und Abrüstung 14. Die Menschheit
erlebt heute leider tiefe Spaltungen und starke Konflikte, die düstere Schatten
auf ihre Zukunft werfen. Weite Zonen des Planeten sind in wachsende Spannungen
verwickelt, während die Gefahr, daß immer mehr Länder in den Besitz von Nuklearwaffen
gelangen, in jedem verantwortungsbewußten Menschen begründete Besorgnis aufkommen
läßt. Auf dem afrikanischen Kontinent toben noch viele Bürgerkriege, obwohl dort nicht
wenige Länder in der Freiheit und in der Demokratie Fortschritte gemacht haben. Der
Mittlere Osten ist nach wie vor Schauplatz von Konflikten und Attentaten, die auch
angrenzende Nationen und Regionen beeinflussen und Gefahr laufen, sie in die Spirale
der Gewalt hineinzuziehen. Auf einer allgemeineren Ebene ist mit Betrübnis festzustellen,
daß die Anzahl der in den Rüstungswettlauf verwickelten Länder zunimmt: Sogar
Entwicklungsländer widmen einen bedeutenden Teil ihres mageren Bruttoinlandsprodukts
dem Kauf von Waffen. Die Verantwortlichkeiten für diesen verhängnisvollen Handel sind
vielfältig: Da sind die Länder der industrialisierten Welt, die aus dem Waffenverkauf
reichen Gewinn ziehen, und da sind die herrschenden Oligarchien in vielen armen Ländern,
die durch den Kauf immer höher entwickelter Waffen ihre Situation stärken wollen.
In solch schwierigen Zeiten ist wirklich die Mobilisierung aller Menschen guten Willens
notwendig, um zu konkreten Vereinbarungen im Hinblick auf eine wirkungsvolle Entmilitarisierung
vor allem im Bereich der Nuklearwaffen zu kommen. In dieser Phase, da der Prozeß
der nuklearen Nonproliferation nicht von der Stelle kommt, fühle ich mich verpflichtet,
die Autoritäten dazu aufzurufen, die Verhandlungen für eine fortschreitende und
vereinbarte Abrüstung der vorhandenen Nuklearwaffen mit festerer Entschlossenheit
wieder aufzunehmen. Indem ich diesen Appell erneuere, weiß ich, daß ich damit den
gemeinsamen Wunsch all derer zum Ausdruck bringe, denen die Zukunft der Menschheit
am Herzen liegt. 15. Sechzig Jahre sind vergangen, seit die Organisation der Vereinten
Nationen feierlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte veröffentlichte
(1948-2008). Mit diesem Dokument reagierte die Menschheitsfamilie auf die Schrecken
des Zweiten Weltkriegs, indem sie ihre auf der gleichen Würde aller Menschen beruhende
Einheit anerkannte und ins Zentrum des menschlichen Zusammenlebens die Achtung der
Grundrechte der einzelnen und der Völker stellte: Das war ein entscheidender Schritt
auf dem schwierigen und anspruchsvollen Weg zu Eintracht und Frieden. Eine besondere
Erwähnung verdient auch der 25. Jahrestag der Annahme der Charta der Familienrechte
durch den Heiligen Stuhl (1983-2008) sowie das 40jährige Jubiläum der Feier
des ersten Weltfriedenstags (1968- 2008). Diesen Tag zu begehen, war die Frucht
einer glücklichen Intuition Papst Pauls VI., die mein lieber, verehrter Vorgänger
Papst Johannes Paul II. mit großer Überzeugung aufgegriffen hat. Die Feier bot im
Laufe der Jahre die Möglichkeit, durch die für den Anlaß veröffentlichten Botschaften
eine erhellende Lehre der Kirche zugunsten dieses grundlegenden menschlichen Gutes
zu entwickeln. Gerade im Licht dieser bedeutenden Jahrestage lade ich jeden einzelnen
Menschen ein, sich der gemeinsamen Zugehörigkeit zu der einen Menschheitsfamilie noch
klarer bewußt zu werden und sich dafür einzusetzen, daß das Zusammenleben auf der
Erde immer mehr diese Überzeugung widerspiegelt, von der die Errichtung eines wahren
und dauerhaften Friedens abhängt. Zudem lade ich die Gläubigen ein, unermüdlich von
Gott das große Geschenk des Friedens zu erflehen. Die Christen ihrerseits wissen,
daß sie sich der Fürsprache Marias anvertrauen können. Sie, die Mutter des Sohnes
Gottes, der für das Heil der gesamten Menschheit Fleisch angenommen hat, ist Mutter
aller. Allen wünsche ich ein frohes Neues Jahr! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember
2007
1Erkl. Nostra aetate, 1. 2Vgl. Zweites
Vatikanisches Konzil, Past. Konst. Gaudium et spes, 48. 3Johannes
Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles laici, 40: AAS 81 (1989)
469. 4Ebd. 5Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und
Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr.211. 6Zweites
Vatikanisches Konzil, Dekret Apostolicam actuositatem, 11. 7Art.
16/3. 8Päpstlicher Rat für die Familie, Charta der Familienrechte,
24. November 1983, Präambel, A.