Im Volltext: Neues Dokument der Glaubenskongregation.
KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE: Antworten auf Fragen der Bischofskonferenz
der Vereinigten Staaten bezüglich der künstlichen Ernährung und Wasserversorgung.
1.
Frage: Ist die Ernährung und Wasserversorgung (ob auf natürlichen oder
künstlichen Wegen) eines Patienten im „vegetativen Zustand“ moralisch verpflichtend,
außer wenn Nahrung und Wasser vom Körper des Patienten nicht mehr aufgenommen oder
ihm nicht verabreicht werden können, ohne erhebliches physisches Unbehagen zu verursachen?
Antwort:
Ja. Die Verabreichung von Nahrung und Wasser, auch auf künstlichen Wegen, ist prinzipiell
ein gewöhnliches und verhältnismäßiges Mittel der Lebenserhaltung. Sie ist darum verpflichtend
in dem Maß, in dem und solange sie nachweislich ihre eigene Zielsetzung erreicht,
die in der Wasser- und Nahrungsversorgung des Patienten besteht. Auf diese Weise werden
Leiden und Tod durch Verhungern und Verdursten verhindert.
2. Frage: Falls
ein Patient im “anhaltenden vegetativen Zustand” auf künstlichen Wegen mit Nahrung
und Wasser versorgt wird, kann deren Verabreichung abgebrochen werden, wenn kompetente
Ärzte mit moralischer Gewissheit erklären, dass der Patient das Bewusstsein nie mehr
wiedererlangen wird? Antwort: Nein. Ein Patient im “anhaltenden
vegetativen Zustand” ist eine Person mit einer grundlegenden menschlichen Würde, der
man deshalb die gewöhnliche und verhältnismäßige Pflege schuldet, welche prinzipiell
die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch auf künstlichen Wegen, einschließt.
Papst Benedikt XVI. hat in der dem unterzeichneten Kardinalpräfekten gewährten
Audienz die vorliegenden Antworten, die in der Ordentlichen Versammlung dieser Kongregation
beschlossen worden sind, gutgeheißen und deren Veröffentlichung angeordnet. Rom,
am Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre, am 1. August 2007.
William
Kardinal Levada Präfekt
Angelo Amato, S.D.B. Titularerzbischof
von Sila Sekretär
KOMMENTAR
Die Kongregation
für die Glaubenslehre hat die Antwort auf zwei Fragen formuliert, der von Bischof
William S. Skylstad, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten
von Amerika, mit Schreiben vom 11. Juli 2005 vorlegt worden sind. Dabei geht es um
die künstliche Ernährung und Wasserversorgung von Patienten, die sich in einem sogenannten
„vegetativen Zustand“ befinden. Gegenstand der Fragen ist, ob die Ernährung und Wasserzufuhr,
vor allem wenn sie auf künstlichen Wegen erfolgen, nicht eine übermäßig schwere Belastung
für diese Patienten, für die Angehörigen und für das Gesundheitssystem darstellen,
so dass sie, auch im Licht der kirchlichen Morallehre, als außergewöhnliches oder
unverhältnismäßiges Mittel und damit als nicht moralisch verpflichtend betrachtet
werden könnten. Die Befürworter eines möglichen Verzichts auf die Ernährung und
Wasserversorgung dieser Patienten berufen sich häufig auf eine Ansprache, die Papst
Pius XII. anlässlich eines Anästhesiologenkongresses am 24. November 1957 gehalten
hat. Darin bekräftigte der Papst zwei allgemeine ethische Prinzipien: Auf der einen
Seite lehren uns die natürliche Vernunft und die christliche Moral, dass bei schwerer
Krankheit der Patient und jene, die für ihn sorgen, das Recht und die Pflicht haben,
die für die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens notwendige Pflege zu leisten.
Auf der anderen Seite beinhaltet diese Pflicht gewöhnlich nur die Anwendung der Mittel,
die unter Berücksichtung aller Umstände als gewöhnlich betrachtet werden, die also
für den Patienten und für die anderen keine außergewöhnliche Belastung mit sich bringen.
Eine strengere Verpflichtung wäre für die Mehrzahl der Menschen zu schwer und würde
die Erlangung wichtiger höherer Güter zu sehr erschweren. Das Leben, die Gesundheit
und alle irdischen Tätigkeiten sind den geistlichen Zielen untergeordnet. Natürlich
ist damit nicht verboten, mehr für die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit zu
tun, als streng verpflichtend ist, vorausgesetzt, dass dadurch keine wichtigeren Pflichten
versäumt werden. Man muss zunächst anmerken, dass sich die Antworten von Pius
XII. auf den Gebrauch und Abbruch der Wiederbelebungstechniken beziehen. Die hier
untersuchte Frage hat aber nichts mit solchen Techniken zu tun. Patienten im „vegetativen
Zustand“ atmen spontan, verdauen Nahrungsmittel auf natürliche Weise, verrichten andere
Stoffwechselfunktionen und befinden sich in einem stabilen Zustand. Sie können sich
jedoch nicht allein ernähren. Wenn ihnen Nahrung und Flüssigkeit nicht künstlich verabreicht
werden, sterben sie. Und die Ursache für ihren Tod ist dann nicht eine Krankheit oder
der „vegetative Zustand“, sondern einzig das Verhungern und Verdursten. Die künstliche
Wasser- und Nahrungsversorgung bringt zudem gewöhnlich weder für den Patienten noch
für die Angehörigen eine schwere Belastung mit sich. Sie ist nicht mit übermäßigen
Kosten verbunden, sie steht jedem durchschnittlichen Gesundheitssystem zur Verfügung,
sie erfordert an sich keinen Krankenhausaufenthalt, sie steht im Verhältnis zur Erreichung
ihres Ziels, nämlich das Sterben des Patienten durch Verhungern und Verdursten zu
verhindern. Sie ist keine Therapie, die zur Heilung führt, und will es auch nicht
sein, sie ist nur eine gewöhnlichen Pflege zur Erhaltung des Lebens. Was hingegen
eine erhebliche Belastung darstellen kann, ist die Sorge für einen Angehörigen im
„vegetativen Zustand“, wenn dieser Zustand länger andauert. Eine derartige Belastung
entspricht etwa der Sorge um einen Menschen, dessen vier Gliedmaßen gelähmt sind,
der schwer geisteskrank ist oder der an einer vorangeschrittenen Alzheimer-Krankheit
leidet. Solche Menschen brauchen eine ständige Betreuung, die Monate oder sogar Jahre
lang dauern kann. Der von Pius XII. formulierte Grundsatz kann aus offenkundigen Gründen
aber nicht dahingehend interpretiert werden, dass es erlaubt sei, solche Patienten,
deren gewöhnliche Pflege für ihre Familie eine erhebliche Belastung mit sich bringt,
sich selbst zu überlassen und damit sterben zu lassen. Dies meinte Pius XII. nicht,
als er von außergewöhnlichen Mitteln sprach. Alles weist darauf hin, dass bei
Patienten im „vegetativen Zustand“ der erste Teil des von Pius XII. formulierten Grundsatzes
zur Anwendung kommt: Bei schwerer Krankheit besteht das Recht und die Pflicht, die
für die Erhaltung der Gesundheit und des Lebens notwendige Pflege zu leisten. Die
Entwicklung des Lehramts der Kirche, die aus der Nähe die Fortschritte der Medizin
und die sich ergebenden Zweifel verfolgt hat, bekräftigt dies voll. Die Erklärung
zur Euthanasie, die von der Kongregation für die Glaubenslehre am 5. Mai 1980 veröffentlicht
wurde, legte dar, dass zwischen verhältnismäßigen und unverhältnismäßigen Mitteln
sowie zwischen therapeutischen Maßnahmen und normaler dem Kranken geschuldeter Pflege
zu unterscheiden ist: „Wenn der Tod trotz der angewandten Mittel unausweichlich näher
kommt, ist es erlaubt, im Gewissen die Entscheidung zu treffen, auf Therapien zu verzichten,
die nur eine kurze und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken würden, ohne
jedoch die normale Pflege zu unterlassen, die man in solchen Fällen dem Kranken schuldet“
(Teil IV). Noch weniger darf man die gewöhnliche Pflege von Patienten unterlassen,
die sich nicht in unmittelbarer Todesgefahr befinden, wie es gewöhnlich bei jenen
der Fall ist, die sich im „vegetativen Zustand“ befinden und für die der Abbruch der
gewöhnlichen Pflege nichts anderes als den Tod bewirken würde. Am 27. Juni 1981
veröffentlichte der Päpstliche Rat Cor Unum ein Dokument mit dem Titel Ethische Fragen
bezüglich der Schwerkranken und Sterbenden, in dem es unter anderem heißt: „Streng
verpflichtend bleibt hingegen auf jeden Fall die Anwendung der sogenannten ‚minimalen’
Mittel, also jener Mittel, die normalerweise und unter gewöhnlichen Umständen der
Erhaltung des Lebens dienen (Ernährung, Bluttransfusionen, Injektionen, usw.). Der
Abbruch dieser Mittel würde praktisch bedeuten, dem Leben des Patienten ein Ende bereiten
zu wollen“ (Nr. 2.4.4). In einer Ansprache an die Teilnehmer eines internationalen
Kurses über neue Erkenntnisse in der Leukämie-Frühdiagnose am 15. November 1985 rief
Papst Johannes Paul II. die Erklärung zur Euthanasie in Erinnerung und bekräftigte
klar, dass man kraft des Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Pflegemaßnahmen weder
„von wirksamen therapeutischen Maßnahmen zur Lebenserhaltung noch von der Anwendung
der normalen Mittel zur Lebenserhaltung“ dispensieren kann, zu denen mit Sicherheit
die Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit gehören. Nicht erlaubt sind gemäß den
Ausführungen des Papstes jene Unterlassungen, die darauf abzielen, „das Leben zu verkürzen,
um dem Patienten oder den Angehörigen Leiden zu ersparen“. 1995 wurde vom Päpstlichen
Rat für die Pastoral im Krankendienst die Charta für die im Gesundheitsdienst tätigen
Personen veröffentlicht. In der Nr. 120 wird dort ausdrücklich gesagt: „Die Versorgung
mit Nahrung und Flüssigkeit gehört, auch wenn sie künstlich erfolgt, zur normalen
Pflege, die man dem Kranken immer schuldet, solange sie sich nicht als unerträglich
für ihn erweist. Ihre unrechtmäßige Aussetzung kann tatsächlich eine Euthanasie bedeuten“.
Ganz
deutlich ist die Ansprache von Johannes Paul II. an eine Gruppe von Bischöfen aus
den Vereinigten Staaten von Amerika anlässlich ihres Ad-limina-Besuches am 2. Oktober
1998: Ernährung und Flüssigkeitszufuhr werden als normale Pflegemaßnahmen und gewöhnliche
Mittel zur Lebenserhaltung betrachtet. Es ist nicht annehmbar, sie abzubrechen oder
nicht zu verabreichen, wenn diese Entscheidung den Tod des Patienten zur Folge hat.
Wir stünden dann vor einer Euthanasie durch Unterlassung (vgl. Nr. 4). In der Ansprache
vom 20. März 2004 an die Teilnehmer des Internationalen Fachkongresses zum Thema „Lebenserhaltende
Behandlungen und vegetativer Zustand: Wissenschaftliche Fortschritte und ethische
Dilemmas“ bekräftigte Johannes Paul II. in sehr klaren Worten die Linie der genannten
Dokumente und bot auch eine entsprechende Interpretation. Der Papst unterstrich folgende
Punkte: 1) „Für jene, deren ‚vegetativer Zustand’ mehr als ein Jahr andauert, wurde
der Ausdruck anhaltender vegetativer Zustand geprägt. In Wirklichkeit entspricht dieser
Definition keine andere Diagnose, sondern nur eine konventionelle Prognose in Bezug
auf die Tatsache, dass die Besserung des Patienten – statistisch gesehen – immer schwieriger
wird, je länger der vegetative Zustand andauert“ (Nr. 2). 2) Gegenüber jenen, die
das Menschsein der Patienten im „anhaltenden vegetativen Zustand“ in Zweifel ziehen,
ist zu bekräftigen, „dass der jedem Menschen innewohnende Wert und seine personale
Würde sich nicht verändern, was immer auch seine konkreten Lebensumstände sein mögen.
Ein Mensch ist und bleibt immer ein Mensch und wird nie zur Pflanze oder zum Tier,
selbst wenn er schwerkrank oder in der Ausübung seiner höheren Funktionen behindert
ist“ (Nr. 3). 3) „Der Kranke im vegetativen Zustand hat also in Erwartung der Genesung
oder des natürlichen Endes das Recht auf eine ärztliche Grundbetreuung (Ernährung,
Wasserzufuhr, Hygiene, Erwärmung, usw.) und auf die Vorsorge gegen Komplikationen,
die mit der Bettlägerigkeit verbunden sind. Er hat auch das Recht auf eine gezielte
Rehabilitationsmaßnahme und auf die Überwachung der klinischen Zeichen einer eventuellen
Besserung. Insbesondere möchte ich unterstreichen, dass die Verabreichung von Wasser
und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen Wegen erfolgt, immer ein natürliches Mittel
der Lebenserhaltung und keine medizinische Behandlung ist. Ihre Anwendung ist deshalb
prinzipiell als gewöhnlich und verhältnismäßig und damit als moralisch verpflichtend
zu betrachten, und zwar in dem Maß, in dem und solange sie nachweislich ihre eigene
Zielsetzung erreicht, die im vorliegenden Fall darin besteht, dem Patienten Nahrung
und Schmerzlinderung zu verschaffen“ (Nr. 4). 4) Die vorausgehenden Dokumente
wurden aufgegriffen und im genannten Sinn interpretiert: „Denn die Pflicht, die normale
Pflege, die man in solchen Fällen dem Kranken schuldet, nicht vorzuenthalten (Kongregation
für die Glaubenslehre, Erklärung zur Euthanasie, Teil IV), umfasst auch die Versorgung
mit Nahrung und Wasser (vgl. Päpstlicher Rat Cor Unum, Ethische Fragen bezüglich der
Schwerkranken und Sterbenden, Nr. 2.4.4; Päpstlicher Rat für die Pastoral im Krankendienst,
Charta für die im Gesundheitsdienst tätigen Personen, Nr. 120). Eine Wahrscheinlichkeitsrechnung,
die auf den geringen Hoffnungen auf Besserung gründet, wenn der vegetative Zustand
mehr als ein Jahr andauert, kann ethisch die Aussetzung oder Unterbrechung der minimalen
Pflege des Patienten, die Ernährung und Wasserzufuhr einschließt, nicht rechtfertigen.
Denn eine solche Unterbrechung würde einzig und allein den Tod durch Verhungern und
Verdursten herbeiführen. In diesem Sinn würde sie letztlich, wenn bewusst und absichtlich
herbeigeführt, zu einer wahren und eigentlichen Euthanasie durch Unterlassung“ (Nr.
4). Die Antworten, welche die Kongregation für die Glaubenslehre nun vorlegt,
liegen auf der Linie der eben angeführten Dokumente des Heiligen Stuhls, besonders
der Ansprache von Johannes Paul II. vom 20. März 2004. Sie beinhalten zwei grundlegende
Aussagen: Zum einen wird bekräftigt, dass die Verabreichung von Wasser und Nahrung,
auch auf künstlichen Wegen, prinzipiell ein gewöhnliches und verhältnismäßiges Mittel
der Lebenserhaltung für Patienten im „vegetativen Zustand“ ist: „Sie ist darum verpflichtend
in dem Maß, in dem sie und solange sie nachweislich ihre eigene Zielsetzung erreicht,
die in der Wasser- und Nahrungsversorgung des Patienten besteht“. Zum anderen wird
klargestellt, dass dieses gewöhnliche Mittel der Lebenserhaltung auch jenen geschuldet
ist, die sich im „anhaltenden vegetativen Zustand“ befinden, weil es sich um Personen
mit einer grundlegenden menschlichen Würde handelt. Wenn die Kongregation für
die Glaubenslehre bekräftigt, dass die Verabreichung von Nahrung und Wasser prinzipiell
moralisch verpflichtend ist, schließt sie nicht aus, dass die künstliche Ernährung
und Wasserzufuhr in sehr abgelegenen oder extrem armen Regionen physisch unmöglich
sein kann. Dann gilt der Grundsatz: Ad impossibilia nemo tenetur (Niemand ist zum
Unmöglichen verpflichtet). In solchen Fällen bleibt jedoch die Verpflichtung, die
zur Verfügung stehende minimale Pflege anzubieten und nach Möglichkeit die notwendigen
Mittel für eine angemessene Lebenserhaltung zu besorgen. Die Kongregation schließt
auch nicht aus, dass es zusätzliche Komplikationen geben kann, die dazu führen, dass
der Patient Nahrung und Flüssigkeit nicht mehr aufnehmen kann, dann wird ihre Verabreichung
vollkommen unnütz. Schließlich wird nicht ganz ausgeschlossen, dass die künstliche
Ernährung und Wasserversorgung in gewissen seltenen Fällen für den Patienten eine
übermäßige Belastung oder ein erhebliches physisches Unbehagen, etwa aufgrund von
Komplikationen beim Gebrauch der Hilfsinstrumente, mit sich bringen kann. Diese
außergewöhnlichen Fälle beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das allgemeine ethische
Prinzip, gemäß dem die Verabreichung von Wasser und Nahrung, auch wenn sie auf künstlichen
Wegen erfolgt, immer ein natürliches Mittel der Lebenserhaltung und nicht eine therapeutische
Behandlung darstellt. Ihre Anwendung ist deshalb als gewöhnlich und verhältnismäßig
zu betrachten, auch wenn der „vegetative Zustand“ andauert.