Straßenkinder. Es
gibt sie – auch in einem Industrieland wie Deutschland. Sie übernachten auf Parkbänken
oder in Notunterkünften, essen in Armenküchen und verbringen den Tag bei Wind und
Wetter im Freien.
Julia Hermann berichtet
Bis zu 2500 Kinder und Jugendliche
ab 12 Jahre geraten in Deutschland jährlich auf die Straße. Etwa dreihundert bleiben
dort hängen. Markus Seidel ist Leiter der deutschlandweiten Hilfseinrichtung „Off
Road Kids“ und arbeitet mit Straßenkindern.
„Es gibt alle Varianten, die die
Kinder in Deutschland dazu veranlassen, ihr Zuhause zu verlassen, sofern man das noch
Zuhause nennen kann. Es ist dann so, dass diese Jugendlichen versuchen auf der Straße
zu überleben, mit Bettelei, mit Prostitution, dann und wann mit Kleindiebstahl und
eigentlich vorhatten ihr Leben in den Griff zu bekommen, selbst ihr Leben in die Hand
zu nehmen, etwas zu unternehmen, dass ihr Leben besser wird, aber dann jämmerlich
auf der Straße scheitern, ohne Hilfe.“
Aber warum fängt das soziale Netz in
Deutschland die Kinder nicht auf? Das scheitert oftmals an Zuständigkeitsproblemen.
„Die Jugendhilfe ist kommunal finanziert und organisiert. Ein Kind, dass aus
einer kleinen Stadt abhaut in eine Großstadt, findet in der Großstadt kein Jugendamt,
das dann wirklich für dieses Kind zuständig ist. Was passiert ist folgendes, die Jugendämter,
die zuständig sind, am Wohnort der Mutter, haben keinen Zugriff auf den Jugendlichen,
können also auch nicht helfen.“
Straßenkinder in Deutschland stammen aus allen
gesellschaftlichen Schichten. Es handelt sich fast ausnahmslos um Deutsche. Die meisten
Straßenkinder stammen nicht aus den Großstädten, in denen sie sich aufhalten. In Metropolen
wie Köln oder Berlin nutzen sie die Anonymität, um nicht entdeckt zu werden. Allerdings
bringt das Leben in der Großstadt viele Risiken mit sich.
„Man muss sich
vorstellen, man kommt als Jugendlicher auf die Straße, denkt eigentlich, dass das
Leben jetzt besser wird und muss dann erkennen, dass es der Kampf ums nackte Überleben
ist auf der Straße. Da ist Verzweiflung ganz nahe und Alkohol und Drogen sind auf
der Straße immer ein Thema. Hinzukommt, dass die Jugendlichen keinerlei Ahnung von
Humanbiologie haben. Also solchen Krankheitserregern wie AIDS dem HIV-Virus und vor
Allem Hepatitis C sind sie völlig ausgesetzt ohne über die Risiken bescheid zu wissen.“
Ein großes Problem sieht Seidel in der steigende Zahl junger Männer auf der
Straße. Die über 18-jährigen werden nicht mehr vom Jugendamt betreut.
„Die
fallen im Augenblick durch alle Raster in Deutschland. Diese ganzen Harz-Gesetze greifen
da überhaupt nicht, im Gegenteil, verhindern teilweise sogar, dass die Jungs wieder
von der Straße wegkommen.“
Der Sprecher von „Off Road Kids“ fordert eine Umstrukturierung
der Verantwortlichkeiten.
„Wir müssen die Finanzierung der lokal finanzierten
Jugendämter auf Bundesebene gleichartig gestalten. So passiert dann nicht mehr, dass
je nach Reichtum oder Armut, Geiz oder Großzügigkeit eines Landkreises Jugendhilfe
großzügiger oder weniger großzügig gegeben wird.“