Vatikan: Martino, „es gibt ein Recht auf Entwicklung“
Kommende Woche tagen in Heiligendamm die G-8-Staaten. Hohe Erwartungen gibt es weltweit,
auch und gerade seitens der Kirchen. Zu den Erwartungen des Vatikans an den Gipfel
hat die Katholische Nachrichtenagentur Kardinal Renato Raffaele Martino befragt. Er
ist als Präsident des Päpstlichen Rats „Justitia et Pax“ für Entwicklungspolitik und
Menschenrechte zuständig. Mit diesen Themen vertrat der aus Süditalien stammende 74-jährige
Kirchenjurist und Diplomat die katholische Kirche zuvor bei verschiedenen internationalen
Konferenzen. Von 1986 bis 2002 war er Ständiger Beobachter des Heiligen Stuhls bei
den Vereinten Nationen in New York. Er sagt: „Die G-8 haben eine größere Verantwortung
als andere politische Gruppen. Als entwickelten Ländern fällt ihnen eine starke Führungsrolle
zu. Wir erwarten viel: Dank des Engagements, das Bundeskanzlerin Merkel bekundet hat,
rechnen wir mit einem verbindlicheren und stärkeren Einsatz für Afrika. Auch auf dem
Feld des Klimawandels muss Europa aktiv werden.“ Schließt die Globalisierung
also auch ethische Forderungen ein? „Dazu hat sich schon Johannes Paul II. grundlegend
geäußert. Was er und ebenso Benedikt XVI. wünschen, ist eine Globalisierung der Solidarität.
Solidarität ist nicht bloße gute Absicht oder ein Gefühl von Mitleid, sondern solide,
konkrete Hilfe, besonders für die sich entwickelnden Länder. Diese müssen in die Lage
versetzt werden, Protagonisten ihrer eigenen Entwicklung zu sein.“ Deshalb
gibt es ein Recht auf Hilfsleistungen? „Es gibt ein Recht auf Entwicklung, das
jede Person hat. Was das im Einzelnen umfasst, muss man klären. Aber offensichtlich
gibt es eine Verantwortlichkeit nicht nur der Betroffenen, sondern auch
derjenigen, von denen die Hilfe abhängt.“ Welche Forderungen richten Sie an
die reichen Länder? „Der Papst hat Frau Merkel schon um einen Schuldenerlass
für die armen Länder gebeten. Dieser Erlass muss so organisiert werden, dass es kein
Almosen ist, sondern eine strukturierte, effektive Maßnahme, die dem Aufbau der betreffenden
Länder dient. Und wie viele Menschen haben nichts zu essen! Fast eine Milliarde weltweit
lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vor 34 Jahren haben sich Industrienationen dazu verpflichtet,
0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe aufzuwenden. Nur
fünf Länder haben es geschafft. Einige bleiben bei rund 0,2 Prozent, andere liegen
auch darüber. Wenn nur die reichen Nationen ihre Abgabe von 0,7 Prozent einhalten
würden, ließen sich eine Menge Probleme in den Entwicklungsländern lösen.“ Die
Medien liefern fast täglich Elendsbilder. Bewirkt das eine Sensibilisierung für das
Leiden anderer, oder löst das eher eine kollektive Verdrängung aus? „Ja, es
gibt eine ,poverty fatigue’, eine Armutsmüdigkeit. Die Leute sind es leid, sie wollen
nichts vom Elend der anderen hören. Diese Versuchung gilt es zu überwinden. Denn die
Not ist real und verlangt dringend eine Antwort.“ Wie kann die katholische
Kirche auf internationaler politischer Ebene handeln? „Die Kirche hat keine
harten Instrumente. Sie kann nicht sagen: ,Mach das, andernfalls passiert dies und
jenes.’ Das hat sie nie getan und kann sie nicht tun, weil sie weder über Armeen noch
über politische oder finanzielle Mittel zur Durchsetzung verfügt. Die Kirche hat nur
die Macht der Vernunft und der Moral, um andere zu überzeugen. Ich war 16 Jahre als
Vertreter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen, und wenn ich dabei einige
Erfolge hatte, war das genau wegen der Kraft der Überzeugung.“ Die Fragen stellte
Burkard Jürgens. Wir dokumentieren im Audiofile das Interview in einer eigenen Fassung. (kna
01.06.2007 bp)