Mehr als eine Million
Menschen haben gestern in Istanbul gegen eine „schleichende Islamisierung“ der Türkei
demonstriert. Anlass ist die Nominierung von Abdullah Gül zum Präsidentschaftskandidaten.
Er gehört zur islamistischen Partei AKP des Regierungschefs Tayyip Erdogan. Die
Demonstranten fürchten um die strikte Trennung von Religion und Staat, die in der
türkischen Verfassung verankert ist. Wir haben mit dem in Ankara lebenden Jesuiten
Felix Körner gesprochen. Grundproblem ist seiner Einschätzung nach, dass das kemalistische
Lager auf der einen Seite und das islamistische auf der anderen nicht miteinander
reden und die Situation polarisieren. Was wäre ein Ausweg? Felix Körner:
„Die
Hoffnung und im Grunde auch der einzige Weg für eine friedliche Zukunft der Türkei
ist, dass diese beiden Pole lernen, miteinander zu reden und zu sagen, weder ein radikal-kemalistisch
kontrollierender Staat, wie ihn auch das Militär vertritt, noch ein islamistisch Scharia-orientierter
Staat ist wirklich das, was man unter einer freien authentischen Türkei verstehen
kann. Also: das Interesse, Ernst bekunden, eine Türkei miteinander zu gestalten, ist
die Chance, die im Moment die beiden Parteien nicht wahrnehmen, aber die einzige Chance,
die die Türkei hat.“
Die Nervosität steigt in der Türkei, so Körner:
„Die
christliche Minderheit im Land ist im Augenblick, das heißt in den letzten Wochen
in großer Sorge. Dieses Gemenge aus einer nationalistischen Denkweise für die Türkei
und einer islamistischen Denkweise für die Türkei ist für uns, für alle Christen in
der Türkei, zurzeit schwierig. Es schlägt den Christen ein Hass entgegen, der gewaltbereit
ist. Da wird die Nervosität, die nun durch die Demonstrationen verstärkt wird, uns
auch weiter zu schaffen machen.“
Der türkische Ministerpräsident Tayyip
Erdogan hat für heute Abend eine Rede an die Nation angekündigt. Außerdem nahm heute
das Verfassungsgericht die Beratungen über einen Antrag der Opposition auf, die Wahl
auszusetzen. Sollten die Richter dem Einspruch stattgeben, wird mit vorgezogenen Parlamentswahlen
gerechnet. Das Urteil soll bis Mittwoch fallen, wenn der zweite Wahlgang im Parlament
angesetzt ist. Eine Entscheidung des Parlaments wird aber nicht vor dem dritten Wahlgang
am 9. Mai erwartet, in dem die einfache Mehrheit der AKP für eine Wahl Güls ausreichen
würde. (rv 30.04.2007 mc)