Eine alte Tradition: "Wachdienst" in römischen Kirchen
Die Fastenzeit ist auch in Rom etwas Besonderes. Wer sich in diesen Tagen in der Ewigen
Stadt aufhält, der kann dort einen liturgischen Brauch kennen lernen, der in die ersten
Jahrhunderte des Christentums zurückreicht: die so genannte Missa stationalis, zu
deutsch: den Stationsgottesdienst. Hören Sie dazu Stefan Kempis.
Ein Zeitsprung
zurück: Wir sind in Rom, in den ersten Anfängen des Christentums. Es sind die Jahre,
in denen die junge Gemeinde gerade aus dem Untergrund aufgetaucht ist, in dem die
ersten Kirchen und Basiliken entstehen. Da entwickelt sich eine Tradition, die sich
an bestimmte Gotteshäuser heftet: Christen treffen sich dort zum Gebet und anschließend
zu einer feierlichen Prozession, zu der sie die Allerheiligenlitanei singen. „Statio“
heissen diese Zusammenkünfte – ein Wort aus der römischen Soldatensprache. Ein Hinweis
auch darauf, dass unter den ersten Christen viele Militärs sind. Sie kommen eventuell
vom Palatin, wo sie die Paläste der römischen Cäsaren bewachen – dort findet sich
heute noch eine Kritzelei, die Soldaten beim Wachdienst in Stein geritzt haben, die
Verhöhnung eines christlichen Soldaten durch seine Kameraden; der Gekreuzigte, den
ein Legionär anbetet, trägt in der Zeichnung einen Eselskopf, und doch – es ist vielleicht
die älteste Kreuzdarstellung überhaupt. Statio bedeutet nun nichts anderes als
Wachtposten oder Wache. So wie der Wachtdienst im Heer damals an einen festen Ort
gebunden ist und strengen Regeln unterworfen ist, so sind die entstehenden Stations-Gottesdienste
eine Art Wachtdienst der Kirche. Die junge christliche Gemeinde hält Wache – sie lässt
alle weltlichen Sorgen und Beschäftigungen hinter sich, um sich ganz der Betrachtung
der göttlichen Geheimnisse zu widmen. Der Kirchenschriftsteller Tertullian weiß
um die Herkunft der Stationsgottesdienste – eine Streitschar Gottes seien die Christen,
so schreibt er, und darum nennen sie ihre Gottesdienste nach soldatischem Sprachgebrauch
Statio, also Wachdienst. Die Prozession mit der Allerheiligenlitanei wäre aus dieser
Perspektive eine Art Patrouillengang… Das Militärische findet in diesen Jahren sogar
Eingang in die Gebetsformulierungen der Stationsgottesdienste selbst. Als „Umzug der
christlichen Miliz“, „militiae christianae“, wird die erste Station in den Tages-Orationen
des römischen Missale bezeichnet. Diese erste Station ist bis heute die bekannteste:
Es ist der Zug des Papstes am Aschermittwoch zur römischen Basilika Santa Sabina auf
dem Aventin-Hügel. Der Papst als eine Art Feldherr, der seine Truppen zu Christus
führt… Das Bild ist für diese frühen Jahrzehnte des römischen Christentums gar nicht
so falsch. Denn dadurch, dass in dieser Zeit die Zahl der Kirchengebäude in der Ewigen
Stadt explosionsartig ansteigt und damit die Zahl der Gottesdienste, geht ein gewisses
einigendes Band verloren, eine gewisse Disziplin. Die Wachdienste zu bestimmten Zeiten
in bestimmten Kirchen bilden angesichts dieser Zerfaserung ein einigendes Band für
die römische Christenschar, das sie zusammenbindet. Und dann kommt das Pontifikat
Gregors des Großen, des Römers, der dem kirchlichen Leben in den Jahren 590 bis 604
eine neue Ordnung gibt. Der Papst, den viele Darstellungen bis heute mit einem Heiligen
Geist zusammen abbilden, der ihm in Gestalt einer Taube Dinge ins Ohr flüstert, sorgt
für eine einheitliche Regelung der „Stationes“; er setzt ihre Zahl fest und bestimmt,
in welchen Kirchen die Gläubigen wann zusammenkommen sollen. Als er die Liturgie der
Stationsgottesdienste ausbaut, lässt er sich von den einzelnen Heiligen und Märtyrern
inspirieren, die in den Stations-Kirchen begraben sind. Bis heute prägt die Erinnerung
an diese Heiligen die Stationsgottesdienste. Ein altes römisches Messbuch, das sich
aus dieser Zeit erhalten hat, zeigt uns, dass Gregor der Große in der Fastenzeit und
der Osteroktav insgesamt 101 Stationsgottesdienste erlaubte; die Gotteshäuser hingegen,
die zu Stationskirchen erklärt wurden, waren 45. Die Wirren des frühen Mittelalters
in Rom, endgültig aber der Abgang der Papst ins Babylonische Exil von Avignon führen
praktisch zum Ende der Stationsgottesdienste. Die Tradition reißt ab, wird nur punktuell
noch einmal aufgegriffen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts aber ist es Sixtus V., der
nicht nur die Obelisken des alten Rom überall wieder aufrichtet, u.a. auf dem Petersplatz,
sondern der zumindest die erste Statio, die Prozession nach Santa Sabina, wieder einführt.
Ein Zeitgenosse berichtet: „Seine Heiligkeit, von der Erwägung ausgehend, dass die
früheren Päpste persönlich nach der Stationskirche zu ziehen und dort das Hochamt
zu singen pflegten, hat beschlossen, jedes Jahr am ersten Tag der Fastenzeit nach
Santa Sabina zu ziehen… Er hat darüber eine besondere Bulle erlassen.“ Leider schläft
diese Tradition aber im 18. Jahrhundert wieder ein; die Päpste feiern den Aschermittwochsgottesdienst
in ihrer eigenen Kapelle. Die letzte Renaissance der Stationsgottesdienste hat
dann den seligen Papst Johannes XXIII. zum Paten. Es ist für die Medien eine Überraschung,
als sich der Roncalli-Papst am Aschermittwoch 1959 zum Aventin begibt und dort den
Stationsgottesdienst feiert. Das große Medienecho hilft dabei mit, die alte Tradition
neu ins Bewußtsein zu rufen – bis heute. Und auch Benedikt XVI. ist in den ersten
zwei Jahren seines Pontifikats zu Fuß über den Aventin gezogen, um in Santa Basilika
den ersten Stationsgottesdienst zu halten….