Der Lumpensammler des lieben Gottes - Penner und Huren erzählten ihm von Gott. In
memoriam Abbé Pierre (+ 22. 1. 2007). Von Christian Feldmann
Im Winter
1953/54 treibt ein gnadenloser Frosteinbruch die Obdachlosen von Paris aus ihren Schlupfwinkeln.
Zu Hunderten kauern sie bei zwölf Grad unter Null auf den Luftschächten der Metros
und vor den Schaufenstern, um ein wenig Wärme zu erhaschen. Manche in teure Pelze
verpackte Bürger rümpfen die Nase über die vermeintlichen arbeitsscheuen Streuner
und Trunkenbolde. Viele wollen aber auch helfen. Sie wissen: Die meisten der halbverhungert
auf der Straße Lebenden sind ganz normale junge Menschen auf der verzweifelten Suche
nach Arbeit und Obdach. Denn Frankreich leidet auch noch zehn Jahre nach Kriegsende
unter einer drückenden Wohnungsnot. Es gibt zu wenige, und die vorhandenen kann ein
kleiner Arbeiter mit 18 000 Francs Monatslohn kaum bezahlen. Wohnungs-baudarlehen
gibt es nur für Leute, die bereits ein Grundstück besitzen und mindestens 300 000
Francs Barvermögen nachweisen können. Die Emmaus-Bewegung des ehemaligen Parlamentsabgeordneten
Henri Grouès - besser bekannt unter dem Namen Abbé Pierre - organisiert Notdienste
für die Obdachlosen. Nachts bringt ein Lastwagen Suppe, Brot, Wein und Wolldecken.
Als schließlich ein drei Monate altes Baby in dem Omnibuswrack erfriert, das seinen
Eltern die Wohnung ersetzt, als eine wegen Mietschulden aus ihrer Mansarde vertriebene
Frau mitten in Paris auf der Straße stirbt, da platzt dem Abbé der Kragen. Er
verfaßt einen flammenden Aufruf und bringt den Direktor von Radio Luxemburg dazu,
das Programm zu unterbrechen und ihn zur Nation sprechen zu lassen, ein wenig pathetisch,
wie damals üblich: „Zu Hilfe, meine Freunde! Heute nacht um drei Uhr ist auf dem
Boulevard Sébastopol eine Frau gestorben; sie hatte nur ein einziges Papier bei sich,
den ihr vorgestern zugestellten Räumungsbefehl. Jede Nacht kauern so wie sie über
zweitausend Menschen im strengen Frost auf der Straße, ohne ein Dach über dem Kopf,
ohne ein Stück Brot ... Hört, was ich sage! Noch heute abend müssen in sämtlichen
Städten Frankreichs, in jedem Viertel von Paris Schilder hängen mit der Überschrift
‘Notunterkunft für unsere Brüder’!“ Der Appell hat eine fantastische Wirkung. Eine
Viertelstunde nach der Rundfunkrede stapeln sich in dem Luxushotel, das der Abbé ganz
frech als Spendenadresse genannt hat, bereits Wolldecken und Kleidungsstücke, Geld
und Schmuck. Bald sind die Straßen um das Hotel schwarz von Menschen, die Mäntel,
Bettdecken, Kindersparbüchsen und Eheringe für ihre frierenden Landsleute bringen.
Die Polizei muss den Verkehr umleiten, die Post legt elf zusätzliche Telefonleitungen
in das Hotel. Zwei Wochen nach dem Aufruf hat Frankreich 250 Millionen Francs für
die Habenichtse gegeben. Es blieb kein schnell aufflackerndes Strohfeuer von Hilfsbereitschaft
und schlechtem Gewissen. Überall im Land gründeten sich Hilfskomitées, wurden Behelfsunterkünfte
und kleine Siedlungen errichtet. Die versierten Bauleute von Emmaus stellten mit dem
gesammelten Geld in zehn Wochen 48 Häuser in die Landschaft. Die Dynamik der Bewegung
revolutionierte die ganze Bauwirt-schaft: Statt Luxuswohnungen wurden jetzt Arbeitersiedlungen
im großen Stil aus dem Boden gestampft. „Wir sind fest entschlossen“, verkündete
der hartnäckige Abbé, „der Floh zu sein, der von der Mülltonne des Lumpensammlers
bis auf den Schreibtisch des Ministers springt und die Herrschaften zwickt, um sie
an das Elend der Notleidenden zu erinnern“. Jetzt kannte ihn endgültig jeder in
Frankreich: Abbé Pierre, einst Widerstandskämpfer gegen die Nazis und nun wortgewaltiger
Freund der an den Rand Gedrängten. 1912 als Sohn des Seifenfabrikanten Grouès in Lyon
geboren, hatte er mit achtzehn das väterliche Erbe verschenkt und war in den strengen
Kapuzinerorden eingetreten. Sieben Jahre später musste er das Kloster wegen seiner
kranken Lunge wieder verlassen. Als Pfarrseelsorger in Grenoble versteckte Abbé
Grouès zahlreiche jüdische Familien vor der Gestapo: im Pfarrhaus, bei Freunden, in
Klöstern. Andere Verfolgte führte er über die Alpengletscher in die sichere Schweiz:
Menschenschmuggel in 3200 Metern Höhe. Als geistlicher Betreuer der Resistance, der
Widerstandsbewegung, erhielt er den Decknamen Abbé Pierre. Zweimal wurde er verhaftet,
er floh aus dem Gefängnis, ging 1944 nach Afrika, war als Marineseelsorger tätig -
und zog nach Kriegsende für die sehr volksverbundene Republikanische Partei in das
Pariser Parlament. Das viel zu große Vorstadthaus, wo er eine Bleibe fand, machte
er zum Treffpunkt von Jugendverbänden und Arbeitervereinen - und später zur Wohngemeinschaft
von Arbeitslosen, entlassenen Strafgefangenen, politischen Flüchtlingen ohne Aufenthaltserlaubnis,
Pennern und Alkoholikern. Das ganze Strandgut einer selbstgerechten Gesellschaft sammelte
sich bei Abbé Pierre - und baute sich eine neue Existenz. Denn wer hier ankam,
wurde nicht mildtätig verarztet, gönnerhaft betreut oder bürokratisch verwaltet, sondern
sinnvoll eingesetzt, in einem Team gleich-berechtigter Kameraden. Arbeit statt Almosen.
Etwas tun statt immer nur warten. Niemandem etwas schulden. Der Abbé fragte nicht
nach vergangenen Verfehlungen oder frommen Bekenntnissen. Er gab den armseligen Randexistenzen
das Bewußtsein, gebraucht zu werden, Fähigkeiten zu besitzen. Er gab ihnen ihre Würde
zurück. Die zusammengewürfelte Gemeinschaft montierte ehemalige Kriegsgefangenenbaracken
ab und baute sie zu Notwohnungen um. Mit Abbruchmaterial, das man sich auf Pump von
Trödlern und Altwarenhändlern beschaffte, bauten die Emmaus-Leute einfache, aber solide
Häuser - natürlich illegal. Als die Kontrolleure von der Baubehörde auftauchten, drohte
der Abbé, mit seinen vaterländischen Orden und der Abgeordnetenschärpe vor Gericht
aufzutreten und die ungerechten Gesetze zu brandmarken, die hier übertreten wurden.
Die Behörde verzichtete auf eine Anzeige. Später rückten die Kameraden von Emmaus
regelmäßig aus, um auf Dachböden, Müllplätzen, Schutthalden die verwertbaren Reste
der Konsum- gesellschaft zu sammeln. Lumpen, Papier, Glas, Gummi, Metall wurden sorgfältig
sortiert und tonnenweise an Großhändler und Fabriken verkauft. Geschickte Tüftler
reparierten achtlos weggeworfene Gebrauchsgegenstände und ausgediente Uhren. Mit dem
Erlös wurden wieder Häuser gebaut und obdachlos gewordene Arbeiterfamilien vor dem
Ruin gerettet. Heute verwaltet die Emmaus-Bruderschaft allein in Frankreich neuntausend
Sozialwohnungen und setzt sich in 42 Staaten der Erde für Menschen ohne Wohnung, ohne
Arbeit, ohne Hoffnung ein - eine Art Prophetenorden, der das Elend der Ärmsten teilt
und den satten, blinden Bürgern sagt, was die Stunde geschlagen hat. Das Motiv dieser
Aktivisten ist der leidenschaftliche Glaube an einen mit den Menschen solidarischen
Gott, der selbst arm und elend geworden ist. Abbé Pierres Charisma war seine unbedingte
Glaubwürdigkeit. Klein und schmal, Parka oder Regenmantel über der abgeschabten Kutte,
redete der mehr als neunzigjährige, an der Parkinsonschen Krankheit leidende Priester
seinen Landsleuten immer noch ins Gewissen. Hinter einer schrecklich altmodischen
Brille versteckten sich wache, grundgute, etwas melancholische Augen. In seiner Ablehnung
der Zweiklassengesellschaft und in der Kritik an Profithaien, Militärstrategen und
gekauften Politikern ist er immer kompromissloser geworden. Er lebte so radikal
in der Nähe Jesu, dass er gar nicht auf die Idee kam, auch noch extra Bekehrungspredigten
halten zu müssen. Zu leben, wie Jesus es will, das genügte doch! Ob er seinen Pennern
und leichten Mädchen von Gott erzähle, wollte ein Reporter wissen. Abbé Pierres Antwort
kam zögernd, mit einem Lächeln: „Sie sind es, die mir von ihm sprechen - wenn sie
ein bisschen betrunken sind.“ Am 22. Januar starb Abbé Pierre vierundneunzigjährig
in einem Pariser Krankenhaus.
Christian Feldmann