Der Fall Wielgus ist
für Polen ein Schock. Der bereits ernannte neue Erzbischof von Warschau trat wenige
Stunden vor seiner feierlichen Einführung von seinem Amt zurück, weil er Kontakte
zum Geheimdienst nicht offen gelegt hatte. Manche werten diese spektakulären Fall
als ein Symptom für die mangelhafte Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit
auch innerhalb der Kirche. 18 Jahre nach dem Fall der Mauer fragt sich mancher: Wie
war das eigentlich bei uns? Kann es einen Fall Wielgus auch in Deutschland geben?
Wer
es nicht selber erlebt, kann sich kaum vorstellen. Das Ministerium für Staatssicherheit
versuchte alles zu kontrollieren, jeder potentieller Staatsfeind wurde observiert.
Die Kirchen waren besonders suspekt, denn sie verfügten über Westkontakte. Offizial
Heinz Gunkel ist katholischer Priester und war in der Zeit vor der Wende Pfarrer im
Eichsfeld. Wie er die Arbeit der Staatssicherheit erlebte:
„Also es ging
zum Beispiel so vor sich, dass ein Mitarbeiter des Rates des Kreises der Abteilung
Inneres kam, um über die Jugendweihe zu sprechen. An der Stelle konnte ich mir selber
gut helfen. Ich hatte den so genannten Döpfnererlass im Hinterkopf, eine Regelung,
jeder hat auf seiner Ebene mit seinen Leuten als gegenüber zu sprechen. Das bedeutet,
der Pfarrer spricht mit dem Bürgermeister, der Bischof mit dem rat des Bezirkes, und
der Kardinal in Berlin spricht mit der DDR-Regierung, so dass ich bei vielen Fragen
sagen konnte, wissen Sie, darüber brauchen wir überhaupt nicht zu reden.“
Sechs
IM’s waren auf den Priester angesetzt, regelmäßig lieferten sie Berichte an die Stasi,
unter ihnen der Bürgermeister und der Polizist. Heinz Gunkel hat wie viele Ostdeutsche
seine dicke Stasi-Akte bei der Gauck- bzw. Birthlerbehörde eingesehen. Die Unterlagen
müsse man aber kritisch lesen, meint Gunkel:
„Sehr kritisch sogar. Es sind
Geheimdienstakten, und so sind sie auch zu lesen. Mich verwundert auch immer ein wenig,
wenn dann Stasi-Offiziere gefragt wurden nach bestimmten Verhältnissen. Ein Stasioffizier
kann in der Regel nicht die Wahrheit sagen, er ist Geheimdienstler. Und einem Geheimdienstler
kann ich nicht glauben. Und ich staune immer wieder, wie Presse und Öffentlichkeit
so etwas für bare Münze nimmt.“
Josef Pilvousek ist Professor für Kirchengeschichte
und Leiter des Seminars für Zeitgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität
Erfurt. Zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit sagt er:
„Wenn
man das jetzt mit Polen vergleicht, wir sind in einer ganz anderen Situation gewesen
in der DDR. Wir waren in einer kleinen Minderheit und relativ erfahren im Umgang mit
totalitären Systemen Wenn eine Kirche nicht sehr groß ist, und wir hatten damals vielleicht
am Ende der DDR eine Million Katholiken, war man natürlich nicht so interessant. In
Polen ist das natürlich anders, da ist die Kirche auch eine politische Macht. Und
von daher ist das Interesse eines Staatssicherheitsdienstes größer an so einer größeren
Kirche.“
Pilvousek war an der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in der
Kirche aktiv beteiligt. Etwa zehn Prozent der Priester und Laien, so schätzt er, waren
‚IM’s“, also sog. „Inoffizielle Mitarbeiter“. Das entspricht dem Bevölkerungsdurchschnitt:
„Die
Bischöfe sind mit diesen IM’s unterschiedlich umgegangen. Einige Bischöfe haben für
alle Geistliche eine Regelüberprüfung festgelegt. Andere Bischöfe haben gesagt, das
machen wir nicht, weil das grundsätzlich ein Mißtrauen gegenüber dem Klerus ist und
haben alle gebeten, sich zu melden.“
1998 veröffentlichte eine Arbeitsgruppe
der ostdeutschen Bischöfe ihren Bericht „Kirche im Visier“, Darin wird sozusagen „amtlich“
eingeräumt, dass es in der Kirche menschliches Versagen und Schuld im Umgang mit der
SED-Diktatur gegeben habe. Einige der Betroffenen seien erst aufgrund der Fontfrontation
mit den (MfS-)Akten bereit gewesen, solche untersagten Kontakte zuzugeben. Die Kirche
habe in jedem Fall versucht, konsequent zu handeln, sagt Pilvousek:
„Die
wurden dann zur Rede gestellt und in einigen Fällen hat es tatsächlich eine Suspendierung
der Geistlichen gegeben oder bei Laien im kirchlichen Dienst, die wurden dann entlassen.
So ist der momentane Stand.“
Vor einiger Zeit wurde bekannt, dass es auch
eine Stasi-Akte „Ratzinger“ gegeben habe.
„Also ich habe die Akte selber
nicht gesehen, aber ich habe Akten gesehen , wo auf den damaligen Kardinal Ratzinger
eingegangen worden ist, wo über ihn berichtet wurde. Das ist natürlich für Außenstehende
schwer zu begreifen, denn sofort, wenn davon die Rede ist, dass jemand in einer Akte
steht, man vermutet, er sei in irgendeiner Weise in dieses System involviert. Man
hat bei allen Klerikern, Bischöfen, die aus dem so genannten kapitalistischen Ausland
kamen, Wert darauf gelegt, jeden Schritt zu beobachten und möglichst viele Informationen
über sie zu sammeln. Da hat man zum Teil bei offiziellen Gesprächen IM’s dazu geschickt,
die zugehört haben, was er gesagt hat und danach eine Einschätzung abgegeben haben.
Und bei Kardinal Ratzinger ist es genauso gewesen, man hat seine privaten Meinungsäußerungen
aufgeschrieben, und die sind natürlich in den Stasi-Akten enthalten.“
Problematisch
sei der Kurzschluss, den viele Medien machen. Der Fall Ratzinger zeige: Eine Akte
allein bedeutet nicht, Teil des Systems gewesen zu sein. Pilvousek hält die Stasi-Vergangenheit
in der ehemaligen DDR insgesamt für gut aufgearbeitet, es seien keine spektakulären
Erkenntnisse mehr zu erwarten. Es fehle allerdings noch eine systematische Aufarbeitung
der Stasi-Kontakte im Westen Deutschlands:
„Die Bundesrepublik. Bei vielen
der vernichteten Akten, die jetzt wieder zusammengesetzt werden, werden garantiert
auch IM’s aus der Bundesrepublik auftauchen, und ich bin sicher, sogar IM’s aus der
Kirche.“ (rv 120107 mc)