Botschaft von Papst Benedikt XVI. zum Segen „Urbi et Orbi“ an Weihnachten 2006
„Salvator noster natus est in mundo“ (Missale Romanum)
„Heute ist uns der Heiland
geboren!“ Heute nacht haben wir erneut in unseren Kirchen diese Botschaft vernommen,
die trotz des Laufs der Jahrhunderte unverändert ihre Frische behält. Es ist eine
himmlische Botschaft, die uns dazu einlädt, keine Furcht zu haben, da „eine große
Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll“ (Lk 2, 10), aufgebrochen ist. Es ist
eine Botschaft der Hoffnung, weil sie bekannt macht, daß in jener Nacht vor über zweitausend
Jahren „in der Stadt Davids der Retter geboren wurde; er ist der Messias, der Herr“
(Lk 2, 11). Damals erging diese Botschaft an die Hirten auf den Feldern und Hügeln
von Bethlehem; heute richtet sie der Engel von Weihnachten erneut an uns, allesamt
Bewohner dieser unserer Welt: „Der Heiland ist geboren; er ist für euch geboren! Kommt,
kommt, um ihn anzubeten!“
Aber hat ein „Heiland“ noch Wert und Bedeutung für
den Menschen des dritten Jahrtausends? Ist noch ein „Erlöser“ für den Menschen notwendig,
der den Mond und den Mars erreicht hat und sich auf die Eroberung des Universums vorbereitet?
Für den Menschen, der ohne Grenzen die Geheimnisse der Natur erforscht und sogar in
der Lage ist, die wunderbaren Codes des menschlichen Genoms zu entschlüsseln? Braucht
noch einen Erlöser der Mensch, der die interaktive Kommunikation erfunden hat, der
im virtuellen Raum des Internets surft und der dank der modernsten und fortgeschrittensten
Technologien der Massenmedien aus der Erde, diesem großen gemeinsamen Haus, schon
ein kleines globales Dorf gemacht hat? Dieser Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts
tritt als souveräner und sich selbst genügender Schöpfer des eigenen Schicksals auf,
als begeisterter Macher unbestrittener Erfolge.
So scheint es, aber so ist
es nicht. Immer noch sterben Menschen an Hunger und Durst, an Krankheit und aus Armut
in dieser Zeit des Überflusses und des maßlosen Konsumismus. Immer noch gibt es Menschen,
die versklavt, ausgebeutet und in ihrer Würde verletzt werden; immer noch gibt es
Menschen, die aufgrund von Rasse und Religion Opfer des Hasses werden und die durch
Intoleranz und Diskriminierung, durch politische Einmischung und physische oder moralische
Zwänge am freien Bekenntnis ihres Glaubens gehindert werden. Es gibt Menschen, die
erleben müssen, wie sie selbst und ihre Lieben, insbesondere die Kinder, durch Waffen,
durch Terrorismus und durch jede Art von Gewalt gemartert werden in einer Zeit, in
der alle den Fortschritt, die Solidarität und den Frieden für alle Menschen fordern
und verkünden. Und was soll man von denen sagen, die keine Hoffnung haben und gezwungen
sind, das eigene Haus und die eigene Heimat zu verlassen, um anderswo menschenwürdige
Lebensbedingungen zu suchen? Was soll man tun, um denen zu helfen, die von leichtfertigen
Glückspropheten getäuscht werden, die in brüchigen Beziehungen leben und nicht fähig
sind, beständige Verantwortung für die eigene Gegenwart und die eigene Zukunft zu
übernehmen, und so im Tunnel der Einsamkeit wandern und oft als Sklaven von Alkohol
und Drogen enden? Was soll man von denen denken, die den Tod wählen in der Meinung,
dabei dem Leben zu huldigen?
Wie könnte man überhören, daß eben aus dem Innersten
dieser Menschheit, die sich freut und zugleich verzweifelt ist, ein qualvoller Hilfeschrei
emporsteigt? Es ist Weihnachten: Heute kommt „das wahre Licht, das jeden Menschen
erleuchtet“ (Joh 1, 9), in die Welt. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter
uns gewohnt“ (ebd., 1, 14), verkündet der Evangelist Johannes. Heute, ja heute, kommt
Christus erneut „in sein Eigentum“, und denen, die ihn aufnehmen, gibt er „Macht,
Kinder Gottes zu werden“; er bietet also die Chance, die Herrlichkeit Gottes zu sehen
und die Freude der Liebe zu teilen, die zu Bethlehem für uns Fleisch geworden ist.
Heute, auch heute, „ist uns der Heiland geboren“, denn er weiß, daß wir Ihn brauchen.
Trotz aller Formen des Fortschritts ist der Mensch doch das geblieben, was er immer
war: eine Freiheit, die zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod hin- und hergerissen
ist. Und genau da, in seinem Inneren, in dem, was die Bibel das „Herz“ nennt, muß
er immer „erlöst“ werden. Und in der heutigen postmodernen Zeit hat er vielleicht
noch mehr einen Erlöser nötig, denn die Gesellschaft, in der er lebt, ist vielschichtiger
und die Bedrohungen für seine persönliche und moralische Unversehrtheit sind heimtückischer
geworden. Wer kann ihn da verteidigen, wenn nicht Er, der ihn so sehr liebt, daß Er
am Kreuz Seinen eingeborenen Sohn als Erlöser der Welt hingegeben hat?
„Salvator
noster“, Christus ist der Erlöser auch des Menschen von heute. Wer läßt diese Botschaft
der Hoffnung auf glaubhafte Weise an allen Enden der Erde erklingen? Wer setzt sich
dafür ein, daß das umfassende Wohl des Menschen, das die Bedingung des Friedens ist,
in der Achtung der Würde eines jeden Mannes und einer jeden Frau anerkannt, geschützt
und gefördert wird? Wer hilft zu verstehen, daß es mit gutem Willen, mit Vernunft
und Mäßigung möglich ist, eine Verschärfung der Kontroversen zu verhindern und diese
vielmehr einer gerechten Lösung zuzuführen? Mit großer Sorge denke ich an diesem Festtag
an den Nahen Osten, der von unzähligen und schweren Krisen und Konflikten betroffen
ist. Ich hoffe, daß sich im Respekt der unveräußerlichen Rechte der Völker dieser
Region Perspektiven für einen gerechten und dauerhaften Frieden eröffnen. In die Hände
des Göttlichen Kindes lege ich die Zeichen der Wiederaufnahme des Dialogs zwischen
Israelis und Palästinensern, die wir in diesen Tagen vernehmen durften, und die Hoffnung
auf weitere ermutigende Entwicklungen. Ich vertraue darauf, daß nach den vielen Opfern,
Zerstörungen und Ungewißheiten der Libanon in demokratischer Ordnung fortlebt und
vorankommt und im Dialog mit den Kulturen und Religionen für die anderen offen ist.
Einen Appell richte ich an diejenigen, die das Schicksal des Irak in Händen haben,
daß die grausame Gewalt, die das Land mit Blut überzieht, ein Ende nehme und einem
jeden Bewohner ein normales Leben gewährleistet werde. Ich rufe zu Gott, damit die
kämpfenden Parteien auf Sri Lanka dem tiefen Verlangen der Volksgruppen nach einer
Zukunft in Brüderlichkeit und Solidarität Gehör schenken; daß in Darfur und überall
in Afrika den bruderkriegsartigen Konflikten ein Ende gesetzt wird und die offenen
Wunden im Fleisch jenes Kontinents schnell geheilt werden, daß sich die Prozesse der
Versöhnung, der Demokratisierung und der Entwicklung stabilisieren. Das Göttliche
Kind, der Fürst des Friedens, gebe, daß jene Spannungsherde ausgetilgt werden, die
in anderen Teilen der Welt, in Europa und in Lateinamerika die Zukunft unsicher machen.
„Salvator
noster“: das ist unsere Hoffnung; das ist die Botschaft, die die Kirche auch am heutigen
Weihnachtsfest erklingen läßt. Mit der Menschwerdung, so sagt es das Zweite Vatikanische
Konzil, hat sich der Sohn Gottes gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt (vgl.
Gaudium et spes, 22). Weil die Geburt des Hauptes auch die Geburt des Leibes ist,
wie der heilige Papst Leo der Große bemerkte, können wir daher sagen, daß zu Bethlehem
das Volk der Christen, der mystische Leib Christi, geboren wurde, in dem jedes Glied
auf innige Weise und in einer umfassenden Solidarität mit dem anderen verbunden ist.
Unser Heiland ist für alle geboren. Das sollen wir nicht nur mit unseren Worten, sondern
auch mit unserem ganzen Leben verkünden. So legen wir vor der Welt Zeugnis von Gemeinschaften
ab, die geeint und zugleich offen sind, in denen Brüderlichkeit und Vergebung, Aufnahmebereitschaft
und gegenseitiger Dienst, Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe herrschen.
Eine
Gemeinschaft, die von Christus erlöst ist: das ist das wahre Wesen der Kirche, die
sich aus Seinem Wort und aus Seinem eucharistischen Leib nährt. Nur wenn sie das Geschenk,
das sie empfangen hat, als solches wiederentdeckt, kann die Kirche allen Menschen
Christus, den Erlöser, bezeugen; das tut sie mit Begeisterung und Leidenschaft, in
voller Achtung vor jeder kulturellen und religiösen Tradition; das tut sie mit Freude,
da sie weiß, daß Er, den sie verkündet, nichts wegnimmt, was wirklich menschlich ist,
sondern es zur Vollendung führt. In Wahrheit kommt Christus, um allein das Böse zu
vernichten, allein die Sünde; das andere, alles andere erhebt Er und vervollkommnet
Er. Christus erlöst uns nicht von unserem Menschsein, sondern durch das Menschsein,
er erlöst uns nicht von der Welt, sondern er ist in die Welt gekommen, damit die Welt
durch ihn gerettet wird (vgl. Joh 3, 17).
Liebe Brüder und Schwestern, wo
immer ihr euch befindet, möge euch diese Botschaft der Freude und der Hoffnung erreichen:
Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, er wurde von der Jungfrau Maria geboren
und wird heute in der Kirche neu geboren. Er ist es, der allen die Liebe des himmlischen
Vaters bringt. Er ist der Erlöser der Welt! Fürchtet euch nicht, öffnet Ihm euer Herz,
nehmt Ihn auf, damit Sein Reich der Liebe und des Friedens das gemeinsame Erbe aller
werde. Gesegnete Weihnachten!