2006-11-29 18:31:21

Fokolare, "Es geht ums Überleben"


RealAudioMP3 Hätte der Papst mit seiner Reise an den Bosporus angesichts der dortigen Gemengelage nicht noch etwas warten sollen, vielleicht noch ein Jahr? Nein, sagt Dirk Kennis sehr entschieden. Der Berliner ist Mitglied der Fokolarbewegung und lebt seit acht Jahren in Istanbul. Der Ökumenische Patriarch Bartholomaios habe ihm gesagt, es dränge ihn, endlich mit dem neuen Papst eine persönliche Beziehung aufzubauen. Und auch mit Blick auf die islamische Mehrheit der Türken sei die Papstreise überfällig gewesen.

"Was den interreligiösen Dialog angeht, glaube ich, dass es ein sehr guter Moment war. Wir wissen alle, dass es sehr heftige Reaktionen hier in der Türkei gegeben hat, schon bei der Papstwahl – weil die Türken wussten, dass Kardinal Ratzinger sich sehr kritisch geäußert hatte gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union."

Und dann war da ja auch die Regensburger Rede des Papstes und die teilweise sehr heftigen Reaktionen darauf gerade in der Türkei.

"Insofern denke ich aber auch, dass es wirklich der richtige Moment ist, weil es bald auch zu wirklichen Zeichen der Brüderlichkeit und Versöhnlichkeit kommen sollte. Und was wir heute Nachmittag in Ankara erlebt haben, besonders in der Begegnung des Heiligen Vaters mit dem Präsidenten des Religionsamtes, war ein echtes, aufrichtiges Zeichen des Wunsches nach Brüderlichkeit, nach Versöhnlichkeit."

Der Papst kommt also rechtzeitig für die Moslems und für die Orthodoxen – nur nicht für die Katholiken. Sagt Dirk Kennis. Für die türkischen Katholiken sei es eigentlich schon zu spät, ihnen helfen zu wollen – ihre Zahl gehe immer mehr gegen Null.

"Die Kirchen sind sonntags relativ gefüllt – aber meistens mit illegalen Einwanderern, die hier auf eine Ausreise nach Kanada, in die USA oder nach Australien warten. Vor allem Filipinos, aber auch Chaldäer aus dem Irak. Insofern sind wir wirklich dankbar, dass der Heilige Vater den Weg hierhin gefunden hat. Es ist, glaube ich, vor allem für die katholischen Kirchen ein wichtiges Zeichen, dass sie von der Weltkirche unterstützt werden. Daß der Papst auch persönlich für sie dasein möchte."

Allerdings, daran lässt Kennis keinen Zweifel: Der Papst kann den Katholiken eigentlich nur Mut zusprechen und nichts erreichen. Jedenfalls nicht bei den Politikern in Ankara.

"Mit relativer Sicherheit muß man feststellen, dass die Hoffnungen auf die derzeitige Regierung, dass nämlich die Bestrebung einer Annäherung an die EU auch zu Erleichterungen für die Christen hier führen würde, enttäuscht wurden. Ich weiß von höchsten christlichen Autoritäten hier in der Türkei, dass ihre Einschätzung so ist, dass im Grunde genommen seit dem Antritt dieser Regierung die Konditionen für die Kirchen schwieriger geworden sind und nicht leichter, wie man anfangs gehofft hatte."

Einziger Ausweg für die Christen wäre eine ehrliche Option für die Türkei, der EU beizutreten. Vielleicht steckt diese Überlegung auch hinter der Meldung, dass sich jetzt auch der Papst die Türkei in der EU vorstellen könnte.

"Ich glaube schon, dass eine Erleichterung für die christlichen Kirchen hier in der Türkei einhergehen würde mit einem Prozess, der auf einen Eintritt der Türkei in die EU hinausläuft. Wenn das nicht stattfindet, gibt es hier auch keine Motivation mehr, die Situation der Christen in der Türkei zu erleichtern."

Und diese Lage der Christen ist wirklich verzweifelt, sagt Kennis – eigentlich, wiederholt er, sei es für sie schon zu spät.

"Ich muss sagen, dass ich in den letzten Jahren relativ skeptisch geworden bin. Wir sind mit den katholischen Christen in der Türkei an einem Punkt, der sich numerisch gesehen der Null nähert. Ich muss auch sagen, dass manchmal die Situation etwas schöngeredet wird, etwa durch Christen, die zugereist kommen, oder Immigranten, die auf eine Ausreise warten… von mir aus auch durch deutsche Pensionäre, die jetzt in der Südtürkei ihren Wohnsitz nehmen. Tatsache ist, dass die Anzahl der türkischen Katholiken sich der Null nähert."

32.000 Katholiken im Land, etwa 0,04 Prozent der Bevölkerung – aber nur die wenigsten von ihnen sind Einheimische. Das bedeutet: Das katholische Christentum hat im zweiten Rom seine Wurzeln verloren. Die letzten türkischen Christen emigrieren.

"Das heißt: Die größten Schwierigkeiten, die die christliche Kirche hier hat, sind nicht so sehr Rechtsfragen in Bezug auf Besitz, sondern sind die Lebensbedingungen der Christen. Und da spielen gesellschaftspolitische Bedingungen die größte Rolle. Ich glaube, dass das auch dem Heiligen Vater bewusst ist: Es geht um Existenzsicherung. Es geht darum, dass ein Familienvater seine Frau und seine Kinder ernähren können muss. Es geht darum, dass er eine Arbeit finden muss! Und Tatsache ist, dass es in der Türkei, obwohl es öffentlich dieses Recht gibt, aber in der Praxis für einen Christen kaum möglich ist, in Wirtschaft, Industrie, einer Firma oder irgendwelchen staatlichen Stellen eine Arbeit zu finden. Die einzige Möglichkeit für einen Christen in der Türkei, seine Familie zu ernähren, besteht in irgendeiner selbständigen Arbeit, und wenn er mit irgendeinem Bauchladen Simit verkauft, diese Sesamringe."

Aus Gesprächen und Kontakten kennt Kennis zahlreiche Einzelfälle.

"Alleine von den Freunden der Fokolarbewegung hier in der Türkei haben die Hälfte der Familienväter, die wir kennen und die uns nahe stehen, in den letzten paar Jahren ihre Arbeit verloren, und zwar ihre selbständige Arbeit! Weil viele handwerklich tätig sind und die Industrialisierung derart fortschreitet, dass sie im Grunde genommen mit ihren handwerklich hergestellten Produkten nicht mehr existenzfähig sind."

Die einzige Hoffnung für sie wäre eine selbständige Arbeit, aber:

"Sie suchen danach, und sie finden sie nicht. Also suchen sie sie im Ausland, und die Kirche wird immer kleiner und geringer."

In seinen acht Jahren im Land hat Kennis das türkische Volk schätzen gelernt. Er beobachtet den immer wieder aufkommenden Nationalismus und hofft auf taktisches Geschick auf europäischer Seite, um die Türken nicht zu verprellen.

"Die sind ein Volk, das durch die Geschichte so verletzt worden ist, dass sie ständig um ihre Identität kämpfen. Das heißt: Wenn sie dort einen Dämpfer erhalten, wehren sie sich umso stärker gegen Druck von außen. Und da sind ihnen auch diplomatische Regeln ziemlich egal. Das heißt: Man müsste ihnen eine innere Motivation geben, müsste ihnen Wege zeigen, wie sie ohne Gesichtsverlust den Weg nach Europa finden können und dort auch ihre Identität erhalten."

Ein besonderes Ärgernis ist für den Fokolar-Mann die Spaltung unter den Christen. Das schwäche die kleine Herde angesichts der islamischen Übermacht in der Türkei.

"Wie soll ein Moslem – und viele der Moslems hier im Land haben nicht viel kulturelle Bildung – einen Orthodoxen von einem Katholiken, einem Anglikaner oder einem Protestanten unterscheiden? Das heißt: Wenn Freikirchen in die Türkei kommen und hier Proselytismus betreiben in dem festen Glauben, Gutes zu tun – dann sind das Christen, die da Proselytismus betreiben, und das wird mir als Katholiken und auch meinen orthodoxen Brüdern als eine Verfehlung vorgeworfen. Es wird uns Christen vorgeworfen – dabei tut die Amtskirche das nicht. Das größte Problem für uns Christen ist die Glaubwürdigkeit, die wir nur herstellen können, wenn wir mit einer Stimme sprechen und in gleicher oder ähnlicher Weise auch handeln."

Im Westen werfen Politiker oft dem Islam vor, er spreche ja gar nicht mit einer Stimme. Das Gleiche könnten auch Moslems von den Christen sagen, findet Dirk Kennis mit Blick auf Istanbul – sie könnten es sogar mit noch mehr Recht sagen.

"Es ist für mich beschämend zu sehen, wenn öffentliche Veranstaltungen die Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen in der Türkei einladen, und wir haben einen Vertreter des Judentums und nur einen Vertreter des Islam, aber vier verschiedene Vertreter der Christen.“
(rv 29.11.06 sk)







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