Hätte der Papst mit
seiner Reise an den Bosporus angesichts der dortigen Gemengelage nicht noch etwas
warten sollen, vielleicht noch ein Jahr? Nein, sagt Dirk Kennis sehr entschieden.
Der Berliner ist Mitglied der Fokolarbewegung und lebt seit acht Jahren in Istanbul.
Der Ökumenische Patriarch Bartholomaios habe ihm gesagt, es dränge ihn, endlich mit
dem neuen Papst eine persönliche Beziehung aufzubauen. Und auch mit Blick auf die
islamische Mehrheit der Türken sei die Papstreise überfällig gewesen.
"Was
den interreligiösen Dialog angeht, glaube ich, dass es ein sehr guter Moment war.
Wir wissen alle, dass es sehr heftige Reaktionen hier in der Türkei gegeben hat, schon
bei der Papstwahl – weil die Türken wussten, dass Kardinal Ratzinger sich sehr kritisch
geäußert hatte gegen eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union."
Und
dann war da ja auch die Regensburger Rede des Papstes und die teilweise sehr heftigen
Reaktionen darauf gerade in der Türkei.
"Insofern denke ich aber auch, dass
es wirklich der richtige Moment ist, weil es bald auch zu wirklichen Zeichen der Brüderlichkeit
und Versöhnlichkeit kommen sollte. Und was wir heute Nachmittag in Ankara erlebt haben,
besonders in der Begegnung des Heiligen Vaters mit dem Präsidenten des Religionsamtes,
war ein echtes, aufrichtiges Zeichen des Wunsches nach Brüderlichkeit, nach Versöhnlichkeit."
Der
Papst kommt also rechtzeitig für die Moslems und für die Orthodoxen – nur nicht für
die Katholiken. Sagt Dirk Kennis. Für die türkischen Katholiken sei es eigentlich
schon zu spät, ihnen helfen zu wollen – ihre Zahl gehe immer mehr gegen Null.
"Die
Kirchen sind sonntags relativ gefüllt – aber meistens mit illegalen Einwanderern,
die hier auf eine Ausreise nach Kanada, in die USA oder nach Australien warten. Vor
allem Filipinos, aber auch Chaldäer aus dem Irak. Insofern sind wir wirklich dankbar,
dass der Heilige Vater den Weg hierhin gefunden hat. Es ist, glaube ich, vor allem
für die katholischen Kirchen ein wichtiges Zeichen, dass sie von der Weltkirche unterstützt
werden. Daß der Papst auch persönlich für sie dasein möchte."
Allerdings, daran
lässt Kennis keinen Zweifel: Der Papst kann den Katholiken eigentlich nur Mut zusprechen
und nichts erreichen. Jedenfalls nicht bei den Politikern in Ankara.
"Mit relativer
Sicherheit muß man feststellen, dass die Hoffnungen auf die derzeitige Regierung,
dass nämlich die Bestrebung einer Annäherung an die EU auch zu Erleichterungen für
die Christen hier führen würde, enttäuscht wurden. Ich weiß von höchsten christlichen
Autoritäten hier in der Türkei, dass ihre Einschätzung so ist, dass im Grunde genommen
seit dem Antritt dieser Regierung die Konditionen für die Kirchen schwieriger geworden
sind und nicht leichter, wie man anfangs gehofft hatte."
Einziger Ausweg für
die Christen wäre eine ehrliche Option für die Türkei, der EU beizutreten. Vielleicht
steckt diese Überlegung auch hinter der Meldung, dass sich jetzt auch der Papst die
Türkei in der EU vorstellen könnte.
"Ich glaube schon, dass eine Erleichterung
für die christlichen Kirchen hier in der Türkei einhergehen würde mit einem Prozess,
der auf einen Eintritt der Türkei in die EU hinausläuft. Wenn das nicht stattfindet,
gibt es hier auch keine Motivation mehr, die Situation der Christen in der Türkei
zu erleichtern."
Und diese Lage der Christen ist wirklich verzweifelt, sagt
Kennis – eigentlich, wiederholt er, sei es für sie schon zu spät.
"Ich muss
sagen, dass ich in den letzten Jahren relativ skeptisch geworden bin. Wir sind mit
den katholischen Christen in der Türkei an einem Punkt, der sich numerisch gesehen
der Null nähert. Ich muss auch sagen, dass manchmal die Situation etwas schöngeredet
wird, etwa durch Christen, die zugereist kommen, oder Immigranten, die auf eine Ausreise
warten… von mir aus auch durch deutsche Pensionäre, die jetzt in der Südtürkei ihren
Wohnsitz nehmen. Tatsache ist, dass die Anzahl der türkischen Katholiken sich der
Null nähert."
32.000 Katholiken im Land, etwa 0,04 Prozent der Bevölkerung
– aber nur die wenigsten von ihnen sind Einheimische. Das bedeutet: Das katholische
Christentum hat im zweiten Rom seine Wurzeln verloren. Die letzten türkischen Christen
emigrieren.
"Das heißt: Die größten Schwierigkeiten, die die christliche Kirche
hier hat, sind nicht so sehr Rechtsfragen in Bezug auf Besitz, sondern sind die Lebensbedingungen
der Christen. Und da spielen gesellschaftspolitische Bedingungen die größte Rolle.
Ich glaube, dass das auch dem Heiligen Vater bewusst ist: Es geht um Existenzsicherung.
Es geht darum, dass ein Familienvater seine Frau und seine Kinder ernähren können
muss. Es geht darum, dass er eine Arbeit finden muss! Und Tatsache ist, dass es in
der Türkei, obwohl es öffentlich dieses Recht gibt, aber in der Praxis für einen Christen
kaum möglich ist, in Wirtschaft, Industrie, einer Firma oder irgendwelchen staatlichen
Stellen eine Arbeit zu finden. Die einzige Möglichkeit für einen Christen in der Türkei,
seine Familie zu ernähren, besteht in irgendeiner selbständigen Arbeit, und wenn er
mit irgendeinem Bauchladen Simit verkauft, diese Sesamringe."
Aus Gesprächen
und Kontakten kennt Kennis zahlreiche Einzelfälle.
"Alleine von den Freunden
der Fokolarbewegung hier in der Türkei haben die Hälfte der Familienväter, die wir
kennen und die uns nahe stehen, in den letzten paar Jahren ihre Arbeit verloren, und
zwar ihre selbständige Arbeit! Weil viele handwerklich tätig sind und die Industrialisierung
derart fortschreitet, dass sie im Grunde genommen mit ihren handwerklich hergestellten
Produkten nicht mehr existenzfähig sind."
Die einzige Hoffnung für sie wäre
eine selbständige Arbeit, aber:
"Sie suchen danach, und sie finden sie nicht.
Also suchen sie sie im Ausland, und die Kirche wird immer kleiner und geringer."
In
seinen acht Jahren im Land hat Kennis das türkische Volk schätzen gelernt. Er beobachtet
den immer wieder aufkommenden Nationalismus und hofft auf taktisches Geschick auf
europäischer Seite, um die Türken nicht zu verprellen.
"Die sind ein Volk,
das durch die Geschichte so verletzt worden ist, dass sie ständig um ihre Identität
kämpfen. Das heißt: Wenn sie dort einen Dämpfer erhalten, wehren sie sich umso stärker
gegen Druck von außen. Und da sind ihnen auch diplomatische Regeln ziemlich egal.
Das heißt: Man müsste ihnen eine innere Motivation geben, müsste ihnen Wege zeigen,
wie sie ohne Gesichtsverlust den Weg nach Europa finden können und dort auch ihre
Identität erhalten."
Ein besonderes Ärgernis ist für den Fokolar-Mann die Spaltung
unter den Christen. Das schwäche die kleine Herde angesichts der islamischen Übermacht
in der Türkei.
"Wie soll ein Moslem – und viele der Moslems hier im Land haben
nicht viel kulturelle Bildung – einen Orthodoxen von einem Katholiken, einem Anglikaner
oder einem Protestanten unterscheiden? Das heißt: Wenn Freikirchen in die Türkei kommen
und hier Proselytismus betreiben in dem festen Glauben, Gutes zu tun – dann sind das
Christen, die da Proselytismus betreiben, und das wird mir als Katholiken und auch
meinen orthodoxen Brüdern als eine Verfehlung vorgeworfen. Es wird uns Christen vorgeworfen
– dabei tut die Amtskirche das nicht. Das größte Problem für uns Christen ist die
Glaubwürdigkeit, die wir nur herstellen können, wenn wir mit einer Stimme sprechen
und in gleicher oder ähnlicher Weise auch handeln."
Im Westen werfen Politiker
oft dem Islam vor, er spreche ja gar nicht mit einer Stimme. Das Gleiche könnten auch
Moslems von den Christen sagen, findet Dirk Kennis mit Blick auf Istanbul – sie könnten
es sogar mit noch mehr Recht sagen.
"Es ist für mich beschämend zu sehen, wenn
öffentliche Veranstaltungen die Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen in der
Türkei einladen, und wir haben einen Vertreter des Judentums und nur einen Vertreter
des Islam, aber vier verschiedene Vertreter der Christen.“ (rv 29.11.06 sk)