"Unterschicht", "Klassengesellschaft",
"neue Armut". Politiker aller Coleur und aller Schichten streiten über Begrifflichkeiten.
Auslöser ist eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel "Gesellschaft
im Reformprozess". Demnach zählen acht Prozent der deutschen Gesellschaft zu Menschen,
die sich in unsicheren Arbeitsverhältnissen und einer prekären Lebenslage und sozialer
Lethargie befinden. In den neuen Bundesländern ist es gar jeder fünfte, im Westen
nur jeder 25. Der deutsche Sozialbischof, Reinhard Marx aus Trier, ist von all dem
Aufruhr überrascht, "denn wir sprechen in der Kirche schon seit vielen vielen Jahren
von einer Verfestigung der Armutssituation. Wir haben seit über 20 Jahren eine Massenarbeitslosigkeit
in Deutschland, eine stärkere Langzeitarbeitslosigkeit. Wir haben Armutsberichte der
Caritas gehabt, wir haben Armutsforschung gehabt. Aber manchmal ist man wirklich erstaunt,
dass erst ein Reizwort wie das Wort 'Unterschicht' einige dann wach ruft, um die Realitäten
wahrzunehmen. Die Situation ist seit langem bekannt." In Berlin ist jetzt die
Debatte über Mitverantwortung und Altlasten entbrannt, Schuldzuweisungen wandern hitzig
von einem zum anderen. Wer am Ende den Schwarzen Peter in der Hand hat, bleibt offen.
"Man kann nicht alle Probleme lösen, das ist ja die Illusion. Die Politik will
natürlich den Eindruck vermitteln, man könne alle Probleme lösen. Das kann man nicht,
das ist ein langer Weg. Wir brauchen tatsächlich auf der einen Seite Bildungsinitiativen,
aber wir brauchen auch tatsächlich, wie man früher zurecht gesagt hat, eine geistige
Wende, so dass auch viele Menschen wieder positive Zielbilder in ihrem Leben haben,
auch ein gewisses Wertfundament. Und da gebe ich dem Ministerpräsidenten Beck durchaus
Recht: Die alte Arbeiterklasse hatte natürlich eine ganz andere Zielvorstellung. Sie
wollte herauskommen aus einer bestimmten Situation, sie hatte auch moralische Vorstellungen,
sie hatte Wertüberzeugungen." Die Studie stützt sich auf eine Umfrage des Instituts
TNS Infratest. Die Kennzeichen der so genannten neuen Unterschicht: einfacher Bildungsgrad,
kaum "berufliche Mobilität" und Aufstiegswille, arbeitslos oder sehr niedriges monatliches
Haushaltseinkommen, kaum Wohneigentum oder finanzielle Rücklagen, wenig familiärer
Rückhalt. Für den Staat ist viel zu tun, Investitionen in Arbeit und vor allem in
Bildung stehen an, so Marx. "Das andere ist natürlich, das darf man auch nicht
verschweigen, dass Schule und Kindergärten nicht ersetzen können, was in der Familie
nicht gelaufen ist." Vom Staat fühlen sich die Menschen der "Unterschicht"
allein gelassen, so die Studie. Viele glaubten, „Abschottung gegenüber Ausländern“
löse die Probleme. Marx äußert Verständnis: "Wo überhaupt keine Chance ist, das
wird natürlich eine bestimmte Haltung noch verfestigt. Wo keine Chance auf Arbeit,
auf Fortkommen da ist, da ist es natürlich auch sehr sehr schwer, Anreize zu machen,
Ermutigungen auszusprechen, wenn junge Leute oder auch wenig qualifizierte sehen,
sie haben überhaupt keine Chance, dann ist das natürlich deprimierend. Das schlägt
zurück auf das Selbstwertgefühl, und da müssen wir etwas tun." (rv 17.10.06
bp)